[[Sequel zu My Dear Brother - The Humans --- um die Story zu verstehen, muss erst My Dear Brother 1 und My Dear Brother 2 gelesen werden]]
Hiro, Kiyoshi und Alexander sind wieder zurück in den Norden geflogen, während der Mensch Jiro nach dem furchtbaren Vorfall mit Vincent im Süden zurückgeblieben ist, um das letzte Jahr der Schule abzuschließen.
Alexander, der sonst so beliebte, viel feiernde Vampir, kann nach seiner Nahtoderfahrung keine ruhige Nacht mehr verbringen und flüchtet sich in seine alte Maschen zurück, die ihm absolut keine Erlösung seiner Ängste bringt. Zwar beteuert sein neu gewonnener Freund Hiro ihm, dass der Mensch die Lösung all seiner Probleme sei, doch Alexander dementiert dies schlagfertig.
Trigger: Inadäquate Sprache, Adult, Gewalt, Missbräuchliche Beziehung - Lesen auf eigene Gefahr!
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Es war das Leben eines Rockstars, was er tagtäglich führte. Dabei hörte er nicht mal Rock.
Morgens in die bescheidene Schule, die seiner Meinung nach eh nichts Wichtiges zu vermitteln hatte, was ihm nicht schon der Fernseher gesagt hätte – abends in den einzigen Club der Stadt, um sich zu vergessen.
Das Crystals war dafür bekannt, dass man nicht lebendig herauskam. Sei es als Alkoholeiche oder als wirkliche Leiche. Doch wurde dort niemand umgebracht; die Menschen, die verstorben herauskamen, kamen bereits verstorben herein. Ein Club für Menschen und Untote gleichermaßen, wo es einzig und allein darum ging, mal so richtig zu feiern. Letztendlich zählte nur die Tatsache, dass er für einige Stunden vergaß, in welcher Welt er eigentlich lebte.
Es war keine klassische Auswegsgeschichte, sondern vielmehr der pure Genuss. Er genoss die Abende, in denen er schon betrunken in den Club ging, großgewachsenen Männern mit Knarren die Hand schüttelte, sich ein bisschen zudröhnte, um schließlich im Morgengrauen erschöpft vom stundenlangen Tanzen zu ohrenbetäubender Musik in sein Bett zu fallen. Die Leute um ihn herum zogen ihn in einen Sumpf, den er schon lange nicht mehr missen wollte. Er fing früh mit dem Feiern an – bereits mit 16 rauchte er zum ersten Mal Gras, danach ging es steil bergauf. Oder bergab, wie seine Eltern immer bemängelten. Koks, Heroin, Speed. Im Grunde alles, was man sich schnell und einfach schmeißen oder rauchen konnte. Es gab ihm den Kick, den er brauchte, um nach einem anstrengenden Tag zwischen dummen Mitschülern noch mehrere Stunden wach bleiben zu können.
Natürlich, so gestand er sich ein, mussten die Drogen nicht sein. Nein, er nahm sie nur im Club, niemals würde er sie bei sich in der Wohnung nehmen. Abhängig war er also nicht, es war der Genuss, der ihn immer wieder in die Drogenkiste fuhr. Und vielleicht seine Mitmenschen, die sie ihm fast schon kostenlos unterjubelten.
Generell schätzte er am Feiern die Gesellschaft. Er fühlte sich auf einmal mitten im Leben, wenn die Clubinsassen um ihn schwirrten. Nicht selten – nein, eigentlich immer – schleppte er ein paar Weiber ab. Er bequatschte sie, manchmal bequatschten sie ihn. Denn so oft wie er das Crystals aufsuchte, so bekannt war er dort auch. Der Barkeeper, der DJ, die Security, eigentlich alle kannten ihn. So auch die Frauen, die ihm manchmal das Gefühl gaben, nur für ihn den teuren Eintritt gezahlt zu haben. Nur, um mit ihm schlafen zu dürfen. Sei es auf der kleinen, etwas ekligen Toilette im Club oder woanders. Selten nahm er Frauen mit nach Hause. Die Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass er solche Weiber nur schwer wieder aus dem Haus bekam, da sie oft davon ausgingen, bevorzugt zu werden und erhofften sich damit eine Beziehung.
Doch niemals, so schwor er sich, würde er eine Beziehung mit einer dieser Frauen eingehen. Nein, nur ficken, das reichte ihm. Dafür waren sie auch gut, das machte ihm Spaß. Manchmal tagtäglich, mindestens zwei Mal die Woche. Es war nicht so, als wäre er sexsüchtig gewesen. Ganz im Gegenteil: Es gab sogar Momente, in denen er regelrecht genervt vom Gestöhne der Weiber war und sie am liebsten in der Kloschüssel nebenan ersoffen hätte. Trotzdem suchte er immer wieder die körperliche Nähe, um seiner dominanten Art noch den letzten Feinschliff zu geben. Denn nur selten ging er liebevoll mit den Frauen um. Statt sich zu beschweren, schienen diese jedoch genau auf handgreiflichen Sex abzufahren und sehnten ihn regelrecht herbei. Alles, was er tat, war den Frauen das zu geben, was sie wollten. Gleichzeitig gab er sich selber, was er so dringend brauchte.
So verging die Zeit, in denen er seine Jugend schneller lebte, als so manch anderer. Als würde ihm die Zeit aus den Fingern gleiten, sobald er damit aufhören würde. Als könne ihm dieser Lebensstil irgendetwas bringen.
In Wirklichkeit war sich Alexander bewusst, dass er diesen Lebensstil nicht ewig führen konnte. Dass es theoretisch gesehen schon gehen würde, aber sein Körper das auf lange Sicht nicht mitmachen würde. Oder vielmehr seine Psyche.
Zwar hatte er ein paar Konstanten im Leben, die ihn auffingen, wann immer er das Gefühl hatte, abzudriften. Doch die Zahl solcher Konstanten hielt sich extrem klein. Er hatte seine Leute, mit denen er viel unternahm, die er aber nie an sich ranließ. Die zwei Schränke, die im Club arbeiteten, und ihn ständig verfolgten, als wären sie seine persönliche Security, machten Alexander mehr Sorgen, als dass er ihnen vertrauen könnte, zumal sie des Öfteren schon wegen Körperverletzung in Untersuchungshaft waren. Dann gab es noch Sam und Rose, die sich oft genug an ihn rangeschmissen hatten. An einem alkoholreichen Abend hatte er den vielen Bitten und dem durchgängigen Genörgel nachgegeben und mit beiden einen Dreier abgezogen. Es war in Ordnung, es hatte was. Doch bei diesem einen Mal blieb es auch. Rose und Sam sollten nicht denken, er würde auf sie stehen. Denn eins hütete Alexander wie sein Augapfel: seine Freiheit. Oder vielmehr wahrte er Distanz aus Selbstschutz.
Denn mehr Leute waren da nicht. Jedenfalls keine, an dessen Namen er sich erinnern könnte. Klar, umschwärmten ihn die Weiber, weil sie ihn attraktiv fanden. Und die Männer, weil sie sein Geheimnis wissen wollten. Aber niemand war gut genug für den Charmeur in Persona.
Alexander war sich in seinen wenigen klaren Momenten selber nicht so sicher, woran seine Anziehungskraft lag, wenn er mit anderen Vampiren unterwegs war. An der Aura konnte es nicht liegen, zumal er nicht mal ansatzweise ein Reinblütler war. Vielleicht lag es also an seinen eisblauen Augen, in denen bisher jeder versunken war. Oder am onyxfarbenden Haar? Möglicherweise auch an seinem Körper, den er penibel pflegte und trainierte. Täglich, noch vor der Schule, hob er sich auf seine Trainingsgeräte in seiner Wohnung und hob so viel er konnte; ganz gleich wie viel er am Vorabend getrunken oder geraucht hatte. So kam es auch schon vor, dass er angetrunken in die Schule torkelte, nachdem er betrunken trainiert hatte und illegaler Weise Auto gefahren war.
Doch egal wie illegal seine Handlungen auch sein mögen, er achtete gewissenhaft darauf, dass das, was er im Club tat, auch dortblieb. Niemals würden seine Eltern von seinen Drogen- und Weiberexzessen erfahren. Doch selbst wenn, würden sie ihn schon rausreißen. Egal, was er angestellt hätte – es wäre mit Geld wieder glatt zu bügeln. Geld spielte eben doch eine große Rolle. Es ermöglichte ihm diesen Lebensstil, den er niemals missen wollen würde. Der ihm noch viel zu sehr am Herzen lag, als könne er ihn aufgeben.
Doch auch das ganze Geld, der Ruhm, die Feierei konnten ihn nicht nach den letzten Geschehnissen aufmuntern. Er fühlte sich … leer.
»Heute so niedergeschlagen? Bist du nicht froh, wieder hier zu sein?«, plärrte die unangenehm hohe Stimme von Sam in seinem Ohr. »Hast ja viel erlebt da im Süden.«
Sie kicherte laut auf, während sie vor Alexander ihren BH richtete und dabei an ihren riesigen Brüsten fummelte. Doch Alexander starrte einfach nur müde in Richtung Schulgebäude. Es war noch viel zu früh am Morgen und er wollte kein Gespräch mit dieser Frau führen. Stumm nippte er weiter an seinem Kaffeebecher und behielt dabei eine Hand in der Hosentasche. Auf einmal wurde ihm kalt. Der Norden war wirklich merklich kühler geworden. Der Herbst brach ein und die Bäume ließen ihre Blätter fallen.
»Hörst du mir zu? Oder hast du heute wieder deinen "Keinen Bock" Tag?«, raunte Sam erneut in die Ohren des Schwarzhaarigen, der schließlich genervt den Blickkontakt erwiderte.
»Ich bin noch müde.«
Mehr als ein genervtes Seufzen kam nicht aus den rot glasierten Lippen. Schließlich drehte sich Sam um und ging zu ihrer Schwester, die bereits im Rauchereck der Schlägertypen stand. Normalerweise würde Alexander ebenfalls dort stehen und mindestens zwei Zigaretten rauchen, um der Schmacht mitten im Unterricht zu entgehen. Doch heute war ihm nicht nach Rauchen.
Heute war ihm generell nicht nach diesen Leuten.
Ihm war nicht nach diesem Wetter.
Ihm war alles irgendwie scheiß egal.
»Kann man dich hier ansprechen oder kriegen wir eins aufs Maul?«, begrüßte ihn eine bekannte Stimme. Ein dunkles Kichern folgte, während Alexander sich langsam zu den Zwillingen umdrehte, die Händchen haltend auf ihn zukamen.
Mit erhobener Augenbraue musterte er Hiro und warf den leeren Kaffeebecher in eine nahe gelegene Mülltonne. Statt auf seine doch sarkastische Frage einzugehen, nickte er Kiyoshi zu, der ihn ebenfalls lächelnd ansah. »Lasst euch nicht erwischen.«
»Womit?«, hakte der hagere Mann nach und strich die langen Haare hinter das Ohr.
»Ihr seid immer noch Brüder. Das hier ist ein öffentliches Gebäude. Ist immer noch verboten, klar?«
»Klar«, brummte Hiro los und verdrehte die Augen; ließ seinen Bruder jedoch nicht los. »Heute nicht so gut drauf, hm?«
»Nicht so, nein …«, murmelte Alexander und steckte sich vor Verzweiflung doch noch eine Zigarette an. Verzweiflung? Er zitterte ein wenig, fühlte sich nicht gut. Ob er krank wurde? War das überhaupt möglich?
»Mach dir nichts draus. Wir sind ja auch erst vor zwei Tagen wieder hier angekommen… Das braucht sicher seine Zeit, bis wir wieder auf den Beinen sind.« Kiyoshi lächelte den Schwarzhaarigen dabei liebevoll an, um ihn aufzumuntern. Doch mehr als ein verletzter Blick kam nicht.
»Ihr seht ja schon wieder recht fit aus…«, bemerkte Alexander fast stimmlos und rauchte passiv-aggressiv seine Zigarette.
Es missfiel ihm, die Zwillinge so vertraut zu sehen. Zwar hatte er schon immer glückliche Paare abgrundtief gehasst, aber dieser Hass war ein anderer. Es war Missgunst. Oder Neid.
Kiyoshi verstummte schlagartig und schabte ein wenig mit dem Schuh über den Asphalt. Hiro hingegen bemerkte die drückende Stimmung um den Schwarzhaarigen und räusperte sich, um die kurzweilige Stille zu überbrücken. »Na ja … wir haben jetzt eh ein anderes Fach als du, also gehen wir schon mal rein und lassen dich in Ruhe rauchen, okay?«, fragte Hiro recht vorsichtig, da er Alexanders Gemüt nicht einschätzen konnte. Seine Reaktionen konnten von unglaublich frech bis hin zu extrem verletzend ausarten.
»Hast du die gleichen Fächer wie dein Bruder gewählt?«, fragte Angesprochener recht lustlos und hob nur eine Augenbraue.
Hiro nickte sofort. »Für ein Jahr mach ich da kein Geschiss draus.«
»Wenn du die Prüfungen denn auch schaffst, ja«, bemerkte Alexander spitz und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. »Siehst jetzt nicht so lerneifrig aus.«
»Danke auch«, keifte Hiro zurück und drücke Kiyoshis Hand ein wenig stärker; quetschte sie regelrecht in seinen Fingern. »Ich habe ja ein Genie in der Familie, dann wird da auch was auf mich rübergeschwappt sein! Und wenn nicht, hilft er mir sicherlich, so weit er kann.«
»Natürlich!«, kicherte der andere Zwilling los und wusste sofort, dass er das Genie in der Familie sein sollte. Zuckersüß küsste er Hiro auf die Wange und bedankte sich für das Kompliment. Alexander hingehen schnipste genervt den Zigarettenstummel weg und schlurfte wortlos mit beiden Händen in den Hosentaschen von den Zwillingen weg.
Dieses Glück.
Einfach widerlich.
Und es fraß ihn von innen auf.
Der Tag verlief so grausig, wie er es sich ausgemalt hatte. Heute Abend, so schwor er sich, würde er wieder feiern gehen. Vielleicht würde ihn das auf andere Gedanken bringen. Ein bisschen Koksen oder so half meistens.
Als der Schultag endete und die Zwillinge häufiger mit ihm im Gang redeten als üblich – sich sogar mit einer Umarmung von ihm verabschiedeten –, wurden die Schwestern aufmerksam.
»Bist du jetzt mit denen befreundet?«, fragte Rose spitz, während sie bereits am frühen Abend einen Joint rauchte. Sie standen an ihrem üblichen Treffpunkt vor dem Rathaus in der Altstadt, um gleich gemeinsam ins Crystals zu gehen. Alexander hatte sich selber eine Zigarette mit ordentlich Hasch gedreht und rauchte sie genüsslich, während er das Geplapper der anderen soweit es ging ausblendete.
»Vielleicht«, gab er knapp zu verstehen und vermied jeglichen Augenkontakt.
»Was'n da eigentlich passiert?«
»Wo?«
»Im Süden! Du bist wie ausgewechselt! Total komisch! Und dann hängst du jetzt auch noch mit den Kabashis rum!«
Rose Worte stachen ein wenig in Alexanders Brust. Vielleicht war es auch die Einschuss-Narbe, die ihm als Erinnerung an den Vorfall geblieben war, und seitdem seine sonst perfekt glatte, blasse Haut zierte.
»Ist eben viel passiert. Schweißt zusammen.«
Alexanders kühle Worte ließ Sam eine Augenbraue heben.
»Na, solange du jetzt nicht auch noch deinen geheimen Bruder suchst, um ihn zu nageln«, kicherte Sam auf einmal los, die sich den Joint von ihrer Schwester an die Lippen steckte. Die anderen Leute, mit denen sie sich getroffen hatten, gingen bereits zum Club. Alexander sah ihnen knirschend hinterher. »Keine Angst. Ich bin definitiv ein Einzelkind.«
Die Stimmung im Crystals war wie immer atemberaubend gut. Trotzdem konnte sich Alexander nur schwer auf die laute Elektromusik und die Menschen konzentrieren. Immer wieder schwebte es in seinem Kopf rum, dass Sam und Rose Recht hatten. Er hatte sich verändert. Normalerweise wäre er sofort zur Bar, hätte sich im ersten Rausch Schnäpse bestellt, um sie nacheinander wegzukippen. Mit einem üblen Geschmack im Mund hätte er sich dann vom DJ ein bisschen Speed geholt und die Nacht durchgetanzt. Zwischendurch hätte er sich ein oder zwei Weiber geschnappt, um sie zu vögeln.
Doch alles, was Alexander in seinem niedergeschlagenen Zustand hinbekam, war sich an die Bar zu setzen und ein Bier mit Schuss zu bestellen. Der Schuss bestand natürlich aus der geheimen Zutat, die alle Vampire schätzten: Blut. Nie wäre er früher auf die Idee gekommen, sich ein Bier zu bestellen. Vielleicht zwischen den Schnäpsen mal, um nicht kotzend auf dem Klo zu landen. Ansonsten war Bier für ihn das Getränk der armen Leute. Doch das Blut im Getränk stellte ihn ein wenig ruhiger, sodass er das Glas mit Wohlwollen trank.
Je länger er auf den Tresen des Clubs starrte und die Musik benebelnd auf ihn einhämmerte, desto trauriger wurde er. Was war nur geschehen? Er war mit einem Haar mit dem Leben davongekommen; er müsste doch jetzt erkennen, wie wichtig alles um ihn herum war. Dass nichts selbstverständlich war. Dass er sein Leben auf die Reihe kriegen sollte, um es als das wahrzunehmen, was es war: kostbar. Genau das sollte ihm alles zu denken geben. Alexander dachte nach, doch in seinem Kopf machte sich nur lautes Rauschen breit.
Bis ihn eine Dame von der Seite anquatschte und ihn aus den Gedanken riss.
»Hey, Alex. Hab gehört, du bist heute nicht so gut drauf?«, umgarnte sie ihn bereits mit ihren künstlichen Nägeln am Arm. Lange, braune Haare lagen gut gestylt auf ihren Schultern und hoben ihr tiefes Dekolleté hervor. Natürlich musterte der Schwarzhaarige die runden Körperteile recht genau. Die Frau fuhr einfach säuselnd fort, als würde sie seine Blicke in ihrem Ausschnitt fesseln wollen. »Soll ich dich ein bisschen verwöhnen? Wo du doch so eine anstrengende Zeit hinter dich gebracht hast?«
Alexander brummte nur kurz auf, trank weiter sein Bier und tat so, als hätte er das Angebot der Frau nicht gehört. Früher wäre das seine Masche gewesen: erst einmal so zu tun, als wäre er nicht interessiert, wo er doch ziemlich genau wusste, dass er die Frau noch nageln würde. Doch ihr süßlicher Geruch, der einem Kaugummi ähnelte, lag ihm unangenehm in der Nase. Ihm war nicht nach Sex. Jedenfalls nicht mit dieser Frau, die ihm so offensichtlich ihre Dienste anbot.
Und je länger er schwieg, desto auffordernder wurde die Dame.
»Alex, komm schon! Was ist denn los mit dir?«, kicherte sie und schlang einen ihrer dürren Arme um Alexanders Schultern. »Magst du mich nicht mehr?«
Nicht mehr, dachte der junge Mann, nippte weiter an seinem Bier und versuchte sich zwischen dem ganzen Gras, was er geraucht hatte, daran zu erinnern, ob er schon einmal das Vergnügen mit dieser Frau hatte. Mit Sicherheit, dachte er, sonst würde sie kein so explizites "nicht mehr" verwenden. Doch erinnern konnte er sich nicht an sie. Generell hatte er so seine Probleme mit exakten Erinnerungen an manche Abende.
Als wieder keine Antwort kam und Alexander nur stumm auf sein Bier starrte, die Frau nicht mal beachtete, schmunzelte sie auf.
»Wurde der große Alexander also doch zahm?«
Da wurde der Schwarzhaarige hellhörig. Die Frau beugte sich lasziv über seinen Arm, der auf der Theke der Bar ruhte, sodass ihre Brüste ihn fast vereinnahmten.
»Kaum zu glauben, dass du nicht mal antwortest«, wurde die Dame ungeduldig. Als Alexander auch darauf nichts antwortete, entriss sie ihm ihren Arm und streifte dabei recht aggressiv seinen Hemdkragen.
»Bist du jetzt auch so ein braves Söhnchen geworden, das auf einem viel zu großen Geldhaufen mit einem noch größeren Stock im Arsch sitzt?«, spottete sie los und handelte sich einen bösen Blick ein. Alexander musste viel Willenskraft aufbringen, die Dame nicht zu packen und ihr zugeschminktes Gesicht auf die Bartheke zu schlagen.
»Schnauze«, war alles, was Alexander durch die Lippen presste. Um weiterhin die Beherrschung zu wahren, stand er von der Bar auf und verließ das Geschehen so schnell er konnte. Die Dame konnte von Glück reden, dass er erschöpft vom Tag war und ihr aus dem Weg ging, sonst hätte er sie noch verletzt. Alexander machte bei giftigen Bemerkungen über sein Ego keine halben Sachen – auch nicht gegenüber Frauen.
Innerlich kochend durchstreifte er den Club mit seinem Bier, welches er schließlich hastig austrank und auf einer anderen Bartheke abstellte. Als er den Blick durch den Club streifen ließ und die ganzen gut gelaunten Menschen um ihn vernahm, wurde ihm bewusst, dass er um den Alkohol nicht kommen würde. Gut, es war nicht seine Art, Frust wegzusaufen, aber dann sollte es eben so sein.
Mit wieder etwas mehr Leben in seinen Augen bestellte er ein paar Shots und trank sie im Nu aus. Das Gras tat das Übrige. Sam und Rose kamen hin und wieder zu ihm an die Bar, tanzten etwas und gingen wieder Männer abschleppen.
Und je länger Alexander über die Worte seiner seltsamen Begegnung nachdachte, desto verbitterter wurde er. Zahm? Er war alles andere als zahm geworden! Er war noch immer der Hengst im Stall und das wollte er nicht nur den anderen, sondern auch sich selber beweisen.
Fast wie ein Jäger auf der Jagd schlich er durch den Tanzsaal und begutachtete die Frauen, wie sie aneinander rieben, tanzten und hier und da rumknutschten. Er schmunzelte bei dem Anblick, als er eine Rothaarige und eine Blondine am Fummeln sah. Dieser Anblick gefiel ihm noch immer. Ein Hauch von Erleichterung streifte sein Gesicht.
Als er auf die beiden Damen zuging, die noch rege mit sich selber beschäftigt waren, konnte er nur das Gesicht der Blondine sehen. Sie war hübsch, schlank, groß und stark geschminkt. Generell gefiel sie ihm; also beschloss er, sie für etwas Sex auf dem Klo auszuwählen. Da stand keine Frage im Raum, ob es auch wirklich funktionieren würde. Alexander, der Große, wurde noch nie abgewiesen.
In dem Moment, wo er das Wort ergreifen wollte, um die beiden Damen zu begrüßen, bemerkte ihn die Blondine und grinste ihn etwas verlegen an. Wunderbar, dachte er, der Fisch hatte schon vor dem ersten Wort angebissen. Doch ehe er die Blondine begrüßen konnte, drehte sich die Rothaarige um und grinste ebenfalls.
Ihre untere Lippe war gepierct. Nur ein einzelnes Piercing im Gesicht schmückte ihr etwas schiefes Lächeln.
Alexander musste für einen Moment die Luft anhalten.
»Du bist doch Alexander, oder?«, fragte die Blondine sichtlich betrunken und kicherte den fast einen Kopf größeren Mann an. Der hatte jedoch nur noch Augen für die Rothaarige, die ihn stumm angrinste.
»Ja«, hauchte er fast tonlos und musterte starrend das Piercing. Im Grunde war die Frau nicht mal ansatzweise sein Geschmack, geschweige denn stand er auf Piercings, aber es erinnerte ihn so stark an –
»Ich bin Karin«, fing die Rothaarige an zu sprechen, hielt Alexander die Hand hin und machte eine leichte Knicksbewegung. Zögerlich nahm er die schmale Hand an und schüttelte sie recht freundlich. Sie war ein Mensch.
»Freut mich, Karin«, begann Alexander endlich Worte aus seinem Mund zu pressen. Sollte er das wirklich durchziehen? Seine eigenen Regeln brechen und mit einer absolut nicht attraktiven Frau schlafen? Nur, weil sie …?
Die Blondine hielt Alexander ebenfalls ihre Hand hin und stellte sich vor. »Ich bin Ran.«
Doch die Namen hatte der Vampir schon im nächsten Moment wieder vergessen. Er war betrunken, die Damen waren betrunken, alle waren betrunken. Die Elektromusik wurde immer lauter und schneller, sodass die Besucher des Clubs schneller, härter und lasziver miteinander tanzten.
Es fielen auch nicht viele Worte, bis er mit Karin anfing zu Shakern. Sie roch nicht gut, sie trug ein unvorteilhaftes Kleid und war generell nicht sehr schlank. Ran dagegen war die typische Blondinen-Bombe, die seltsamerweise für Alexander uninteressant wurde. Wie mit Scheuklappen starrte er auf das Metall an Karins Lippe.
Alexander war sich selber nicht so sicher, wieso er Karin mitnahm. Wieso er an diesem Abend alle seine selbst aufgestellten Regeln brach und nicht nur eine für ihn unattraktive Frau bezirzte, sondern sie auch noch mit zu ihm nach Hause nahm.
Betrunken torkelte er mit der Rothaarigen die Treppen in den dritten Stock hoch, um in die große Wohnung zu gelangen, in der Alexander alleine wohnte. Das Wohnhaus war nobel, modern und wie nicht anders zu erwarten nur von reichen Leuten bewohnt.
Als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, wankte er bereits gegen die Wand.
Wieso war die Wohnung dunkel?
Wieso machte nicht mal einer das Licht an und rügte ihn für die Dinge, die er tat?
Wieso interessierte es niemanden, was er da ständig mitmachte?
Karin zog sich bereits im Gang ungefragt aus. Sie warf ihre Sachen unkoordiniert zu Boden und führte Alexander an sich ran. Ihre kleinen, wenn auch wohlgeformten Brüste quetschten sich gegen sein stramm anliegendes Hemd, welches ihre flinken Finger schnell von seinen Schultern streiften.
Ab jetzt wurde es routiniert. Alexander packte ihre Hüfte, hob sie hoch, als wäre sie ein Leichtgewicht. Alle Frauen mochten das. Wie eine Prinzessin behandelt zu werden, obwohl er ihnen gleich das Gehirn rausvögeln würde.
In Gedanken versunken trug er die Frau bis kurz vor sein Schlafzimmer, wo er einige Sekunden mit sich rang, ob er diese Frau wirklich in sein Bett lassen sollte.
Doch seine Schlafzimmertür blieb geschlossen. Stattdessen öffnete er das kleine Gästezimmer, was sonst nur als Abstellkammer diente, und legte Karin auf das unbenutzte Bett. Sie kicherte auf, hielt sich ihre langen, roten Haare aus dem Gesicht und räkelte sich nackt vor Alexander. Der Mann starrte regelrecht apathisch auf ihren Körper und fuhr mit den Händen an ihren Oberschenkeln entlang.
»Und? Gefall ich dir?«, säuselte sie erotisch und fuhr mit den Fingern über seine Brust. So wie sie ihn anstarrte, wusste Alexander, dass es umgekehrt auf jeden Fall zutraf. Jeder bewunderte ihn für seinen Körper. Bisher hatte er ihn auch gut gebrauchen können. Es machte das Abschleppen um einiges leichter.
»Mh«, brummte Alexander nur als Antwort und beugte sich zu der Frau vor. Liebevoll küsste er an ihrem Hals entlang; roch sofort das Blut unter ihren Adern. Doch er hatte vorhin durch seinen Alkoholkonsum bereits genug getrunken. Außerdem roch sie nicht gut. Wahrscheinlich brütete sie eine Krankheit aus oder hatte sogar schon eine.
Wieso noch mal tat er sich das hier an? Wieso hatte er nicht die Blondine mitgenommen?
Doch als Karin lächelte und Alexander vorsichtig auf die Lippen küsste, erinnerte er sich wieder an den albernen Grund. Das Stück Metall rieb kühl gegen seine trockenen Lippen. Als er ihr seine Zunge entgegenstreckte und ihren Mund mit Speichel benetzte, spürte er es immer wieder. Das Piercing. Die Erinnerung.
»Gib's mir, Baby.«
Die Worte klangen etwas seltsam in Alexanders Ohren, trotzdem tat er, wie verlangt. Alles um ihn herum drehte sich, doch stellte das für den Mann kein Problem dar. Sex ohne Alkohol gab es fast nicht. Also kramte er routiniert ein Kondom aus seiner Hosentasche, stülpte es sich über und befeuchtete den Eingang der Frau recht großzügig mit Speichel. Diese stöhnte immer wieder laut auf, genoss regelrecht die Berührungen des Vampirs. Seine Aura gab ihm abermals einen Vorteil und ließ Karin willig werden.
Erst, als er in ihr eindrang und die weiche Wärme um ihn spürte, seufzte er auf. Wie hatte er einen hochbekommen? Er fand Karin doch nicht mal attraktiv …
»Alex!«, stöhnte sie seinen Namen und bewegte sich im harten Rhythmus gegen den Mann.
Doch der Akt brachte ihm keine Freude. Es war anstrengend nicht an ihn zu denken.
An das Piercing.
An die Momente, in denen er genau so unter ihm lag und Alexanders Namen stöhnte. Nicht vor Lust, sondern vor Angst. Mit Tränen in den Augen. Blutverschmiert.
Alexander krallte sich an der Matratze fest, während er sich weiter in Karin bewegte. Die stöhnte laut auf, ließ sich nicht von der geistigen Abstinenz ihres Partners abbringen.
»Alexander!«, raunte sie abermals auf und schien ihrem Höhepunkt nahe zu sein.
Angesprochener fühlte seinen weiter abebben. Da war keine Lust. Da war nur Verlangen. Und zwar nicht nach dieser Frau, sondern nach den schwarzen Haaren. Nach dem natürlichen Lachen. Nach den fürsorglichen Händen. Nach den Piercings.
Nach diesem beschissenen Metall in der Fresse dieses abgrundtief dummen und hässlichen Punks!
»Sorry«, raunte Alexander noch betrunken aus seinen Lippen, löste sich sofort von Karin und fiel mehr schlecht als recht vom Bett. Noch bevor die Frau etwas erwidern konnte, rappelte er sich auf, ging schnellen Schrittes mit der Hose an der Hüfte hängend auf den Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Flink streifte er das Kondom über sein längst erschlafftes Glied ab und warf es in seinen Aschenbecher. Hastig rauchte er den Nikotinstängel und versuchte auf andere Gedanken zu kommen.
Doch selbst die Zigaretten erinnerte ihn an die gemeinsamen Momente. Alles, einfach alles, erinnerte ihn an die letzten zwei Wochen, die er voller Panik und Angst mit dem scheiß Menschen verbracht hatte. Und als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, dachte er sogar beim Sex an ihn. Nicht einmal mehr betrunken konnte ihn eine Frau reizen. War es denn wirklich schon so weit um ihn geschehen? Musste er sich eingestehen, dass die jüngsten Ereignisse mehr Wunden in sein Herz gerissen hatten, als gedacht?
Alexander blieb schweigend, ein wenig wankend, auf dem Balkon stehen. Karin hingegen konnte nicht ganz glauben, was passiert war, stand auf und folgte Alexander recht angewidert auf den kleinen Balkon.
»Geht's dir noch gut? Einfach so mitten drin aufzuhören?!«, schnauzte sie den Vampir an und schnaubte aus, als sie keine Antwort erhielt. Schweigend rauchte Alexander weiter und starrte auf die spärlich beleuchtete Straße vor seinem Haus.
»Hallo? Hast du dich so zugesoffen, dass du deinen Schwanz nicht mehr hochkriegst?«
»Geh.«
»Bitte?«
»Verschwinde!«, wurde Alexander im Nu lauter und zeigte mit der Zigarette in der Hand auf das Innere der Wohnung, wo sich der Ausgang befand.
Schnaubend und zeternd, sammelte Karin ihre Sachen ein und verschwand innerhalb von Sekunden aus Alexanders Wohnung. Bei ihrem Verschwinden schmiss sie noch eine Pflanze um, die mitsamt Erde auf dem Boden landete und alles dreckig machte.
Alexander blieb schweigend auf dem Balkon und rauchte die zweite Zigarette in Folge.
War es der Alkohol oder die Nerven, die ihn in eine solche Situation gebracht hatten?
Ihn antriebslos machten?
Nach der zweiten Zigarette, schaute er auf sein Handy. Zwei Uhr.
Der Punk würde jetzt schlafen.
In Alexander drang ein Bedürfnis hoch, sich bei ihm zu melden. Doch er schrieb es dem Alkohol zu und unterließ es, eine SMS zu verfassen.
Als er das Handy wieder wegsteckte und in die warme Wohnung ging, wo er die Unordnung von Karin recht deutlich vernahm, zog er sich komplett aus und legte sich erschöpft in sein Bett.
Vielleicht, so dachte der Vampir, gab es keinen Ausweg mehr und er müsse mit der Tatsache leben, dass er diesem einen Gedanken wie ein Verrückter hinterherlief und es unmöglich wurde, den bisherigen Lebensstil weiterzuführen.
Diesem einen Gedanken, ihn zu knechten. Ihn zu sich zu holen. Ihn zu besitzen.
Ihn zu seinem Eigentum zu machen.
Die Sonne schien unangenehm in sein Zimmer. Er hatte vergessen, die Rollläden herunter zu lassen, nachdem er am Abend noch eine Zigarette auf dem Balkon geraucht hatte. So hielten nur die dünnen, weißen Vorhänge die tödlichen Strahlen von seinem Körper. Zu allem übel erhellten sie den Raum, sodass er nicht mehr weiterschlafen konnte. Sein Kopf brummte jämmerlich.
»Alex«, säuselte es in einer zarten Stimme neben ihm. Als der Schwarzhaarige seinen Kopf drehte und in die großen Kissen blickte, erkannte er einen weiteren schwarzen Schopf. »Kannst du nicht mehr schlafen?«
Für einen Moment hielt der Vampir inne, betrachtete die Weite der grünen Augen, die ihn so sehnsüchtig anblinzelten, und strich mit der Rückhand zärtlich über die glatten Wangen des Menschen, der ihn liebevoll verschlafen anlächelte. Statt zu antworten, blinzelte Alexander ein paar Mal mit den blauen Augen und wartete ab, was sein Partner tun würde.
Das gestrige Erlebnis war also nur ein dummer Traum gewesen. Nie würde sich Alexander noch einmal in diesen Club trauen. Nicht, nachdem er doch Jiro hatte.
»Wir hätten die Fenster schließen sollen«, flüsterte der Mensch, lehnte sich aus den weichen Kissen, die ihn vorher fast umschlungen hatten, und beugte sich über Alexanders nackte Brust. »Du hast aber keine Schmerzen, oder?«
Vorsichtig strichen die warmen Hände über Alexanders helle Haut, welche von einzelnen Sonnenstrahlen benetzt wurden.
»Die Fenster schützen doch vor der UV-Strahlung … kleiner, dummer Junge«, kicherte Alexander dunkel und zog Jiro noch ein weiteres Stück auf seine Brust. Der ruhige Herzschlag des Menschen beschleunigte sich immens, als das schlaffe Glied auf ein steifes, großgewachsenes stieß. Alexander verspürte schon seit der ersten Minute, wo er seinen Partner neben sich liegen gesehen hatte, Lust. Woher diese kam, konnte er sich selber nicht erklären. Vielleicht lag es daran, dass Jiro nackt war, seine Haare vom Schlaf zerzaust und man all seine Piercings sehen konnte.
Doch Alexander nahm alles nur in Watte gepackt wahr. Er sah leicht verschwommen auf den zarten Menschenkörper. Im Gegensatz zu seinen Muskeln wirkte Jiro gleich viel schmächtiger. Und es gefiel dem Vampir sehr, die Oberhand in diesem Spiel zu haben.
Jiro ließ sich devot auf Alexanders Hüften nieder, bäumte sich ein wenig auf und genoss die forschen Berührungen an seinem Hinterteil.
»Alex«, flüsterte er in die sensiblen Ohren des Vampirs. Verlangend leckte Alexander über Jiros Hals, stand sogar kurz davor, der Versuchung nachzugeben, und ihn zu beißen. Doch widerstand er dem Drang, ihn zu schmecken. Er wollte keine Narben an diesem wunderschönen Hals sehen; nur elegante, schwarze Halsbänder.
»Alexander«, wiederholte Jiro den Namen seines Partners, bewegte sich rhythmisch gegen die stramme Brust und massierte dabei mit der Hüfte Alexanders Glied. Mittlerweile war nun auch das Geschlecht des Menschen auf eine beträchtliche Größe angeschwollen und wartete nur darauf von einer Hand umgarnt zu werden.
Alexander widmete sich weiter Jiros Hals, wanderte an seiner Brust entlang und knabberte sofort an seinen Brustwarzen. Waren da auch Piercings? Er war sich auf einmal nicht mehr so sicher, knabberte und leckte einfach weiter, da die sinnliche Stimme weiter in seinen Ohren tönte und die Stimmung erhitzte.
Als er sich von seinem Partner löste, um sich wieder in die Kissen zu legen, begann Jiro lasziv auf Alexander zu reiten. Noch war der Vampir nicht in ihm drin, doch sein Andeuten war genug, um ihn zum Kommen zu bringen. Der Höhepunkt stand ihm ins Gesicht geschrieben, als Jiro sich auch noch mit der gepiercten Zunge über die Lippen fuhr. Wie es wohl sein würde, wenn diese Zunge seinen Schwanz massieren würde?
»Jiro …«, flüsterte Alexander schließlich den Namen seines Geliebten und strich abermals über die glatten Wangen, die sich sofort hingebungsvoll in die Handkuhle legten. Der Mensch genoss jede seiner Berührungen und schloss für einen Moment sogar die Augen. Erst, als Alexander sich aus der liebevollen Berührung löste und sich langsam in Position brachte, um in Jiro einzudringen, hörte er ein ächzendes Stöhnen.
Sofort suchte der Vampir den Augenkontakt zu seinem Partner, der ihn verzweifelt ansah. Er zitterte am ganzen Körper, hielt sich die Arme und schniefte auf.
»Nein… Bitte nicht!«, wimmerte er los.
Alexander löste sich mit einem energischen Ruck von Jiro und griff erneut nach dem schaudernden Körper. Diese Stimme, dieser Ausdruck… wie ein Kriegsflashback holte es den Vampir ein. Mit einem Schlag erinnerte er sich an die Szene am Strand, wo Jiro über ihm lag und genau diese Worte zu ihm sagte, weinte, bettelte und flehte.
Aus Alexanders Lippen kamen keine Worte, er verstummte, obwohl er so viel zu sagen hatte. Sich entschuldigen, ihn beruhigen, einfach loslassen.
Doch ehe er den Punk in irgendeiner Weise ablenken konnte, bemerkte er die Blutflecken. Die Schrammen, die blauen Flecken, die vielen Tränen, welche sich mit Dreck in seinem Gesicht vermischt hatten und vom Kinn fielen. Das war nicht real, das –
Es klackte und der Lauf einer Waffe war zu sehen. Vincent stand neben dem Bett und starrte abtrünnig in die Richtung der beiden, hielt Jiro seinen Revolver an die Schläfe und beobachtete dabei Alexanders Reaktion.
»Widerlich«, fuhr es düster über seine Lippen und drückte den Abzug.
Alexander schrie auf, beugte sich im Nu nach vorne und wollte den nichtsahnenden Jiro vor dem tödlichen Schuss bewahren – so wie er es immer getan hatte – und dachte nicht daran, dass das, was passierte, alles gar nicht sein konnte.
Vincent war tot.
Das Zimmer leer.
Alexander saß schwer atmend in seinem weichen Bett und starrte durch den abgedunkelten Raum. Nervös blickte er um sich, tastete hektisch die Kissen ab.
Kein Jiro.
Kein Vincent.
Nur langsam realisierte der Vampir, dass das, was er gerade erlebt hatte, nur ein Traum war. Tatsächlich waren die unangenehmen Geschehnisse mit der Frau in seinem Zimmer Realität gewesen. Denn die Pflanze lag noch immer zerstört auf dem Boden, die Erde drum herum. Mit zittrigen Händen fasste sich Alexander an seinen Nasensteg. Was geschah nur mit ihm?
Er hatte lange mit sich gerungen, ob er wirklich gehen sollte. Letztendlich war er doch in sein Auto gestiegen und ohne Training zur Schule gefahren. Alexander fing an, seine Übungen schleifen zu lassen. Der Schlafmangel stand ihm ins Gesicht geschrieben, sodass es selbst seinen dummen Weibern auffiel.
»Guten Morgen, Alexander«, begrüßte ihn Rose recht unspektakulär und stand mit ihrer Schwester und den beiden Schränken vor dem Gebäude der Academy. »Wo warst du gestern auf einmal?«
»Zu Hause«, gab der Schwarzhaarige knapp zurück und zündete sich eine Zigarette an. Noch immer zitterte er an seinen Fingern. Das Adrenalin pumpte unaufhaltsam durch seine Venen. Der Schock, Jiro wegen einer weiteren Dummheit verloren zu haben, reichte bis ins Mark. Natürlich war es nur ein Traum gewesen, der Punk lebte. Eine frühmorgendliche „Bei mir ist alles klar, wieso fragst du?“-SMS hatte dies bestätigt. Lieber hätte er mit ihm telefoniert. Seine Stimme gehört. Aber er wollte bei Gott nicht anfangen anhänglich zu werden. Das war nicht seine Art und das würde nie so werden.
»Hast dir so 'ne komische Tussi mitgenommen, oder? Wie kam's dazu?«
Alexander hasste es, wenn Rose oder Sam sich in seine Frauengeschichten einmischten. Als würde es sie etwas angehen, mit wem er wann und wo schlafen würde. Schließlich zuckte der Vampir nur mit den Schultern und rauchte schweigend weiter. Ohne weiter auf folgende Fragen der Schwestern einzugehen, sah er die Zwillinge aus einem schwarzen Mercedes steigen, der nicht lange stehen blieb und wieder weiterfuhr.
Ohne sich zu verabschieden verließ Alexander die Gruppe und ging auf das nervige Liebespaar zu, was ihm trotz innerer Ablehnung weitaus lieber als die beiden Schwestern war.
»Guten Morgen«, begrüßte Kiyoshi etwas ermüdet den rauchenden Freund. Hiro lächelte nur.
»Morgen. Auch müde?«, erkundigte sich Alexander. Nicht, dass es ihn interessieren würde, ob und warum Kiyoshi müde war. Denn eigentlich war er das immer. Schon seitdem er ihn kannte.
»Ja …«, seufzte er auf und lehnte sich an Hiros Schulter. »Nicht so viel Schlaf bekommen.«
Als sein Partner dunkel kicherte und einen Arm um die schmale Figur legte, schauderte es dem Vampir. Unachtsam schnippte er seine Zigarette weg. »Ich will nicht wissen, wieso, danke.«
»Willst du nicht, ja«, bestätigte Hiro und küsste Kiyoshis Stirn. Ein zufriedenes Grinsen entfuhr dem Umarmten. Seine langen, welligen Haare hatte er in einen hohen Pferdeschwanz gebunden, sodass er selbst für Alexanders Geschmack etwas zu weiblich wirkte. Obwohl Hiro die gleichen Gesichtszüge vorwies, wirkte er doch um einiges männlicher und stämmiger als sein Zwilling.
»Wie geht's dir? Siehst auch nicht so fit aus«, bemerkte Hiro und streichelte Kiyoshis Nacken, als sei es eine Selbstverständlichkeit seinen Bruder mit Liebkosungen in der Öffentlichkeit zu verwöhnen.
Alexander seufzte tief, als hätte er nur auf diese Frage gewartet und rang einige Sekunden mit sich, ob er die Schultern zucken oder die Wahrheit sagen sollte.
Er entschied sich für einen Mittelweg.
»Hab schlecht geschlafen.«
»Ach so«, kam recht desinteressiert von seinem Gesprächspartner, als wäre er nicht mehr ganz anwesend. In der Tat blickte Hiro sofort an Alexander vorbei und winkte Kat, Ichiru und Yagate zu.
Die drei hatte der Schwarzhaarige gefressen. Vielleicht waren diese Leute ebenfalls sehr nett, trotzdem wollte er sich nicht mit diesem niederen Volk abgeben. Dass er mit den Kabashis zusammenstand war für sein Image schon schlimm genug.
»Ich geh dann mal«, brummte Alexander und drehte sich um, um zum Schulgebäude zu gelangen. Hiro und Kiyoshi folgten nur langsam und ließen den schlecht gelaunten Vampir vorrennen.
*
»Er wirkt so niedergeschlagen…«, flüsterte Kiyoshi mir zu. Ich konnte nicht anders, als mit dem Kopf abzuwägen.
»Schätze mal, er leidet unter Liebeskummer.«
»Meinst du?!«, kam es weitaus lauter aus den zarten Lippen meines Bruders. Ich zuckte mit den Schultern.
»Was soll's sonst sein?«
»… es gibt sicherlich tausend andere Dinge auf dieser Welt, die Alexander schlechte Laune machen.«
»Wir reden ja nicht nur von schlechter Laune. Wir reden hier von einer echten Depression!«, bemerkte ich neuklug, als wüsste ich, wie eine Depression aussehen würde. Kiyoshi seufzte sofort genervt auf und nahm ein wenig Abstand von mir.
»Alexander wirkt auf mich einfach nur müde. Hat sicher gestern wieder bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen.«
»Ach«, kam es aus mir herausgeschossen. »So einer ist Alexander? Feiern hier, Party da?«
Kiyoshi nickte zustimmend, als wir uns Kat und den anderen näherten. Diese begrüßten uns recht herzlich mit vielen Umarmungen und folgten uns in die Klassenräume. Thema Alexander war sofort abgehakt.
Mir passte das zwar gar nicht, auf diese Schule zu gehen, jedoch blieb mir keine Wahl. Es war die einzige Schule für Vampire im Umkreis unserer Villa, also wurde ich indirekt gezwungen, mich tagtäglich mit super schlauen Vampiren abzugeben. Denn in jeder beschissenen Stunde saß ich recht teilnahmslos neben Kiyoshi, der sich, wie es sich für einen Streber gehörte, pausenlos meldete und gute Note absahnte.
Dieser Tag sollte nicht anders laufen.
Erst in einer späteren Stunde trafen wir wieder auf Alexander. Der sah immer noch recht bescheiden aus und blickte traurig auf seinen Tisch. Kat und die anderen wollten schon in eine der vorderen Reihen gehen, als ich Kiyoshi zunickte.
»Ich setz mich mal zu unserem Häufchen Elend«, scherzte ich und deutete mit meinem Kinn auf Alexander, der in den hinteren Reihen saß und uns nicht weiter bemerkte.
»Okay? Soll ich mitkommen?«, fragte er wie ein kleiner Hund und wollte mir schon folgen, als ich ihn abwies.
»Lass mal… Ich horch ihn ein bisschen über Jiro aus. Vielleicht vertraut er mir da ein bisschen mehr an, als dir. Immerhin bin ich Jiros bester Freund.«
Kiyoshi schwieg, sah mich auf einmal missmutig an. »Das wäre zwar eher ein Grund, dir nicht zu vertrauen, weil du sonst alles weiterplappern würdest… aber okay. Dann setz dich mal zu ihm.«
Mit diesen Worten nahm er schwungvoll seine Ledertasche auf die Schulter und ging wieder in die vorderen Reihen zu Kat und den anderen. Etwas gereizt verdrehte ich abermals die Augen und schlurfte zu Alexander. Wenn Kiyoshi nicht bekam, was er wollte, wurde er die Zicke in Persona.
»Hey«, begrüßte ich Alexander recht neutral und setzte mich einfach neben ihn. Nur langsam drehte er seinen Kopf in meine Richtung, um mich abfällig anzusehen.
»Woher die Freiheit sich neben mich zu setzen?«
»Freiheit? Muss ich dich erst um Erlaubnis bitten?«
Meine hochgezogene Augenbraue und der leicht sarkastische Unterton ließ Alexander verstummen. Sein Blick wanderte nach vorne, sodass er wieder ungehemmt den weißen Tisch anstarren konnte.
Als würde mich seine raue Art nicht stören, packte ich meinen Notizblock und Stifte aus. Alexander hatte nichts vor sich liegen, sodass ich annahm, dass er dem Unterricht eh nicht folgen würde. Also begann ich einfach drauf los zu plappern.
»Hast du schon mit Jiro gesprochen?«
Im Nu wurde mein Gesprächspartner hellhörig, sodass er sich sogar ein wenig aufsetzte. Unangenehm rieb er seine Finger aneinander.
»Wieso?«
»Nur so… Wir sind jetzt seit ein paar Tagen wieder hier. Dachte nur, dass ihr beiden vielleicht noch schreibt oder telefoniert.«
»Wir schreiben.« Langsam blickten mich eisblaue Augen scheinheilig an. »Ich glaube, dass du schon eher mit Jiro gesprochen hast, als ich.«
Diese Worte hinterließen bei mir ein Schmunzeln. Er wollte mich aushorchen, so, so. Aber da das mein Vorhaben war, drehte ich den Spieß wieder um.
»Hm, mag sein. Wir haben kurz telefoniert, als wir angekommen sind. Seitdem beschwert er sich über die große Langeweile, die ihn überkommt. Dachte, die überbrückt er vielleicht, in dem er mit dir schreibt.«
»Ich habe nicht so viel Zeit und Muße, mich, wann immer es ihm passt, mit ihm zu beschäftigen.«
Harsche Worte, dachte ich und schwieg für einen Moment. Die Variante, die Dinge direkt anzupacken, passte Alexander wohl nicht so ganz. Für eine indirekte Variante brauchte ich allerdings mehr Zeit zum Nachdenken.
In dem Moment, wo ich den Mund öffnen und etwas erwidern wollte, kam die Lehrerin rein und begrüßte uns ganz herzlich. Wir standen auf, begrüßten sie ebenso herzlich im Singsang und setzten uns wieder. Selbst nach so viel Zeit in dieser Schule, empfand ich das immer noch als viel zu steif. Aber für ein Jahr würde ich das wohl packen.
Die Stunde zog sich wie Gummi, da Alexander dann doch noch seinen Block rauszog und anfing, wie wild drauf rum zu schreiben. Schade, dachte ich, und folgte dem Unterricht genauso eifrig. Zumindest eifriger, als ich von mir gewohnt war.
Die Mittagspause stand an, sodass Kat und die anderen mit Kiyoshi am Ausgang des Raumes auf mich und Alexander warteten. Ich war mir sicher, dass unser neuer Freund keinen Bock auf einen Kaffee mit Blut hatte, sodass ich ihn auch nicht fragen wollte, ob er mitkäme.
Mein Bruder hingegen erkannte die genervte Stimmung nicht ganz so genau und gesellte sich neben Alexander.
»Kommst du mit?«
»Wohin?«, brummte er recht unfreundlich und packte bereits im Gang Richtung Ausgang eine Zigarette aus. Ich sah an Kiyoshis Blick, dass er auch gerne eine geraucht hätte, dem Drang aber vor seinen Freunden widerstand.
»Wir gehen ins Café am Ende der Straße, du weißt schon.«
»Mh«, war alles, was aus seinem geschlossenen Mund kam. Ich deutete das als ein Nein, Kiyoshi hingegen nickte und lief wieder an meiner Hand.
Tatsächlich kam Alexander mit uns mit, auch wenn er einen gewissen Sicherheitsabstand zu uns einhielt, während wir die lange Allee entlangliefen. Kat gesellte sich schließlich zu Kiyoshi, zog ihn etwas mit sich und tuschelte angeregt. Ich verstand nur Wortfetzen, aber es war genug, um zu wissen, worum es ging.
»Wieso seid ihr jetzt so dicke mit dem?«, fragte sie recht aufgebracht und sah immer mal wieder verstohlen über ihre Schulter zu Alexander, der aggressiv am rauchen war.
»Er hat uns geholfen, habe ich dir doch erzählt. Und so ein schlechter Kerl ist er gar nicht«, beschwichtigte Kiyoshi seine Freundin und richtete seinen Pferdeschwanz.
»Trotzdem… wirkt er immer noch recht abweisend«, bemerkte Kat murmelnd.
»Ist halt Alexander. Ich glaube, das ist schon seine nette Seite.«
Das ließ mich aufschmunzeln. Genau das glaubte ich auch. Noch freundlicher ging es bei Alexander einfach nicht.
Nur bei Jiro.
Ja, bei Jiro wurde er zum Kätzchen und ließ sich mit Vorliebe hinter den Ohren kraulen.
Als wir das Café erreichten, war es mit vielen Schülern der Academy gefüllt. Viele verbrachten ihre Freistunden im gemütlichen Bistro. Sofort erinnerte ich mich an das erste Mal, als ich es betreten hatte. Es gefiel mir nicht, ich hatte Angst und ich wollte nach Hause.
Jetzt überlegte ich sehnsüchtig, welchen Kaffee ich nehmen sollte. Was besser schmecken würde, auch wenn mir irgendwo tief in meinem Herzen bewusst war, dass alles gleich mies in meinem Mund sein würde.
Kat und die anderen bestellten sich einen normalen Kaffee, Kiyoshi versuchte es mit einem Cappuccino, dessen ich mitstimmte, bis schließlich Alexander einen Latte Macchiato orderte. Wie immer recht unfreundlich bezahlte er seine Bestellung, nahm sich die Tasse und setzt sich mit uns an einen rechteckigen Tisch nahe einem Fenster.
Okay, dachte ich, diese Runde lud nicht gerade dazu ein, Alexander über sein Liebesleben auszufragen. Also nippte ich an meinem warmen Cappuccino und genoss das etwas studentische Leben zwischen Vampiren. So schlimm, wie ich es in Erinnerung hatte, war es nun doch nicht. Eigentlich war es sogar ganz nett mit coolen Leuten in einem Café zu sitzen und sich nett zu unterhalten.
Kiyoshi hielt die ganze Zeit über meine Hand und streichelte sie hier und da, während er sich angeregt mit Kat unterhielt. Yagate und Ichiru brabbelten über irgendwelche Autos, während ich dem Gespräch von meinem Bruder und Kat folgte. Doch da ging es auch nur um irgendwelche lahmen Bücher, sodass ich mich schnell wieder abwandte. Alexander bleib stumm und trank niedergeschlagen seinen Kaffee. Es war ein Ausdruck des Leidens und es tat mir fast schon im Herzen weh, ihn so einsam am Tisch sitzen zu sehen.
Wie er wohl sonst seine Freistunden verbracht hatte? Vielleicht alleine? Oder mit Rose und Sam? Den beiden schien er jedenfalls keine große Beachtung mehr schenken zu wollen.
Als nach mehreren Minuten nichts um Alexander geschah, sprach ich ihn einfach an.
»Lust, eine Rauchen zu gehen?«, fragte ich die Frage, dessen Antwort ich bereits kannte.
»Klar«, kam nur knapp über seine Lippen, als er bereits eine Kippe zwischen den Fingern hatte. Natürlich würde er diese Frage niemals verneinen. Für Alexander gab es anscheinend nichts Schöneres, als endlich mal wieder eine zu rauchen.
Er rauchte wirklich schlimmer Kette als Jiro. Würden die beiden irgendwann zusammenleben, lägen ihre Hauptausgaben bei Zigaretten und Kondomen. Dessen war ich mir sicher. Und genau das wollte ich erreichen. Jiro brauchte jemanden zum Abreiben und Alexander brauchte jemanden, den er rumkommandieren konnte. Beides war zum Scheitern verdammt, wenn der jeweils andere Partner nicht genügend Konter geben würde. Und ich war mir sicher, dass die beiden sich entweder nach zwei Tagen den Kopf abgerissen hätten oder zum fünfzigsten Mal im Bett gelandet wären. Da gab es einfach kein Zwischending.
Kiyoshi bemerkte natürlich sofort unser Vorhaben und sah mit großen Hundeaugen zu mir hoch.
»Wohin gehst du?«
»Rauchen. Mit Alexander.«
Ich betonte seinen Namen absichtlich recht deutlich, um meinem Bruder deutlich zu machen, dass das wieder ein Alleingang werden würde. Doch Kiyoshi ließ sich das ständige Abweisen nicht gefallen.
»Ich komme mit«, verkündete er. Ich wollte schon eingreifen, mich irgendwie beschweren, dass ich lieber später noch einmal mit ihm rauchen gehen würde, doch Alexander blickte bereits neugierig in unsere Richtung, wieso ich ihm nicht folgte. Würde ich also eine Szene machen, wären meine Intentionen Alexander auszuhorchen sofort aufgeflogen.
Kat kam mir zuvor.
»Kiyoshi? Du rauchst?«, kam es überrascht, zugleich empört über ihre Lippen. Auch Yagate sah verwirrt in die Richtung des sonst so ruhigen und lieben Strebers. Der wurde auf einmal nervös und lächelte, als hätte man ihn gerade bei einer illegalen Tat erwischt.
»Also… Manchmal schon, ja«, nuschelte Kiyoshi vor sich hin. Diesen Moment nutzte ich, klopfte ihm auf die Schulter und presste ihn somit wieder auf den Stuhl.
»Später können wir ja eine rauchen gehen. Erklär du dich erst mal«, spaßte ich, zwinkerte ihm zu und verschwand so schnell ich konnte aus dem Café, wo Alexander bereits auf mich wartete. Nur ein vernichtender Blick blieb in meinem Nacken haften und ich wusste: Das würde noch ein bitterböses Nachspiel mit sich ziehen, dass ich meinen Bruder mit einer unangenehmen Situation allein gelassen hatte.
Als ich draußen ankam, reicht Alexander mir wortlos ein Feuerzeug, sodass ich mir ebenfalls eine Zigarette vor dem Fenster des Cafés anzünden konnte. Die Schachtel Kippen hatte ich mir am Flughafen gekauft und seitdem nicht angebrochen. Zu Hause ließ es sich nicht gut rauchen, Dad würde das sofort riechen und mich hochkant rausschmeißen. Aber für solche Gelegenheiten kam die Schachtel gerade Recht.
»Was gibt's, dass du mich so verfolgst?«, brummte Alexander auf einmal los und sah mich eindringlich an.
Hm, er hat also doch gerochen, was ich vorhatte.
»Ich verfolge dich nicht. Ich mach mir nur was Sorgen, wo du hier wie so eine Wasserleiche rumläufst.«
Während ich gemütlich meine Zigarette rauchte und ein leichtes Nikotinhigh spürte, blinzelte ich in sehnsuchtsvolle Augen aus dem Inneren des Cafés. Sofort überlegte ich, wann sich mein Bruder auch eine Zigarette gönnen könnte. Vielleicht würde Mamoru ja eine Ausnahme machen und uns nach Hause laufen lassen. Da wäre genug Zeit.
»Ich bin keine Wasserleiche. Ich bin nur müde«, kam es dann nach einigen Sekunden von meinem Gesprächspartner.
»Na, klar.«
Der sarkastische Unterton ließ Alexander genervt aufblicken. Etwas ertappt schob er seine freie Hand in die Hosentasche seines zugegebenen schönen Anzugs. Die Schuluniform saß wie maßgeschneidert an seinen Schultern. Generell hätte Alexander aus einem Hochglanzmagazin entsprungen sein können, so perfekt wirkte er mit seinen schwarzen, welligen Haaren und der schnieken Schuluniform.
»Hab gestern ein bisschen mit dem Alkohol übertrieben«, gestand er schließlich und rauchte seine Zigarette auf. Ich arbeitete mich langsam auf die Hälfte des Glimmstängels hin, wo sich mein Gesprächpartner bereits den Zweiten anzündete.
»Gehst wohl öfter feiern, hm?«, hakte ich nach und war über ein bisschen Gesprächsstoff glücklich.
»Früher mal, ja.«
»Früher? Ist gestern schon früher?«, lachte ich amüsiert über Alexanders Worte auf und beobachtete seine genervte Gestik.
»Nein. Mir war gestern einfach mal wieder nach Abschalten.«
»Sieht nach was längerem Abschalten aus. Aber hey, wenn's dir Spaß macht?«
Und genau da lag, soweit ich das beurteilen konnte, der Punkt. Alexander hatte keinen Spaß an seinem Zustand.
»Schon«, gab er knapp zu verstehen, dass das Thema damit beendet sei. Nur langsam senkte er wieder seinen Blick und starrte auf den asphaltierten Boden. Da vibrierte ein Handy.
Sofort griff Alexander in seine andere Hosentasche und zog sein Smartphone heraus. Er entsperrte seinen Bildschirm und fing an süßlich zu lächeln, während er die Message las.
»Lass mich raten: Jiro?«, hakte ich recht amüsiert nach und rauchte erwartungsvoll meine Zigarette. Mit einem Mal verließ das Lächeln Alexanders Gesicht. Emotionslos blickte er in mein Gesicht.
»Ja.«
Herr Gott, dachte ich, was ist schon dabei? Wie Kiyoshi schon meinte: Ist doch süß, dass sie sich verliebt haben! Geht doch mal ehrlich miteinander um, Kinder!
»Was schreibt er?«
»Dass er gerade seine Klausurtermine für die Abschlussprüfungen bekommen hat und er Ende Mai wohl durch ist, wenn er alle besteht.«
»Cool! Das ist ja schon bald!«
An Alexanders Gesichtsausdruck konnte ich vernehmen, dass es nicht schnell genug war. Wir saßen noch im alten Jahr, Herbst und Winter standen noch bevor, bis endlich der Frühling anbrechen und damit Jiros Erscheinen ankündigen würde. Denn das war der Plan: Wenn die Schule beendet war, wollte Jiro für etwas Länger in den Norden kommen. Und ich war mir sicher, dass er sich dabei keine eigene Wohnung suchen würde.
Oder vielleicht doch? Alexander packte das Handy schweigend wieder in seine Hosentasche.
»Antwortest du ihm nicht?«
»Nein. Später vielleicht«, gab er murrend als Antwort und schnipste die zweite Zigarette weg.
Ich verstummte und schluckte seine harsche Antwort runter. Tief in mir hoffte ich, dass es ihm einfach zu peinlich war, vor meinen Augen eine Antwort zu verfassen, die er dreimal Korrektur las, um sicher zu gehen, dass die Worte richtig und vollständig bei Jiro ankamen.
Schließlich gesellten wir uns wieder zu den anderen im Café. Kiyoshi sah mich weiterhin finster an, sodass ich mir jegliche Kommentare verkniff. Das würde nur im Streit enden.
Der Schultag verging doch recht zügig. Im Unterricht nach der Pause sah ich Alexander doch wieder auf seinem Handy spielen. Er lächelte hier und da mal auf, schrieb weitere Romane und folgte dem Unterricht nur sehr spärlich. Wahrscheinlich chatteten sie gerade über Skype. Und ich freute mich, dass wenigstens Jiro es schaffte, Alexander aufzuheitern.
Aber ob das ausreichte, um mal einen Schritt weiter zu gehen? Alexander schien nicht sehr erpicht darauf zu sein, Jiro zu umgarnen. Und mein bester Freund war nicht der Typ, der den ersten Schritt machte.
Also hieß es wohl Tee trinken und abwarten.
»Hallo Jiro!«, begrüßte ich meinen besten Freund über den Laptop meines Bruders. Kiyoshi saß auf meinem Bett und las eines seiner komischen gruseligen Bücher, während ich am Schreibtisch saß und in die Kamera winkte.
Mein bester Freund am anderen Ende der Leitung lächelte ebenfalls in die Kamera und winkte sogar aufgebracht, als er mein Gesicht sah.
»Mensch, Hero, Alter, du fehlst mir jetzt schon«, bemängelte er meine Abwesenheit. Es war gerade mal eine Woche vergangen, aber ich spürte, was er meinte. Irgendetwas fehlte. Und zwar die lockere Atmosphäre.
»Du mir auch… Wie läufts mit der Schule? Sonst komm vorbei«, schlug ich vor und zwinkerte in die Webcam. Jiro wägte nur den Kopf ab und stützte sich auf der Tischplatte ab. Hinter ihm ging bereits die Sonne unter, während sie hier noch unberührt in die Vorhänge fiel.
»Geht so. Hab jetzt die Termine bekommen, aber genauso stramm ziehen sie auch mit dem Stoff an. Außerdem habe ich noch nicht genug Geld für den Flug.«
»Jiro«, begann ich mit tiefer Stimme und lehnte mich extra weit zum Laptop vor. »Erzähl mir nicht, dass dein Lover nicht deinen Flug zahlen würde.«
Bei meinen Worten lachte Jiro verzweifelt auf, wurde rot um die Wangen und schüttelte den Kopf.
»Er ist nicht mein Lover. Und ich habe es ihm verboten.«
»Verboten? Oho, und er hält sich etwa dran?«
Da zuckte Jiro mit den Schultern. »Soweit ja. Er hat jedenfalls noch keinen Flug ohne mein Wissen gebucht.«
»Ihr beiden«, seufzte ich erschöpft in das Mikro des Laptops. In dem Moment zwirbelte Kiyoshi eine Haarsträhne und sah zu mir. »Wir können ihm doch auch den Flug zahlen.«
»Will er ja auch nicht«, antwortete ich, als wäre mein bester Freund auf einmal nicht mehr anwesend.
»Richtig«, stimmte Jiro mir zu und schmunzelte in die Kamera. Seine Haare wurden langsam länger und ich musste gestehen, dass sie ihn… normal aussehen ließ. Auch die Piercings ritten es nicht mehr raus. Und je länger ich meinen besten Kumpel ansah, fiel mir eine leere Stelle an seinem Auge auf.
»Du trägst ja gar nicht mehr alle Piercings. Was ist los? Gefallen sie dir nicht mehr?«, hakte ich nach und deutete auf die Löcher an seiner Augenbraue.
Jiro zuckte mit den Schultern, als wäre es eine hinzunehmende Tatsache, dass er sich vom Augenbrauenpiercing verabschiedet hatte. »Fand's irgendwie nicht mehr schön.«
»Glaub ich nicht. Dein Lover hatte da doch sicher seine Finger im Spiel.«
»Hör auf, ihn meinen Lover zu nennen, Hiro!«, fauchte mein bester Freund recht genervt in die Kamera, als hätte ich mit dem zweiten Scherz eine gewisse Grenze überschritten.
»Klar, kein Lover mehr.« Sofort hob ich entschuldigend die Hände und lehnte mich im Stuhl zurück. Wieso war es so schwer, die beiden mal über den jeweils anderen auszuquetschen? Als wäre es nicht offensichtlich genug, dass da was lief.
Doch je öfter ich von Alexander die Woche über immer wieder abgewiesen wurde, drang sich der Gedanke in meinen Kopf, dass ich die ganze Sache überbewertete. Vielleicht waren sie wirklich nur gute Freunde. So wie Jiro und ich eben. Aber etwas in mir sagte, dass Jiro mir erst mal die Fresse poliert hätte, wäre ich mit dem Vorschlag gekommen, das Augenbrauenpiercing rauszunehmen.
Und kaum schlug es Alexander vor, verschwand es für immer.
»Wann glaubst du denn, dass du vorbeikommen könntest?«, lenkte ich das Thema wieder auf das eigentliche Problem.
»Schwer zu sagen«, seufzte Jiro und fuhr sich durch sein dichtes Haar. Der locker sitzende Pulli ließ ihn ein wenig schmal erscheinen. »Vielleicht in einem Monat oder so. Oder kurz vor Weihnachten.«
»Oh man, das ist ja noch ewig«, seufzte ich und ließ den Kopf kreisen. »Aber Silvester feierst du hier, oder?«
»Na, klar!«, kicherte Jiro auf und nickte eifrig. »Kein Silvester ohne dich.«
»Ich will das Jahr auch so verlassen, wie ich es begonnen habe: Betrunken«, spaßte ich und stimmte in das Lachen von Jiro ein. Nur Kiyoshi hinter mir räusperte sich recht streng, als würde ihm das so gar nicht passen. Dabei war er doch die Partymaus schlechthin, wenn denn mal Alkohol floss. Kiyoshi war nun wirklich nicht in der Position mich zu rügen.
»Hast du schon mit Alexander gesprochen? Über eine Reise?«, hakte ich nach und nutzte die gut gelaunte Situation aus, um ihn weiter auszuquetschen. So schnell gab ich dann doch nicht auf.
»Noch nicht. Wir haben gestern kurz miteinander telefoniert, aber er war ein bisschen down.«
»Ja, er vermisst dich schrecklich.«
Sofort trat Schweigen auf der anderen Seite ein. Auch Kiyoshi spitzte seine Ohren. Natürlich hatte Alexander das nie mit auch nur einem Wort erwähnt, aber ich musste der ganzen Sache ja mal ein bisschen Fahrtwind geben.
»… Hör doch mal auf, hier ständig den Love Doctor zu spielen«, rügte mich Jiro schließlich seufzend, nachdem er für ein paar Sekunden meiner Lüge Glauben geschenkt hatte.
»Ich helfe euch nur was auf die Sprünge«, murmelte ich und kratzte mich verlegen im Nacken.
»Das brauchen wir aber nicht, Hiro. Lass es einfach. Alexander und ich sind gut befreundet, das reicht doch. Nicht jeder muss jetzt schwul werden, oder?«
Jiros spitze Worte stachen für einen Moment in meiner Brust und ließen mich schweigen. Normalerweise kam dann ein Witz oder ein Zwinkern. Doch nichts dergleichen geschah, sodass ich die Mahnung beschämt hinnahm. Ich nickte und presste die Lippen aufeinander.
»Klar. Sorry.«
Das Gespräch nahm schnell ein Ende. Und so gut gelaunt, wie wir uns begrüßt hatten, so drückend verabschiedeten wir uns. Jiro mochte es also gar nicht, dass ich mich in sein Liebesleben einmischte. Und Alexander blieb ebenfalls eisern. Was auch immer da lief, es war entweder verdammt geheim oder gar nicht existent.
»Nimm's dir nicht zu Herzen, ich glaube, Jiro meinte es nicht so«, beschwichtigte mich Kiyoshi, der sich sofort auf meinen Schoß setzte, nachdem ich den Laptop zugeklappt und das Gespräch beendet hatte.
»Weiß ich. Trotzdem… ist Jiro normalerweise nicht so pampig. Vielleicht übertreibe ich ja wirklich ein wenig.«
Vorsichtig ließ ich meine Hände über Kiyoshis Rücken gleiten.
Nicht jeder muss schwul werden.
Das war mir schon klar, doch… in meinen Augen spielten die beiden doch schon lange in der anderen Liga. Oder war ich derjenige, der das sehen wollte? Und es im Grunde gar nicht so war?
Kiyoshi war der Ansicht, dass ich mir zu sehr den Kopf zerbrach und küsste mich leidenschaftlich auf die Lippen. Ich ließ es einfach geschehen, lag mit meinen Gedanken allerdings noch beim Problem Jiro und Alexander.
Nicht, dass es mich was angehen würde, ob die beiden ein romantisches Verhältnis begannen oder nicht. Doch es würde mich freuen, wenn sowohl Alexander als auch Jiro das Glück beim jeweils anderen finden würden.
Sie wirkten auf unserer Flucht vor ein paar Tagen so vertraut.
Wo war das nur geblieben?
Am nächsten Tag saß ich mit Kiyoshi in unserem großen Wohnzimmer, als das Telefon klingelte und Mamoru mir den Hörer brachte. An diesen Service gewöhnte ich mich in der Tat sehr schnell.
»Ihre Mutter, junger Herr Hiroshi«, flüsterte Mamoru recht freundlich und hielt mir das Telefon hin. Dankend nahm ich den kabellosen Hörer entgegen und horchte auf die hohe zeternde Stimme. Kiyoshi blätterte ruhig in einem Buch und lehnte in den großen Kissen auf dem Ledersofa. Stilsicher stand es an einem großen Karmin. Und immer wieder schwirrte mir durch den Kopf, dass das rote Bonbonsofa meiner Mutter jede Atmosphäre in diesem Haus gnadenlos töten würden.
»Mom?«, begrüßte ich sie recht zögerlich. Doch anstatt eine hoch gepitchte Stimme zu hören, klang sie außerordentlich ruhig.
»Hallo mein Schatz«, seufzte sie fast liebevoll in das Mikrofon. »Wie geht es dir? Wo du jetzt schon eine Woche bei deinem Vater bist.«
»Alles super, Mom. Zu meiner Überraschung ist auch mal nichts passiert, Wahnsinn, oder?«, spaßte ich. Doch mein Scherz kam nicht wirklich gut an.
»Oh Gott, Hiro, sind wir mal froh, dass nichts Schlimmes passiert ist! Ich will solche Aktionen nicht mehr sehen und hören wollen!«
Da war sie wieder. Die besorgte, kreischende Stimme, die die letzten Jahre ständig in meinen Ohren klingelte. Irgendwie vermisste ich das Gezeter ein wenig.
Kiyoshi schlug auf einmal sein Buch zu. Als ich in sein Gesicht blickte, sah er traurig zu Boden. Wahrscheinlich erinnerte er sich an die Momente, in denen wir Abschied voneinander nahmen und dachten, wir würden den jeweils anderen nie wiedersehen. Diese bedrückenden Gefühle hatten ihn schon mehrfach aus dem Schlaf gerissen.
Mich auch, so musste ich mir eingestehen. Nahtoderfahrungen steckten wir nicht einfach so weg, wie es vielleicht Alexander oder Jiro taten. Wobei ich mir ziemlich sicher war, dass auch sie mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen hatten.
»Hiro, bist du noch dran?«, ertönte wieder die Stimme meiner Mutter. Ich löste meinen Blick von Kiyoshi, der sich mittlerweile aufgerappelt hatte und schweigend an mir vorbeigegangen war.
»Ja, klar, sorry. Wie geht es dir denn?«
Da blieb es für einen Moment still.
»… gut?«, kam die fragende Antwort meiner Mutter.
»Klingt ja nicht so überzeugend.«
»Ich wundere mich nur, dass du Interesse an meinem Wohlergehen hast… Immer wieder überraschst du mich aufs Neue.«
Da lachte sie glücklich auf, hielt sogar den Hörer ein Stück von ihren Lippen, damit ich das Gekicher nicht zu laut in meinem Ohr hören musste.
»Ach, Mom. Ich stecke voller interessanter Neuigkeiten«, seufzte ich und lehnte mich auf dem Sofa zurück. In dem Moment kam Kiyoshi mit zwei Gläsern Wasser ins Wohnzimmer und stellte sie auf einem kleinen Tisch neben dem Sofa ab. Als er sich wieder neben mich setzte, holte er sein silbernes Döschen aus der Hosentasche und warf jeweils eine Tablette in das Wasser.
Grinsend betrachtete ich sein Tun. Noch immer war es für mich ein ungewohnter Anblick, Blut anstatt Wasser zu trinken. Doch wann immer mein geliebter Bruder Hand an diese wundervoll grauenhafte Flüssigkeit legte, hinterließ es ein warmes Gefühl und ich erinnerte mich an all die Momente, in denen er mich zum ersten Mal gebissen und verführt hatte.
»Mom?«, fragte ich schließlich, als ich wieder eine längere Pause eingelegt hatte. »Wann kommst du zu uns?«
»Wann ich zu euch komme? Vielleicht über Weihnachten. Da muss ich schauen, ob ich mir frei nehmen kann.«
»Nein«, brummte ich sofort los und verdreht die Augen, obwohl sie mich nicht sehen konnte. Kiyoshi schmunzelte sofort auf. »Wann du hierherziehst. Und das scheußliche Sofa mitnimmst. Vater kann's kaum erwarten dieses grauenvolle Ding in seinem absolut teuer und noblen eingerichteten Wohnzimmer stehen zu sehen«, scherzte ich abermals sarkastisch ins Telefon, was mir nur ein gereiztes Räuspern einhandelte.
»Hiro, darüber haben wir schon gesprochen. Es wird nicht passieren.«
»Wieso nicht? Was ist so schlimm hier?«
Mir fielen gleich zehn Sachen ein, die ich als schlimm empfand, verschwieg sie aber, um meiner Argumentation keine Sandbasis zu bauen.
»Nichts ist schlimm bei deinem Vater. Aber du weißt, wieso ich nicht einfach hier wegziehen kann. Meine Arbeit, die Wohnung…«
»Na, klar, weil du lieber in dieser mickrigen Wohnung wohnst, als in einem halben Schloss.«
»Hiro! Hör jetzt auf!«, schnauzte sie mich recht harsch an und schnaubte sogar etwas Luft gegen den Hörer.
Wieso um alles in der Welt waren denn alle so gemein zu mir? Ich wollte doch nur das Beste für alle!
»Ja, ja… Bleib halt da. Hab ich 'ne Bleibe, wenn ich Jiro besuchen gehe.«
»Ich dachte, der zieht euch nach?«
»Ja! Der will wenigstens in meiner Nähe bleiben«, betonte ich trotzig jedes einzelne Wort. Mom hingegen seufzte abermals entnervt auf.
»Abwarten. Du weißt, dass Jiros Mama nicht wirklich viel Geld hat, um ihrem Sohn eine Wohnung zu finanzieren. Und bei euch ist es nicht gerade billig zu wohnen. Denn mitten auf ein einsames Feld wird er wohl nicht hinziehen wollen.«
Woher sie so gut die Preislage in unserer Wohngegend kannte, fragte ich mal nicht nach. Ich konnte mir meinen Teil bereits denken.
»Ich denke, dass Jiro auch zu Alexander ziehen wird.« Mit diesen Worten nahm ich mein Glas Blut vom Tisch und nippte dran. Kiyoshi hatte sich wieder gemütlich in die Kissen gedrückt und las weiter sein Buch. Immer mal wieder seufzte er leise und rieb sich die Augen.
»Alexander? Etwa dieser schwarzhaarige Mann, mit dem ihr unterwegs wart?«
»Richtig.«
»Aber… er ist ein Vampir.«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass das für die beiden ein Hindernis sein wird? Jiro kommt bisher ganz gut damit klar.«
Doch ehe ich einen zweiten Schluck meines Getränks nehmen konnte, gluckste sie energisch auf.
»Jiro weiß also von der Sache?!«
»Huh? Natürlich! Er war vier Tage mit drei Vampiren alleine! Glaubst du, wir konnten auf der Flucht unsere Nahrung verstecken? Oder Vincents Gründe weiter verschleiern, wo er sie doch so großkotzig durch die Welt getragen hat?«
Als der negativ behaftete Name aus meinem Mund fiel, spürte ich Kiyoshi aufschaudern. Gänsehaut bildete sich auf seinen dünnen Armen, die kreidebleich aus seinem viel zu großen Pulli ragten. Er schaute sofort auf und presste die Lippen aufeinander. Ohne weitere Worte schlug er das Buch zu und kuschelte sich Nähe suchend an meine Schulter.
»Hiro, du kannst mit dieser Sache nicht hausieren gehen, hörst du? Behalte das für dich!«
»Jiro ist mein bester Freund, ok? Er wird die Dinge über mich erfahren dürfen. Und er hat sich nun mal in Alexander verknallt, da kann man ihm doch nicht das Wichtigste verschweigen!«, raunte ich genervt und war schon kurz davor das Gespräch zu beenden. Jeder schnauzte mich an. So langsam wurde es mir zu bunt.
»… er hat sich in ihn verliebt?«, kam es fast tonlos vom anderen Ende. »Bist du dir sicher?«
Vorsichtig zuckte ich die Schultern. Kiyoshi schwieg einfach und drückte sich weiter liebevoll an meinen Arm. »Alle Anzeichen sprechen dafür. Jedenfalls sind sie gute Freunde und -«
»Hiro, verkuppelst du etwa deinen besten Freund mit einem anderen Mann, nur damit er zu dir zieht?!«
In dem Moment schnaubte ich aus, warf das Telefon ohne weitere Worte zu verlieren in Kiyoshis Schoß, der es erschrocken auffing. Man hörte Moms Stimme noch ein paar Mal etwas sagen, bis mein Bruder verwirrt an den Apparat ging.
»Hallo?«, meldete er sich recht zögerlich und sah mir hinterher, wie ich das Wohnzimmer wutentbrannt verließ.
Unverschämtheit, mir so was zu unterstellen. Dabei war es doch so offensichtlich, dass die beiden da ein anderes Spiel spielten!
Doch irgendwie kam da niemand voran. Kiyoshi hielt sich aus dem ganzen Spektakel sowieso so gut es ging raus und war froh, dass ich an seiner Seite war. Ich hingegen sah es immer noch als meine Aufgabe, die beiden Streithähne wenigstens für die nächsten Monate beieinander zu halten, um etwaigen Depressionen vorzubeugen.
Leider hob sich die Laune von Alexander nur gering. Hier und da unterhielt er sich mit uns. Dann wieder einen Tag gar nicht. Er war wie ein Buch mit sieben Siegeln, welches auch noch in einer für mich unbekannten Sprache geschrieben war. Wann immer ich Jiro erwähnte, zuckte er unangenehm zusammen und wich dem Thema aus. Irgendetwas nagte außerordentlich heftig an ihm und alles, was mir dazu einfiel, war Liebeskummer. Kiyoshi dementierte das abermals, sodass ich das Thema auch in seiner Gegenwart für einige Zeit nicht mehr ansprach.
Als Alexander, Kiyoshi und ich nach drei ruhigen, fast beängstigend ruhigen Wochen in der Mittagspause inmitten eines herbstlichen Parks saßen und eine Zigarette rauchten, hörte ich Alexander aufseufzen. Und obwohl ich mir geschworen hatte, ihn nicht mehr über seine Gefühlslage auszuhorchen – da ja eh kaum was als Antwort kam – fragte ich doch nach.
»Alles okay bei dir?«
Doch Alexander schnaubte wie gewohnt nur aus und schob seine Hände resigniert in die Hosentaschen. »Schon.«
»Fehlt dir das Feiern?«, grinste ich ihm entgegen und spähte kurz zu meinem Bruder, der mir noch kein Warnsignal gab. Solange er mir nicht gegen das Schienenbein trat, hatte ich also Spielraum zum Fragen.
»Nicht wirklich«, raunte mir mein Sitznachbar entgegen und zündete sich noch eine Zigarette an. »Bin nur müde.«
»Du bist seit Wochen nur müde. Schläfst du nicht gut?«
Doch anstatt mir zu antworten, blickte er weg und schien die fallenden Blätter interessanter als mich zu finden. Kiyoshi hingegen schnipste seine Zigarette auf den Boden und schmiegte sich genüsslich an mich heran.
»Lass ihn. Ich weiß, wie es ist, nur müde zu sein«, murmelte er in mein Ohr.
»Du hast aber auch einen Grund.«
Nämlich mich.
»Ich habe auch einen Grund«, kam es auf einmal Schroff aus Alexanders Richtung. Seinen Blick hatte er noch immer nicht von den roten Blättern genommen, sodass ich nicht erkennen konnte, ob er wütend oder einfach nur zickig war.
»Nämlich?«, hakte ich neugierig nach. Da kam der Tritt gegen das Schienenbein. Ein böser Blick aus der Richtung meines Bruders folgte. Der "Es geht uns nichts an"-Blick.
»… Vielleicht vermisse ich das Feiern doch ein wenig«, gab Alexander kleinlaut zu. Klang nach einer fetten Lüge, aber ich spielte mit.
»Dann gehen wir doch mal gemeinsam feiern«, schlug ich vor und hob beide Augenbrauen. Das Angebot, mit Alexander sich mal richtig zu betrinken, erschien mir im nächsten Moment als ziemlich marode, da ich bereits den Ausgang des Abends kannte. Kiyoshi würde kotzend in der Ecke liegen, ich neben ihm, Haare haltend, Alexander genervt von allem und zwei Schachteln Zigaretten leichter.
Doch die Augen von meinem Bruder fingen an zu leuchten. Der Moment, in dem er seine "Jugend" nachholen konnte, schien nahezu greifbar.
»Mit euch?«, kam es allerdings nur spöttisch von Alexander. »Ich soll mit euch feiern gehen? Da müsste ich aber schon vorher ziemlich betrunken sein, um mit euch ins Crystals zu gehen.«
»Danke für deine lieben Worte, Alex. Wir müssen ja nicht ins Crystals. Können ja auch woanders hingehen. Bisschen was trinken, muss ja kein Absturz sein«, raunte ich genervt und strich mir durch die Haare. Kiyoshis Augen blinzelten weiterhin angeregt in die Richtung von Alexander. Als würde er ihn drängen zuzustimmen.
»Hm«, brummte Angesprochener los. »Von mir aus… Wir können ja in irgendeine Bar. So viele gibt es hier ja nicht.«
»Oder wir können mal in die Shishabar«, fügte sich Kiyoshi auf einmal mit in das Gespräch ein und lächelte sanft. »Die ist zwar im nächsten Ort, aber die sah ganz gut im Internet aus.«
»So, so. Und wieso googelst du Shishabars, mein Lieber?«, scherzte ich amüsiert und sah grinsend in die Richtung meines Bruders, der genierend auf den Boden schaute.
»Im nächsten Ort? Der ist gute 15 Minuten mit dem Auto entfernt…«, bemängelte Alexander und ahnte bereits, worauf diese Aktion laufen würde. Da er nämlich der Einzige von uns im Besitz eines Autos war, würde er der Fahrer sein. Und da er schon angesprochen hatte, auf Alkohol in unserer Gegenwart nicht verzichten zu können, fiel die Idee damit flach.
»Vater lässt uns bestimmt mal ein Auto ausleihen«, lächelte Kiyoshi weiterhin von seinem Vorschlag überzeugt.
»Never«, brummte ich hingegen dunkel aus. »Vater überlässt uns mit Sicherheit kein Auto. Die sind viel zu teuer. Und er traut meinem Fahrstil nicht.«
»Das ist auch eine gute Entscheidung von eurem Vater«, stimmte Alexander wieder in das Gespräch mit ein und schüttelte den Kopf. »Ich fahr schon. Kann Kiyoshi sich mal zudröhnen.«
»Er soll sich nicht zudröhnen!«
Zwei dunkle Augenbrauen hoben sich schlagartig und verdeutlichten mir mein Unrecht – dass Kiyoshi das auch ohne meine Einwilligung tun würde. »Ich hol euch heute Abend ab.«
»Ich frag Vater«, verkündigte mein Bruder, als hätte das vorherige Gespräch über ihn und die Autos gar nicht stattgefunden, und sprang amüsiert von der Parkbank, auf der wir vorher noch wie drei Penner gesessen hatten. »Er wird sicher mal eine Ausnahme machen.«
»Abwarten…«, murmelte ich und schüttelte innerlich den Kopf. Schön wäre es natürlich mal mit so einer luxuriösen Kiste fahren zu dürfen. Besonders schön wäre es, wenn Alexander sturzbesoffen wäre, damit seine Zunge mal ein bisschen lockerer werden würde und ich an die Infos käme, die ich so sehnsüchtig erwartete.
Kiyoshi lief am frühen Abend nach der Schule sofort in Dads Büro und begann den lieben Sohn raushängen zu lassen. Der sonst so mürrische und genervte Sohnemann wurde auf einmal ein Engel. Schmunzelnd betrachtete ich das Schauspiel vom Türrahmen aus und verschränkte die Arme. Dass mein Bruder sich für seine Zwecke prostituieren konnte, wusste ich bereits. Dass er das indirekt auch bei Vater konnte, wunderte mich jedoch zutiefst.
Allerdings blieb Dad, wie es sich für den guten Vater gehörte, eisern.
»Nein. Ihr fahrt mir nicht mit Alexander von Hofstätt in irgendeine Bar im Nachbarort, um euch volllaufen zu lassen und mein Auto in den nächstliegenden Baum zu fahren.«
Recht hatte er. Aus der Perspektive klang es wirklich nach der typischen Teenie-Nummer.
»Ich setz den Wagen schon nicht gegen einen Baum. Ich trinke ja nichts«, fügte ich als Gegenargument in das Gespräch mit ein, welches bisher nicht sonderlich gut für uns lief.
»Soll Mamoru euch fahren«, sagte Dad ruppig und blätterte weiter in irgendwelchen wichtigen Unterlagen. Sah schwer nach Academy Kram aus. Nach der ganzen Aufklärungsnummer von Vincent war mir auch bewusst, dass Vater kein Privatdetektiv war, sondern der Leiter dieser abstrusen Institution, welche für das Wohl der Menschen ins Leben gerufen wurde.
»Und Alexander?«, hakte Kiyoshi nach. »Den müssten wir dann auch nach Hause bringen.«
»Das macht Mamoru sicher gerne.«
Wie schön Vater über seinen Butler verfügte, als sei er sein Leibeigener.
Ein Seufzen entfuhr meinem Bruder, dessen er eine genervte Geste folgen ließ. Trotzig fielen seine Arme zu Boden. »Bitte, Dad! Wir rufen auch an, wenn wir heil angekommen sind!«
»Nein.«
»Lass gut sein, Kiyoshi, es ist Dad und nicht Mom. Da bringt nörgeln nichts«, ließ ich schmunzelnd in den Raum fallen, um ein wenig die Fronten gegeneinander ausspielen zu lassen. Natürlich würde sie mir auch niemals ihr Auto überlassen. Aber das musste Dad ja erst mal nicht wissen.
»Genau«, kam jedoch nur brummend aus der Richtung des Herrn, der noch immer recht beschäftigt Papiere durchwühlte.
Die "Eltern sind geschieden und man kann sie gegeneinander ausspielen"-Nummer klappte also nicht.
So besonders wie alles immer schien – mit Vampiren, einer geheimen Organisation, einer privaten Eliteschule und einer Gruselvilla mitten im Wald – so waren wir doch einfache Jugendliche, die immer noch ihre Füße unterm Tisch des Hausherrn hatten.
Niedergeschlagen zogen wir von dannen und unterrichteten Mamoru über seine nächtliche Fahrt. Der nahm seinen Auftrag natürlich ohne Beschwerde hin und hielt sich auf unser Kommando bereit.
Als ich Alexander schrieb, dass unser Butler uns fahren würde, verneinte er natürlich das Angebot des Fahrdienstes. Er würde selber fahren.
»Was ein Hin und Her!«, raunte ich auf und verdrehte die Augen. »Wenn ich nicht so schlechte Erfahrungen mit einem Autoklau gemacht hätte, würde ich sagen, wir nehmen uns einfach eins von Dads Autos. Als ob der das merken würde, wenn eins von den Hundert fehlen würde.«
Kiyoshi schmunzelte sofort auf und zwirbelte seine Haare. »Er würde uns hochkant rauschmeißen.«
»Ja… und im Moment kann sich keiner von uns beiden eine Wohnung leisten.«
»Ziehen wir eben alle zu Alexander«, lachte er auf einmal belustigt auf und lehnte sich auf meinem Bett zurück. Die gute Laune stand ihm, auch wenn sie mich immer noch von Zeit zu Zeit verwirrte. Vielleicht war es die Vorfreude auf die Shishabar. Vielleicht auch einfach die allgemein gute Stimmung, die er seit meinem Einzug innehielt.
»Der Arme wird sich bedanken.«
»Und trotzdem würde er es tun…«, murmelte Kiyoshi zwar immer noch lächelnd, aber nachdenklicher in seinen Rollkragen. »Er tut immer nur so böse. Dabei hat er so viel für uns getan.«
»Ja, und alles, was wir ihm auf den Hals setzen ist ein Butler, der ihn mit einem schicken Auto abholt. Wirklich entsetzlich.«
»Mäßige deinen Sarkasmus«, rügte mich mein Bruder schlagartig, als wäre er in die Rolle von Vater geschlüpft. »Es reicht, wenn Alexander den ganzen Tag fließend Ironie spricht.«
»Ja, ja… fang jetzt nicht auch noch an, mich fertig zu machen. Dann sag ich irgendwann gar nichts mehr«, murmelte ich niedergeschlagen und packte meine sieben Sachen in die Hosentaschen.
Mamoru würde uns in ein paar Minuten zu Alexander fahren und ihn abholen. Ich ließ unserem trotzigen Freund einfach keine andere Wahl und schrieb ihm die Uhrzeit, bei der wir an seinem Wohnkomplex stehen würden.
Irgendwie bekam ich das Gefühl nicht los, dass der Abend schief enden würde.
»Da sag ich nichts zu«, murrte Alexander zum wiederholten Mal, während er mit verschränkten Armen im teuren Audi von Dad saß. Mamoru fuhr uns brav in den nächsten Ort, wo er auch versprach uns wieder um Punkt Mitternacht abzuholen. Ich hatte ihn zwar gebeten, öfter mal auf sein Handy zu schauen, da Mitternacht doch recht kurz erschien, jedoch blieb er bei Dads Anweisungen, uns um Mitternacht nach Hause zu bringen.
Als wir im kleinen, gemütlichen Örtchen ankamen, bemerkte ich sofort viele junge Leute, die auf den Straßen unterwegs waren. Kopfsteinpflaster und eine Straßenbahnlinie schmückten die Miniaturinnenstadt.
Mamoru ließ uns noch aussteigen und fuhr dann mit schnellen Reifen wieder heim. Alexander blieb mürrisch auf dem Kopfsteinpflaster stehen und zündete sich sofort eine Zigarette an. »Kann nicht glauben, dass wir gefahren werden… als wären wir gerade mal 15.«
»Sieh es als Service und keine Last an, okay? Ist doch cool, so müssen wir uns keine Gedanken über eine Rückfahrt machen«, beschwichtigte ich den jammernden Kettenraucher und ließ ihn durch die kleine Altstadt vorgehen. Kiyoshi hakte sich bei mir ein und wibbelte immer noch aufgeregt hin und her. Schon während der Autofahrt hatte er immer wieder wie ein kleines Kind aus dem Fenster geblickt. Wahrscheinlich, so vermutete ich, war es für ihn immer noch Neuland abends wegzugehen. Immer im Zimmer zu hocken gefiel ihm also nicht mehr. Jetzt mussten Bars und Clubs herhalten, die ihm Alkohol und Zigaretten boten. Böser, böser Junge.
»Hier sind ganz schön viele junge Leute unterwegs. Mehr als bei uns. Ist eigentlich nett hier«, bewunderte ich das kleine Städtchen, was wirklich Charme ausstrahlte.
»Hier ist die Uni. Studentenstadt eben«, brummte Alexander vor sich hin und näherte sich einem hellblau beleuchteten Haus.
»Echt? Voll cool«, schwärmte ich und sah mich weiter um. Eigentlich wollte ich nicht studieren gehen. Jetzt überlegte ich mir das doch noch mal. Aber nur wegen der Location studieren zu gehen erschien mir doch etwas weit hergeholt.
Als wir vor dem blauen Neonlicht stehen blieben, bewunderte Kiyoshi bereits die bunten Shishas, welche im Schaufenster standen. »So schön…«, säuselte er und fuhr jede einzelne Wasserpfeife mit den Augen ab. Gold, Silber, mit Mosaik oder Lack verziert sahen sie wirklich recht ansehnlich aus. Die von Jiro war einfach schwarz, nichts Besonderes. Mittel zum Zweck eben. Hier schien man also was für sein Geld zu bekommen.
Alexander wartete nicht, bis seine Zigarette zu Ende verglimmt war, trat sie einfach aus und betrat selbstbewusst die volle Bar. Süßlicher Rauch streifte sofort meine Nase und tausend andere Gerüche machten sich breit. In dieser Bar waren fast nur Menschen. Hier und da vernahm ich eine Gruppe von Vampiren, die uns keinerlei Beachtung schenkten, als wir uns in ein gemütliches Hintereck setzten und bereits von einer vollbusigen Dame bedient wurden. Ein leicht arabischer Touch ließ auf südländische Wurzeln schließen.
»Hi«, begrüßte sie eigentlich nur Alexander. Der setzte urplötzlich das charmanteste Lächeln der Welt auf und zeigte seine weißen Zähne.
»Hi«, grüßte er die Dame selbstsicher zurück und bestellte sich einen Cocktail. Nachdem die beiden noch ein wenig Augenflirt betrieben und mir fast schlecht beim Anblick wurde, nahm die Bedienung dann auch unsere Bestellung auf. Zwei Cocktails und eine Shisha mit Apfelgeschmack. Kiyoshi war schon ganz gespannt, ob er Apfel rausschmecken würde. Wie Apfel überhaupt schmecken würde. Und ob es ihm schmecken würde.
»Okay«, begann ich leicht seufzend und drehte mich zu Alexander; gegen die relativ laute Musik anredend. »Die Bedienung ist heute Abend nicht dein Mitternachssnack, ja?«
»Wüsste nicht, was dich das angehen würde«, grinste Alexander mir recht süffisant ins Gesicht. »Ich habe nur bestellt.«
»Is' klar. Nur bestellt. Sie selbst gleich mit, hm?«
»Könntet ihr damit bitte aufhören? Ist ja eklig«, fing Kiyoshi sofort an zu meckern, als er die typischen Männergespräche mitbekam.
»Durch und durch schwul, hm?«, scherzte Alexander und setzte sich ein wenig auf, als die Bedienung mit unseren Getränken und der Shisha kam. Kiyoshi zog entnervt seine Augenbrauen zusammen und schnaubte aus. Da er die Beleidigung unter den Tisch fallen ließ, was sonst nicht seine Art war, ging ich davon aus, dass ein Funken Wahrheit in Alexanders Bemerkung steckte und Kiyoshi sich dessen bewusst war. Liebevoll legte ich einen Arm um die spitzen Schultern, welche sich dankend in meine Kuhle fallen ließen. Während ich mich also an meinen Bruder kuschelte – ganz subtil natürlich – beobachtete ich Alexanders Flirten mit der Bedienung, die ihr Shirt gefühlte 5 Zentimeter weiter runter geschoben hatte, um freie Sicht auf ihre Brüste zu geben. Alexanders schwarzes Hemd legte sich geschmeidig über die trainierte Brust und zeigte die blasse Haut. Sein ebenso schwarzes Jackett untermalte die restlichen Muskeln und die gute Herkunft. Das Lächeln, welches genau wusste, worauf es abzielte, setzte die Kirsche auf die Torte.
So ein Macker, dachte ich. Der weiß ganz genau, wie er auf andere wirkte und kostete es ungeniert aus. Bei Jiro hätte er das nicht nötig… Oder vielleicht mied er gerade deswegen das Thema Jiro. Weil er da nicht wusste, wie er sich in Szene setzen konnte und ihm das unangenehm war. Doch die spitzen Bemerkungen über Homosexualität ließen mich immer wieder über seine Gefühle zu meinem Kumpel zweifeln.
»Danke sehr«, säuselte Alexander, als er die Shisha entgegennahm. Die Frau machte einen kleinen Knicks, schwang ihre langen, braunen Haare nach hinten und ging arschwackelnd wieder zu ihrer Bar.
Augenverdrehend schnappte ich Alexander den Schlauch weg und reichte ihn Kiyoshi.
»Einmal feste Ziehen«, riet ich ihm und lächelte ihn auffordernd an. Ehrfürchtig nahm mein Bruder den Schlauch, setzte das Mundstück an seine Lippe und zog vorsichtig Luft an. Es blubberte leise im Glas der Wasserpfeife, sodass auch Alexander schmunzelnd zu uns herüberblickte. Für ihn sicherlich keine Jungfernfahrt. Der hatte sicherlich schon alles auf dieser Welt geraucht, was rauchbar war.
Nach einigen Sekunden pustete Kiyoshi dann weißen Rauch aus seinen schmalen Lippen. Ein Lächeln folgte.
»Es schmeckt … ganz süß. Süß? Das ist doch süß, oder?«, fragte er sofort schüchtern und hielt mir den Schlauch hin.
Als ich routiniert Rauch zog und sofort den leichten Apfelgeschmack in meinem Mund spürte, seufzte ich erleichtert auf. Was ein Segen, dachte ich. Es war wirklich ein Wunder mal wieder etwas anderes als Blut oder Erde auf der Zunge zu haben.
»Das ist Apfel… oder zumindest der süßliche Geschmack von Äpfeln.«
»Wirklich? Das ist aber lecker«, hob Kiyoshi beide Augenbrauen, rauchte noch ein paar Mal und wurde schließlich nachdenklich. An seinem Blick konnte ich sehen, dass er gerne mal in einen Apfel gebissen und auch den folgenden Geschmack auf den Lippen gehabt hätte. Letztendlich blieb der Rauch das einzige Geschmacksmedium, was uns blieb.
Alexander hingegen nahm das ganze Shishagetue recht salopp hin und zog hier und da ein bisschen Rauch ein. Man merkte ihm an, dass Shisha rauchen für ihn eher Kinderkacke war und er sich nach Stärkerem sehnte. Auch seine perfekten Rauchringe, die er immer dann zur Show stellte, wenn unsere Bedienung an uns vorbei ging, suggerierten Routine.
Am Anfang des Abends war es recht schwer ein Gespräch aufzubauen, da sowohl Alexander als auch Kiyoshi viel zu sehr mit Rauchen beschäftigt waren. Als die Wasserpfeife jedoch zu Ende ging und man keinerlei Tabak mehr schmeckte, fanden auch die beiden ihre Worte wieder, sodass wir über belanglose Themen sprachen. Schule, Uni, Job. So was eben.
»Und du willst nicht studieren?«, hakte mein Bruder nach, als er meine generelle Abneigung zur Weiterbildung vernahm.
»Zumindest wüsste ich nicht was. Und bevor ich irgendwas studiere, mach ich doch lieber eine Ausbildung.«
»Und als was?«, fragte dann auch Alexander belustigt nach – merkbar angeheitert. Sein Hemd war nun zur Hälfte offen und die Flirts mit der Bedienung wurden weniger subtil.
»Weiß nicht… Wo ich so über Geschmack nachdenke… Irgendwas mit Essen. Vielleicht Koch?«
»Du wärst ein ziemlich schlechter Koch, wenn du nichts von dem abschmecken könntest, was du da servierst«, gab Alexander einen berechtigten Einwand.
»Ich dachte da auch mehr in die Chemierichtung. Wieso nicht Essen erfinden, was auch wir essen können?«, sinnierte ich und stellte mir bereits vor, wie ich für meinen Bruder kleine Cupcakes machen könnte, die auch wirklich nach Cupcakes schmecken würden. Tausende Vampire wären mir dankbar.
»Das wäre cool«, kicherte Kiyoshi und lächelte mich aufbauend an, dass er sich seinen Bruder gut in einer Küche vorstellen könnte. Der Gedanke ließ auch mich schmunzeln, wo ich doch generell selten die Wörter "Ich koche" auf mich bezogen hatte.
»Und du?«, lehnte ich mich zu Alexander, der nur die Schultern zuckte.
»Jura.«
Stille trat ein, in der die Musik angenehm spielte. Ich nickte, wenig überrascht.
»Passt.«
»Ist halt so«, brummte der Schwarzhaarige und trank seinen dritten Cocktail aus, während Kiyoshi und ich noch am vollen Zweiten saßen. Streiten und Geld. Die zwei Dinge, die Alexander wohl wirklich am besten beschrieben, wollte er zu seinem Beruf machen. Nur zu, dachte ich, soll er seiner Berufung folgen.
»Ich studier Medizin oder so«, fing Kiyoshi an und grinste mutig in die Runde.
»Findest du nicht, dass das ein eher gefährliches Metier für uns ist? So mit dem ganzen Blut?«, fragte ich zögerlich nach. Nicht, dass ich meinem Bruder ein Medizinstudium nicht gönnen würde. Aber der nachfolgende Beruf würde ihn doch sehr in Mitleidenschaft ziehen, wenn er tagtäglich mit vielen Menschen und vielen Litern Blut zutun hätte.
»Nicht… klassische Medizin. Eher so… Therapeutisch oder so.«
Da lachte Alexander beherzt auf. Doch es war ein spöttisches Lachen.
»Du willst also Klapsendoktor werden?«, lachte unser Nachbar weiter amüsiert auf, ohne dabei Rücksicht auf Kiyoshis verletzten Blick zu nehmen. »Such dir lieber was anderes… Es sei denn, du willst dich selber therapieren.«
»Hey! Ich find's nicht schlecht. Wieso nicht? Ein bisschen Psychologie schadet sicher niemandem«, versuchte ich die Situation um Kiyoshis Berufsziel etwas zu entspannen. Obwohl ich zugeben musste, dass Alexander nicht ganz unrecht hatte. Jemand, der schon öfter versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, manisch-depressiv und an manchen Tagen extrem bipolar erschien, sollte vielleicht nicht unbedingt in ein Berufsfeld eintreten, wo er mit genau solchen Menschen zu tun hatte. Das würde irgendwie wie die Geschichte mit dem Arzt und dem Blut enden, sagte mir mein Gefühl.
»Wir haben ja noch was Zeit…«, murmelte Kiyoshi schließlich recht traurig und trank sein Getränk auf einmal etwas zügiger. Frusttrinken.
Auf einmal vibrierte mein Handy. Ich kramte es aus den Tiefen meiner Hosentasche heraus und sah direkt am Display, wer es war.
»Jiro? Oh, lala. Was möchte er denn so spät noch von mir?«, verkündete ich recht amüsiert und ging ohne weiter nachzudenken ran. »Hallo? Jiro?«
»Hiro?«, brüllte er am anderen Ende mir entgegen. »Wo bist du? Ist voll laut bei dir!«
»Sorry, wir sind in einer Bar! Warte, ich geh kurz raus!«
An Alexanders Blick konnte ich sehen, dass er neugierig auf das Gespräch war. Kiyoshi dagegen trank weiter demotiviert seinen Cocktail.
Mit schnellen Schritten tapste ich an vielen Menschen vorbei und stellte mich zu ein paar Rauchern vor die Bar. Die blaue Neonleuchte strahlte dabei etwas unangenehm in meine Augen.
»Was gibt's? So spät noch wach?«, fragte ich erheitert. Erst jetzt merkte ich den Alkohol in meinem Kopf. Die Straße begann sich leicht zu bewegen. Nach nur einem Cocktail? Aber ja… keine Blutzirkulation bedeutete eben auch schnelleren Suff.
»Ich bin auch noch mit Lampe und Co weg…«, kicherte er ebenfalls etwas angeheitert in mein Ohr. »Dachte, ich meld mich mal, wo die alle schon betrunken am Tanzen sind.«
»Ach und du bist nicht betrunken?«
»Nicht so… Mein Saufpartner fehlt mir.«
»Ach, Jiro…«, seufzte ich traurig, doch gleichzeitig erheitert ins Telefon. »Komm vorbei… Echt jetzt, es ist super schön hier. Wir sind gerade in einer Studentenstadt in einem anderen Ort. Das würde dir gefallen!«
»Glaube ich…«, murmelte Jiro traurig und ließ einen Seufzer fallen. Trotzdem wussten wir beide, dass ein kurzfristiger Urlaub im Norden nicht gehen würde. »Wer ist denn alles dabei?«
»Die üblichen Verdächtigen. Alexander und Kiyoshi.«
»Cool. Grüß die beiden mal von mir!«
»Mach ich doch glatt. Trink nicht so viel, ok? Nicht, dass du heute Abend noch mehr Suffanrufe tätigst…«, warnte ich meinen Freund witzelnd vor; doch ich schoss mal wieder ein Eigentor.
»Das wird nicht passieren, keine Angst. Dich habe ich ja jetzt angerufen«, kam es ein wenig schroff vom anderen Ende und ich wusste, dass er meine Andeutung verstanden und erfolgreich abgewehrt hatte.
»Schon klar… Wollte auch nicht wieder auf Alex anspielen. Der flirtet recht gekonnt mit der Bedienung. Geht uns ein wenig auf den Sack, wie er sie so vor versammelter Mannschaft mit Worten auszieht.«
Jiro schwieg für einen Moment. Schließlich räusperte er sich und klang wesentlich ernster als zuvor. »Aha. Na, soll er mal tun. Scheint ja ein Händchen für Frauen zu haben.«
»Hm, ja. Wobei ich mir wünschen würde, er würde es wenigstens in unserer Gegenwart mit dem rumvögeln lassen.«
»Er nagelt sie doch nicht vor eurer Nase«, seufzte Jiro los, als wäre ihm das Thema unangenehm.
»Nein, das nicht. Abwarten… wohin das noch laufen wird.«
»Viel Spaß euch auf jeden Fall. Denk an die Grüße.«
Und auf einmal endete das Gespräch recht schnell. Wohl doch einen wunden Punkt getroffen, hm?
Als ich auflegte, keimte in mir das schlechte Gewissen hoch. Ich wollte keinen Keil zwischen den beiden treiben und Alexander nicht als Playboy darstellen, während die beiden im Grunde nacheinander schmachteten. Kopfzerbrechend betrat ich also wieder nach wenigen Minuten die Bar und sah Kiyoshi und Alexander bereits zwei Shots trinken. Der Absturz war vorprogrammiert.
»Okay…? Besaufen wir uns also doch noch?«, fragte ich etwas verstört über den Stimmungswechsel und setzte mich wieder zwischen Alexander und Kiyoshi.
»Wir besaufen uns doch nicht«, kam es zugegeben recht nüchtern von Alexander, der die zwei leeren Shotgläser an den Rand des Tisches schob. Doch Kiyoshi blieb still und ließ nichts auf sein Gemüt schließen. Die Sache mit der Psychonummer lag ihm wohl noch im Kopf. Mein Bruder konnte nicht mit ehrlichen Meinungen umgehen, weswegen ich mir sicher war, dass das auch mitunter ein Grund für Alexanders und Kiyoshis bisher zugegeben recht mageren Kontakt gewesen sein könnte.
Als die Bedienung wieder einmal zu uns kam, stellte sie ungefragt weitere Shots auf den Tisch. Alexander hatte ihr wohl schon zugezwinkert, dass er es heute noch krachen lassen würde. Etwas angeekelt nahm ich den Schnaps und trank ihn.
Er schmeckte nicht und mir wurde schlecht.
Kiyoshi saß ebenfalls abwesend in der Ecke des Sofas und fixierte seine dünnen Finger. Niedergeschlagen und irgendwie nicht mehr in Feierstimmung. Die gute Laune vom Anfang des Abends schien verflogen.
Nur Alexander flirtete wie ein Weltmeister und ließ sich nicht von unserer schlechten Laune anstecken. Der Frau schien das mehr als zu gefallen, sodass sie sogar an unserem Tisch stehen blieb, um sich weiter mit unserem Freund zu unterhalten. Ich ließ das ganze Spektakel einfach geschehen, versuchte Kiyoshi ein wenig zu trösten, indem ich seinen Arm streichelte.
Doch nach nur wenigen Minuten, in denen ich mal wieder zu den beiden Täubchen blickte, kicherte die Frau anzüglich los, da Alexander ihre Hand gefasst hatte. Als sie sich auch noch auf seine Sofalehne setzte und süffisant in seine Richtung grinste, während er ihr an die nackten Beine ging, wurde es mir zu bunt.
»Alexander, wir gehen jetzt«, informierte ich ihn über den Aufbruch. Doch er reagierte nicht. Entweder hatte er mich nicht gehört oder er wollte mich nicht hören.
Zwar hatte ich Mamoru bereits eine SMS geschrieben, dass er uns lieber um 1 oder 2 abholen sollte, trotzdem wollte ich die Bar verlassen. Das Schauspiel wollte ich mir nun wirklich nicht geben.
Kiyoshi stand wortkarg auf, nahm meine Hand und stellte sich aufbruchbereit neben den Tisch. Alexander sah schließlich neugierig zu uns auf.
»Wo geht ihr hin?«
»Nach Hause. Und du kommst mit«, befahl ich recht schroff, merkte den Alkohol in den Knochen, wie er mich wanken ließ.
»Haha, danke, ich bleibe noch«, schmunzelte er sofort und streichelte weiter über die Beine der Bedienung, die zugegeben recht deutlich signalisierte, welche Schritte sie noch bereit war zu gehen.
»Alexander!«, mahnte ich ihn erneut, griff nach seinem Arm und zerrte ihn unsanft vom Sofa. Sofort verknitterte sich seine Mimik und er entriss mir den Arm.
»Chill! Nicht jeder will seinen Bruder nageln, ok?«
»He, du musst jetzt nicht wieder ausfällig werden, nur weil du deine wöchentliche schnelle Nummer noch nicht hattest!«, giftete ich zurück und bäumte mich vor ihm auf. Alexander tat es mir gleich und stand direkt vor mir, sodass sich unsere Brust fast berührte.
»Geht dich einen feuchten Dreck an, mit wem ich ins Bett springe und mit wem nicht. Also mach die Fliege, wenn du keinen Bock mehr hast. Ich muss da nicht mitziehen.«
»Wenn du meinst, Playboy«, gab ich schließlich schnippig zurück und packte den wohl unangebrachtesten Kommentar des Abends aus meinem betrunkenen Gehirn: »Du hast Jiro eh nicht verdient. Also fick dir die Eicheln bei irgendwelchen Frauen wund.«
Mit diesen Worten verließen Kiyoshi und ich die Bar.
Und ich spürte nur einen verwirrten, wenn auch wütenden Blick in meinem Nacken. Als ich mich umdrehte, sah ich Alexander zwischen den Menschen stehen, die Bedienung an seinem Arm.
Ob ihn meine Worte überhaupt irgendwo berührt hatten? Seinem Tun zu urteilen wohl eher nicht, da er schlagartig wieder die Griffel am Hintern der Frau hatte.
Wie auch immer es zwischen den beiden laufen würde, Kiyoshi und ich würden da nicht mitmachen. Ich wollte einfach nur nach Hause, meinen Bruder trösten und nicht daran denken, dass Alexander meinem Kumpel fremdging. Es war kein fremdgehen im klassischen Sinne, trotzdem fühlte es sich so an.
Mamoru stand bereits am Platz, wo er uns abgeliefert hatte. Brav hatte er dort seit Mitternacht gewartet, da er uns nicht in der Kälte warten lassen wollen würde, falls es doch später geworden wäre. Ein wirklich netter Service, den er uns dort bot.
Zwar fragte er kurz angebunden nach Alexander, ob er noch käme, doch ich verneinte. Kiyoshi lehnte bereits halb schlafend in meinen Armen, sodass er auch während der Fahrt nichts mehr sagte, sondern nur wegdöste.
Alexander würde schon irgendwie nach Hause kommen. Oder eben nicht. Hatte sich ja eine Dame angelacht, die ihn sicher gerne zu sich nach Hause einladen würde. Und seine Worte, dass wir verschwinden sollten, waren eindeutig gewesen.
*
»Was war das denn?«, fragte die vollbusige Bedienung. »Waren deine Freunde schlecht drauf?«
»Anscheinend«, knirschte der schwarzhaarige Vampir durch seine Zähne.
Hatte Hiro das wirklich ernst gemeint? Wie konnte er nur so mit ihm herumspringen?
»Wann hast du Schichtende?«, erkundigte sich Alexander sofort bei seinem Flirt. Die Frau kicherte belustigt auf und tastete seine muskulösen Arme ab.
»Erst in ein paar Stunden…«
»Mh«, brummte der Mann los und sah sich um. »Und wenn wir… kurz nach hinten verschwinden?«
Da kam es wieder heraus; ganz unbewusst. Dieses Lächeln, welches jede Frau bisher zum schmelzen gebracht hatte. Das perfekte Lächeln des perfekten Mannes, der bisher alles bekommen hatte, was er wollte.
So überraschte ihn auch dieses Mal die Situation nicht. Die Bedienung nickte energisch, legte ihr Tablett und ihre Schürze hinter der Bar ab und nahm Alexander an die Hand. Recht betrunken folgte er ihr wankend in ein Hinterstübchen. Eine Art Abstellkammer tat sich vor ihm auf. Leere Farbdosen, irgendwelches Geschirr und andere belanglose Gegenstände türmten sich vor ihm.
Die Dame schloss schnell hinter sich die Tür und zog ihren Ausschnitt schließlich unter die Brüste, sodass Alexander freie Sicht auf ihren BH hatte. Schwarz mit Spitze. Wirklich nett, dachte der Vampir und fuhr mit seinen Händen über die weiche Haut.
Er zitterte ein wenig. War es die Aufregung? Wovor? Das hier war doch ein Routineeingriff. Frauen in irgendwelchen Abstellkammern vögeln lag ihm doch im Blut.
Als die Frau zu einem Kuss ansetzte, wich Alexander jedoch aus. »Lieber nicht… ich schmecke und rieche sicherlich nicht gut«, scherzte er, wobei seine Intentionen klar an der Front lagen. Er wollte diese Frau nicht küssen. Nach Liebe und Zärtlichkeit war ihm nicht. Sex sollte reichen.
Sich die Eicheln wund ficken.
Schultern zuckend tat die Bedienung die Abfuhr ab und drehte sich um, nachdem sie ihren Rock hochgezogen hatte. »Dann machen wir es eben auf die schnelle Tour. Mein Chef soll eh nix mitbekommen«, säuselte sie, als hätte sie selber schon ein paar Shots zu viel getrunken.
Ohne weiter zu zögern fuhr Alexander mit den Händen über die weichen Pobacken der Frau, um ihr Höschen zur Seite zu schieben. Vorsichtig fuhr er mit der Nase über ihren Nacken. Sie roch ganz angenehm, wobei ein leichter Schweißgeruch in seine Nase drang. Menschen hatten diese Eigenart, die ihm nicht sonderlich gefiel.
Doch alles, was ihm ins Gedächtnis schoss, war der Moment, wo der lausige Punk seine Lederjacke ausgezogen hatte. Unter dieser Plane auf dem Truck, in der es gefühlte 40 Grad geherrscht haben muss. Wie sein Shirt Schweißflecken gezeigt hatte. Wie er sich über Alexanders starrenden Blick beschwert hatte. Wie angestrengt seine Brust auf und ab ging, während einzelne Tropfen sich ihren Weg in das Langarmshirt bahnten. Wie gerne der Vampir die schweißbenetzte Haut angefasst hätte, um zu erfahren, ob die Haut des Punks genauso glatt und feucht gewesen wäre, wie bei solchen Frauen.
Schnell wurde Alexander wieder in die Wirklichkeit gezogen, als die Dame vor ihm ein Kondom aus einer Schublade kramte. Hier wurden wohl öfter Typen hergeholt, sonst hätte keine Bar-Abstellkammer der Welt Kondome in einer Schublade. Mit flinken Fingern öffnete sie Alexanders Hose und holte sein erregiertes Glied heraus. Als sie grinste und ehrfürchtig die Eichel küsste, seufzte Alexander genüsslich aus.
»Soll ich dir einen blasen?«, fragte die Frau recht forsch, während sie bereits mit ihrer Hand am Schaft des Vampirs zugange war.
»Wieso nicht?«, säuselte er bereits in Ekstase und schloss für einen Moment die Augen. Erst, als der warme, fast heiße Mund sich um sein Glied schloss, riss er die Augen auf.
»Was ist?«, fragte die Bedienung, als sie ein Zucken wahrnahm. »Habe ich dich erschreckt?« Ein Kichern folgte, dessen Alexander nichts erwidern konnte. »Wundere dich nicht… Das tut nicht weh. Den meisten gefällt es«, grinste sie schließlich süffisant in Alexanders überfahrenes Gesicht.
Wieder umschlangen ihre Lippen sein Geschlecht. Sofort spürte er das Stück Metall an seinen Adern.
Waren das noch Zufälle? Wie konnte das sein? In all den Jahren, in denen er Frauen verführt, abgeschleppt und gefickt hatte, war ihm noch kein Zungenpiercing untergekommen. Und genau jetzt, wo ihm die Sache mit dem Punk noch in Mark und Knochen lag, musste er sich gleich zwei Frauen hintereinander mit Piercings rausfischen?
Es war wunderbar angenehm und je schneller die Bewegungen der Dame wurden, desto großer wurde die Lust in ihm. Seit langem spürte er wieder einen Höhepunkt kommen. Die vielen Male unter der Dusche dienten lediglich dem Druckabbau; da war wenig Lust mit verbunden gewesen. Aber hier, so war sich der Vampir sicher, würde er mal wieder abschalten können.
Die Frau gab ihr Bestes, streifte immer wieder mit ihrem Zungenpiercing über Alexanders Eichel, was ihn aufstöhnen ließ.
Doch ständig kämpfte er mit den Gedanken, dass das Piercing nicht ihr, sondern ihm gehört. Wie er devot vor ihm knien würde, seinen Schwanz im Mund hätte und es ihm besorgen würde. Eine Leine, welche am streng sitzenden Halsband befestigt wäre, würde er in der Hand halten und den Punk zwingen, sein strammes Glied bis in den Rachen zu nehmen. Er würde gnadenlos mit ihm umgehen. Das freche Mundwerk stopfen. Ihn zu seinem Sklaven machen.
»Hm«, brummte die Frau gegen Alexanders Geschlecht, bis sie schließlich wieder aufstand und den Akt abrupt beendete. »Mir tut der Mund weh… Fick mich doch lieber.«
Ihr Lächeln war lieb gemeint, lud Alexander eigentlich zum Akt der Liebe ein, doch auf einmal ebbte wieder jegliche Lust in ihm ab, als er nicht das Gesicht des Mannes, den er so erotisch in seinen Fantasien als Haustier hielt, erkannte, sondern die Bedienung.
»Ach…«, säuselte er betrunken los und fuhr sich über sein vom Alkohol taubes Gesicht. »Wir sind schon echt lange hier drin. Ich glaube, gerade hat sogar jemand gegen die Tür geklopft. Mach mal lieber klar, dass dich dein Chef nicht erwischt. Dann können wir gerne weitergehen…«
Die Augen der Frau weiteten sich, als sie Alexanders Worte hörte. Schnell zog sie ihren Rock wieder runter, das Shirt hoch, sperrte die Tür auf und blickte verstohlen raus. Sofort erspähte sie einen ihrer Kollegen, lief auf ihn zu und bequatschte ihn. Sicherlich die Bitte, den Chef für ein paar Minuten auf Abstand zu halten, nachdem Alexander sie so klug angelogen hatte, um sich aus dem Staub machen zu können.
Mit schnellen Schritten verließ der Vampir die Abstellkammer, zog sich im Gehen noch die Hose wieder richtig an und steuerte Richtung Ausgang. Seine Erregung ebbte mit jedem Schritt ab.
So endete der Abend also abermals mit einer Niete für ihn.
Als er die frische Luft um seiner Nase spürte, wurde ihm schlagartig schlecht. Er lief noch einige Meter die Stadt entlang, bis er sich an einen Bordstein setzen musste. Er wollte sich nicht übergeben, weswegen er sich schnell eine Zigarette anzündete, um auf andere Gedanken zu kommen.
Doch das Nikotin stimmte ihn melancholisch, ließ ihn traurig in die Nacht hineinblicken. Er fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren wieder einsam. Schon einmal, da war er vielleicht 15 oder 16 gewesen, hatte er sich allein gelassen gefühlt. Damals kamen zum ersten Mal die Gedanken an seine verstorbenen Eltern hoch und ließen ihn die Nacht durchweinen. Nach diesem Erlebnis schwor der Vampir stark zu bleiben. Solchen Gefühlen die Stirn zu bieten und nicht nachzugeben. Er war Herr über solche Dinge und wollte nicht in einem Sumpf der Depression versinken; wegen Nichts und wieder Nichts. Wegen Belanglosigkeiten, die er eh nicht ändern konnte.
Und genau in dieser stillen, kalten Nacht, wo er alleine am Bordstein saß, rauchte und betrunken in den Himmel sah, wünschte er sich nichts sehnlicher als eine wärmende Hand an seiner Seite. Als dann auch noch die erste Träne über seine Wange rollte, musste er verzweifelt auflachen. Niemand war um ihn herum. Also ließ er sich in seinen Gefühlen fallen.
Wie erbärmlich, dachte der Vampir und strich sich abermals über die nassen Augen. Wie erbärmlich er hier aussehen musste; wie ein Penner, der kein Zuhause hatte.
In der Tat war er sich nicht sicher, wie er nach Hause kommen würde. Der letzte Bus war bereits abgefahren und zum Laufen war es zu weit. Doch was blieb ihm anderes übrig? Er hatte die Zwillinge weggeschickt, die würden ihn nicht abholen kommen.
Vielleicht sollte er die beiden netter behandeln, wo sie ihm doch immer wieder die Freundschaft anboten. Vielleicht würde er dann nicht mehr so alleine in Nächten wie diesen an einem Bordstein sitzen und über das Leben sinnieren.
Vielleicht, aber nur vielleicht, würde Hiro dann seine Meinung über ihn revidieren und er könne sich den Mann seiner Fantasien verdienen.
Auch wenn Alexander der festen Überzeugung war, dass das alles ein reines Hirngespinst war, da Jiro immer noch alles verkörperte, was er nicht leiden konnte.
Doch genau deswegen wollte er ihn bei sich haben. Ihn biegen. Ihn brechen. Ihn für seine Machenschaften benutzen und ihm dabei immer wieder ins Ohr flüstern, wie sehr er ihn ins Herz geschlossen hatte.
Das Wochenende verlief soweit recht ruhig, musste ich gestehen. Fast vermisste ich den Aufruhr der ersten zwei Wochen der Ferien, wo mein Leben einmal komplett umgekrempelt wurde.
Gelangweilt lag ich im Bett, Kiyoshi in meinem Arm. Es war Montagmorgen, der sowieso verhasste Tag der Woche, weswegen sich meine Laune nicht sonderlich heben ließ. Auch die Tatsache, dass mein Bruder nackt neben mir lag und noch still schlief, stimmte mich nicht besser. Zwar war ich um jede Nacht dankbar, in der Vater nicht hereingestürmt kam, um uns zu trennen, trotzdem war ich mir sicher, dass dieser Tag einmal kommen würde. Jeder schwieg das Thema in diesem Haus tot. Dass mein Bruder jede Nacht in meinem anstatt in seinem eigenen Zimmer schlief, wurde auch seither nicht mit auch nur einem Wort erwähnt.
Wahrscheinlich waren unsere Eltern einfach nur froh, uns lebend bei sich zu haben. Inzucht hin oder her; war ja sowieso nur eine Phase, aus der Kiyoshi und ich wieder rauswachsen würden.
Doch als ich auf die langen, weißen Wimpern blickte, die vorsichtig zuckten und schließlich aufsprangen, war ich mir sicher, dass diese Phase noch sehr, sehr, sehr lange anhalten würde.
»Hiro?«, murmelte Kiyoshi leise und streichelte über meine Wangen. »Du bist ja schon wach…«
»Aber auch erst seit ein paar Minuten«, flüsterte ich leise in den abgedunkelten Raum. Leichte Sonnenstrahlen schienen durch die Rollläden und ließen auf einen wieder wunderschönen Herbsttag schließen.
Mein Bruder rollte sich liebevoll auf meinen Körper und küsst meine Brust. Er kicherte sogar auf, als ich ihn ein wenig kitzelte. Gott sei Dank hatte er wieder etwas zugenommen. Seitdem ich mit ihm im Norden lebte, zwang ich ihn Menschenessen mit Bluttabletten zu essen. Das gab ihm Kraft und ein bisschen Speck um die Hüften. Besonders um seinen Hintern, dessen ich mich nicht beschweren wollte. Ganz im Gegenteil: es gefiel mir wahnsinnig.
Als wir nach einer gemeinsamen, erfrischenden Dusche das Schultor erreichten, erspähte ich Alexander mit seinen komischen Freunden im Raucherbereich stehen. Natürlich am Rauchen.
»Schau mal, wen wir da haben«, murrte ich in meinen dunkelroten Schal. Kiyoshi zuckte nur mit den Schultern.
»Ich will heute nicht mit ihm reden…«, murmelte er.
»Wieso nicht? Bist du noch sauer auf ihn wegen der Psychologengeschichte?«
»…ja.«
Sofort blieben wir vor dem Eingang stehen, wo mein Bruder sich von meiner Hand löste. »Du kannst ja mit ihm reden, aber ich geh schon mal rein. Kat und Ichiru sind bestimmt schon da.«
»Verstehe…«, seufzte ich und kratzte mich im Nacken. »Dann bis gleich.«
Mit diesen Worten verschwand Kiyoshi im Schulgebäude. Mehrere Schüler um mich herum gafften in dem Moment neugierig rüber, als wäre meine bessere Hälfte abhandengekommen.
Ohne weiter über Kiyoshis noch immer zickiges Verhalten nachzudenken, gesellte ich mich zu Alexander und seinen Leuten. Rose und Sam sahen dabei überrascht in meine Richtung.
»Guten Morgen, Playboy«, konnte ich mir den giftigen Kommentar nicht verkneifen. Doch anstatt mich anzuschnauzen, sahen mich zwei matte Augen an.
»Morgen.«
Schnell drehte sich Alexander wieder zu den anderen, trat jedoch einen kleinen Schritt zurück, sodass ich mit im Pulk stehen konnte. Hastig rauchte er seine Zigarette auf, nur um sich eine Neue anzuzünden.
»Kommt es mir nur so vor oder rauchst du wirklich mehr als sonst?«, fragte ich scheinheilig und beobachtete Alexanders Tun.
»Vielleicht.«
»Alex ist schlecht drauf«, kicherte Sam los und spielte mit ihrem Kaugummi. Angewidert betrachtete ich ihre Finger, wie sie das rosa Gummi um ihre Lippen spannte.
»Das ist ja soweit nichts Neues«, murmelte ich und stellte mich vor Alexander, sodass er gezwungen war, mich anzusehen. Dabei kam ich ihm recht nah, um die anderen nicht mitlauschen zu lassen. »Du sagst, wenn was nicht stimmt, okay?«
»Es ist aber nichts. Und wenn, wüsste nicht, was dich das angehen würde…«, säuselte Alexander recht lustlos in seine welligen Haare. Sie waren nicht gemacht, wahrscheinlich nicht mal gekämmt. Sowieso roch er nicht nach Parfüm oder Aftershave. Nur ein leichter Hauch Shampoo streifte meine Nase.
»Klar«, war alles, was ich dazu noch sagen konnte und ließ Alexander wieder mit seinen tollen Freunden alleine. Wer nicht will, der hat schon. Nach der Baraktion hatte ich Alexander sowieso etwas gefressen.
Auch wenn wir in der einen Woche voller Angst und Furcht so gut miteinander auskamen, hieß es noch lange nicht, dass wir beste Freunde werden würden. Denn genau das ließ mich Alexander tagtäglich spüren. Dass er kein Interesse an einer tieferen Beziehung zu uns pflegte.
»Warte.«
Alexander warf den Zigarettenstummel auf den Boden, obwohl neben ihm ein Ascher stand, kam auf mich zu und steckte seine Hände in die Jackentaschen.
»Vielleicht können wir in der Pause reden?«
Und als hätte sich die Welt für einen Moment aufgehört zu drehen, sah ich in entschuldigende, große, kugelige blaue Augen.
»Selbstverständlich… Sag einfach Bescheid.« Ein vorsichtiges Lächeln kam über meine Lippen.
Kiyoshi blieb eisern und wollte auch in der Mittagspause nicht mit Alexander reden. Deswegen entschied er sich für ein anderes Café, als üblich, sodass ich gezwungen war, mich auf halben Wege von den anderen zu verabschieden.
»Wieso hängst du so an ihm?«, raunte mich Kiyoshi von der Seite an, als ich die große Allee zum Café gehen wollte.
»Weil er im Moment Probleme hat. Und ich habe dir doch erzählt, dass er auf mich zugekommen ist, um zu reden. Er auf mich! Nicht umgekehrt! Da kann ich ihn jetzt nicht hängen lassen.«
»Ja, ja. Schon verstanden…«, winkte mein Bruder genervt ab und schlug den Weg ein, auf dem sich bereits Kat und die anderen befanden. Ob Kiyoshi das irgendwann verstehen würde? Ich merkte recht deutlich, dass er mich nicht teilen wollte. Aber es war ja auch nicht so, als würde ich mit Alexander ins Bett springen und Kiyoshi komplett vernachlässigen.
Bei dem Gedanken schauderte es mir beachtlich über den Rücken.
Als ich das Café erreichte, sah ich Alexander bereits auf einer Mauer sitzen, die die Fahrbahn vom Bürgersteig trennte. Ausnahmsweise war er mal nicht am Rauchen.
»Sorry die Verspätung«, begrüßte ich ihn und ging gemütlich auf ihn zu. Alexander blickte auf, nickte nur und sprang von der Mauer. »Schon okay. Gehen wir rein.«
»Gerne.«
Vielleicht war es sogar gut gewesen, dass die anderen nicht dabei waren. Denn so konnten wir uns gemütlich in eine Ecke setzen, in der wir uns gut unterhalten konnten. Und an Alexanders Gemüt konnte ich schon merken, dass das Gespräch ein Ernsteres werden würde. Ich stellte mich schon mal auf eine lange Therapiesitzung ein.
Als wir beide mit Kaffee bewaffnet auf den weichen Sesseln saßen, rührte Alexander still in der Tasse. Ich wartete einige Minuten, doch es kam nichts. Bis ich schließlich das Wort ergriff.
»Und? Du wolltest mit mir reden… Worüber denn?«
Abrupt hörte Alexander auf in seinem Kaffee zu rühren, legte den Löffel schließlich neben der Tasse ab und seufzte langgezogen.
»Hiro, versprich mir, dass das unter uns bleibt. Und damit meine ich auch Kiyoshi.«
»Kein Kiyoshi, verstehe.«
Also ging es wohl um was Privates. Für einen Moment fühlte ich mich geehrt von Alexander ausgewählt worden zu sein, seinen Therapeuten spielen zu dürfen. Dabei war das doch Kiyoshis Berufswunsch, nicht meiner.
»Auch nicht Jiro. Besonders nicht Jiro«, zischte mir mein Gesprächspartner auf einmal unbegründet entgegen.
»Schon klar, Alex. Nur wir beide. Nichts kommt über meine Lippen«, versprach ich ihm mit einem Grinsen im Gesicht mein Schweigen. »Also? Schieß los. Ich bin schon ganz Ohr.«
Doch meine forsche Art ließ den sonst so selbstbewussten Vampir ganz klein werden. Genierend nippte er an seinem Kaffee, setzte ihn ab, nippte wieder am Milchschaum, bis er sich schließlich räusperte und nach Worten suchte.
»Also… Freitag, da…«
Doch mehr kam nicht. Wahrscheinlich wusste er nicht ganz, wo er anfangen sollte, also half ich ihm auf die Sprünge.
»Bist du denn bei der Dame geblieben? Oder haste dir eine andere gesucht?« Mein Lächeln sollte aufbauend wirken, erreichte wohl doch das Gegenteil. Alexander sah wieder in seinen Latte Macchiato.
»Weder noch.«
»Huh? Wie? Ich dachte, da war voll was am laufen?«
»Nein, ich habe sie abserviert. War nix.«
»Aha… und wie bist du nach Hause gekommen?«
»Gelaufen.«
»Du bist den ganzen Weg gelaufen?! Wie lange warst du unterwegs?«, platzte es aus mir heraus.
»Eine Stunde«, murmelte er, schniefte kurz auf, als würde ihm die Nase laufen, und sah endlich von seinem Kaffee auf. »In denen ich gut nachdenken konnte.«
»Nachdenken? … worüber?«
Blaue Augen drifteten wieder zur Seite. »Weiß nicht. Über alles, was so passiert ist. Mit euch, mit Vincent. Was ich vom Leben erwarte und wohin es eigentlich gehen soll.«
»… und? Bist du zu einem Ergebnis gekommen?«, hakte ich vorsichtig nach und blinzelte ein paar Mal. Kaum zu glauben, dass Alexander von Hofstätt mal den Mund über Gefühle aufmachte. Doch es fiel ihm sichtlich schwer über innere Werte zu sprechen, das sah ich ihm an. Sein Rumstottern und nach Worten suchen, die doch nichts Explizites von sich gaben, unterstrichen meine Vermutung enorm.
»Ja, schon«, sagte er auf einmal selbstbewusst in unsere Runde, setzte die Tasse Kaffee ab und zog scharf die Luft ein. »Ich kann meinen bisherigen Lebensstil nicht mehr so weiterführen.«
»Das ist ja schon mal was«, nickte ich zustimmend und verschränkte auf dem Tisch die Arme. »Dein Körper wird es dir danken. Auch wenn wir als Vampire sicherlich keine großen Schäden davontragen können.«
»Darum geht es mir gar nicht.«
Hellhörig hob ich beide Augenbrauen. »Sondern?«
Wieder holte Alexander tief Luft und räusperte sich. »Hiro… früher habe ich viele Frauen verführt und war damit zufrieden«, begann er, wurde jedoch von mir unterbrochen.
»Früher? Alex, Freitag war das letzte Mal. Was ist bei dir "früher"?«
»Ich habe es ja nicht getan!«, schnauzte mich mein Freund an. »Es ging ja nicht! Ich konnte einfach nicht! Und genauso auch die letzten Male, bei denen ich eigentlich mit einer Frau schlafen wollte.«
»Und was hat dich aufgehalten?«
Alexanders Blick wanderte wieder auf den Tisch. Ich wusste schon, wieso Therapeut nichts für mich gewesen wäre: ich hatte einfach keine Geduld. Sicherlich war es für Alexander schwer Dinge auszusprechen, die er sonst nicht aussprach, trotzdem hatte ich dafür keine Zeit und keine Muße. Soll er doch einfach sagen, was ihm auf dem Herzen lag!
»Gedanken. Erinnerungen. All das eben…«, murmelte Alexander wieder weniger wütend in seine Handfläche, die sein Kinn stützte.
»Das geht vorbei, denke ich. Kiyoshi und ich denken auch noch oft an die vergangenen Wochen. Was da passiert ist kann man nicht so einfach wegstecken. Nahtoderfahrungen macht ja nicht jeder…«, versuchte ich Alexander zu beschwichtigen, lächelte ihn sogar aufmunternd an, erhielt jedoch nur einen verletzten Blick.
»Echt jetzt, Hiro? Du belaberst mich seit Wochen mit nur einem Thema und jetzt, wo ich genau darüber reden will, umgehst du es, als wäre es Pest und Cholera zusammen.«
Für einen Moment trat Stille um uns ein. Einige Weiber bestellten so laut ihre Getränke, dass ich mit meiner Antwort gezwungen war zu warten. Das gab mir Zeit über Alexanders Worte nachzudenken.
Und es erhellte nicht nur meinen Kopf, sondern auch mein Herz, als die Erleuchtung kam.
»Jiro?«, sprach ich den Namen aus, um den es wohl die ganze Zeit schon gehen sollte. »Jiro hält dich ab mit anderen Frauen zu schlafen?«
Alexander sah peinlich berührt zur Seite. Natürlich immer noch voller Stolz und nicht minder wütend im Gesichtsausdruck wie sonst auch. »Nicht verbal. Ich bin selber schuld daran, dass…«
Wieder einmal stockte mein Gesprächspartner. Und alles, was mir dazu einfiel war: endlich. Endlich, endlich, endlich!
Und ich hatte so was von Recht! Mit allem!
Auf einmal klärte sich der graue Himmel und ließ mich aufatmen.
»Hast du dich also doch in ihn verliebt?«, fragte ich grinsend und handelte mir sofort einen schnippigen Blick ein.
»Sag das nicht so, als wären wir alle noch Teenager! Ich weiß nicht, was das ist und wie das passieren konnte…« Unsicher und fast hektisch ging er das Café mit seinem Blick ab. »Deswegen wollte ich mit dir reden. Du bist der einzige, der uns beide gut genug kennt, um das beurteilen zu können.«
»Du willst also meine Meinung zu euch beiden hören?«
Es dauerte einen Moment, bis Alexander nickte.
»Ruf ihn an«, begann ich, tippte dabei mit dem Zeigefinger auf der Tischplatte und sah meinen Gegenüber streng an, »sag ihm, dass du ihn vermisst, dass er hierherkommen soll. Wenn er da ist, gestehst du ihm das, was du mir gerade gesagt hast, versprichst ihm, dass es von nun an nur noch ihn in deinem Leben geben wird, küsst ihn und … was ihr danach macht, überlass ich euch. Aber bis zu diesem Punkt solltet ihr beiden so langsam mal kommen.«
Je weiter ich mit meinen Worten kam, desto unangenehmer blickte Alexander drein. Hier und da seufzte er los, kratzte sich verlegen am Nacken und wendete abermals den Blick gen Boden.
»Das ist also deine Meinung? Ich soll ihn herzitieren?«
»Und küssen.«
»Das wird er nicht wollen«, lachte Alexander los und sah verzweifelt durch die Gegend. Wahrscheinlich erwartete er eher einen Schlag ins Gesicht.
»Würdest du es denn gut finden, wenn Jiro auf dich zukommen würde, um dich zu küssen?«, stellte ich die absolut perfekte Gegenfrage und schmunzelte vor mich hin. Denn als Alexander wieder einmal wortkarg mir gegenübertrat und verzweifelt um sich blickte, konnte ich mir die Antwort bereits denken.
»…schon. Es zumindest mal… ausprobieren…«
»Ausprobieren ist immer gut«, nickte ich zustimmend und klopfte auf die Tischplatte, als wären Alexanders Worte die Erlösung des Themas gewesen. »Nur Mut. Jiro himmelt dich seit ihr euch kennt wie ein Verrückter an. Auch wenn er es bestreitet. Ich kenne ihn.«
Da begannen Alexanders Augen für einen Moment zu leuchten. Doch so schnell wie sie Mut geschöpft hatten, so schnell verließ er sie auch. »Ich weiß aber nicht, ob ich so weit mit … Jiro… gehen möchte.« Alexander presste den Namen meines Kumpels wie ein Stück Gift aus seinen Lippen.
»Wieso nicht?«
»Hiro, ich bin… ein Playboy. Du hattest schon recht mit meiner Art und ich weiß eben nicht, ob ich diesen Lebensstil einfach so abstreifen kann.«
»Hast doch selber gesagt, dass du den nicht mehr weiterführen kannst.«
»Schon«, gestand Alexander und seufzte, als wüsste er selber nicht, wohin er das Gespräch lenken wollte. »Das habe ich gestern auf dem langen Heimweg für mich beschlossen. Aber ob ich das kann oder nicht, das ist die Frage.«
»Probieren geht über Studieren. Wenn du es nicht versuchst, wirst du es niemals erfahren.« Vorsichtig hob ich beide Augenbrauen, um Alexander meinen Standpunkt zu verdeutlichen.
»Ich will Jiro nicht verletzen.«
Das ließ meine Lippen aufeinanderpressen. Wenn die beiden wirklich eine Beziehung eingehen und Alexander sich wie der letzte Depp benehmen würde, könnte das Jiros Gefühle schwer in Mitleidenschaft ziehen.
»Ihr könnt es ja… langsam angehen. Öfter schreiben, mal telefonieren und immer, wenn ihr euch seht, so typische Paarsachen machen.«
»…Was sind denn typische Paarsachen?«, fragte Alexander nach und schob die Augenbrauen skeptisch zusammen. Anscheinend konnte er sich unter diesem Wort nicht wirklich viel vorstellen und wollte von mir Vorschläge hören. Unglaublich, dass ich ein solches Gespräch mit ihm führte. Dabei dachte ich immer, würde er meine Ratschläge eh nicht für voll nehmen, da ich ja meinen Bruder vögelte und alles Beziehungstechnische damit hinfällig werden würde.
»Na, so … Kino… Essen gehen… Sich Geschenke machen… so was eben. Dir wird schon was einfallen.«
»Aha. Keine Ahnung, solche Dinge mache ich normalerweise nicht.« Wieder einmal kratzte sich Alexander am Nacken. Er trank schließlich seinen Kaffee aus und kramte bereits in seinem Mantel nach den Zigaretten.
»Normalerweise oder nie?«
»Nie trifft's ganz gut.«
»Versteh ich das dann richtig? Du hattest noch nie eine Beziehung? Also eine Feste?«, hakte ich nach und konnte selber kaum fassen, dass Alexander sich noch nie an jemanden gebunden hatte. Wieso hatten Vampire damit so ein Problem? Kiyoshi war ja auch so ein Stoffel gewesen. Aber Alexander lebte wenigstens seine Jugend. Wenn auch hier am Rande bemerkt im genauen Gegenteil zu Kiyoshi, nämlich viel zu extrem.
»Wozu?«, fragte er, statt eine Antwort zu geben, zuckte mit den Schultern und steckt sich eine Zigarette an, ohne sie anzuzünden. »Ich brauchte so was nicht.«
Als Alexander sich die Jacke anzog, ging ich davon aus, dass wir eine Rauchen gehen würden, sodass ich mich ebenfalls warm einpackte. Auch wenn die Temperaturen um uns herum für unsere Körper keine Rolle spielten, war es in einer warmen Jacke doch angenehmer. Und die Leute würden uns nicht so seltsam anstarren.
Erst als wir draußen waren, Alexander den ersten Zug der Zigarette mit einem sehnsüchtigen Seufzen beendete, sprach er weiter; grinste dabei wie ein armer Irrer.
»Hiro, ich habe von mehr Frauenärschen Koks geschnupft als ich an zwei Händen abzählen kann. So jemand wie ich geht nicht einfach irgendwelche Beziehungen ein. So jemand lebt einfach nur dahin und schnupft weiter.«
Verzweifelt rauchte Alexander seine Zigarette, während ich noch beim Anzünden meiner eigenen war. Doch nach seinem Geständnis hielt ich kurz inne, nahm den Glimmstängel aus meinem Mund und sah Alexander recht lange grübelnd an.
»Hm«, war schließlich alles, was ich rausbekam. Alexander grinste sofort auf, als hätte er meine sprachlose Reaktion vorhergesehen. Als wüsste er ganz genau, wie man auf ein solches Geständnis reagieren würde: nämlich nur mit Kopfschütteln.
Doch je länger ich über seine Worte nachdachte, desto breiter wurde mein Grinsen.
»Was ist?«, hakte Alexander nach, als er mein Schmunzeln vernahm.
»Dachte nur gerade daran«, begann ich und pustete den Rauch aus, »dass sich Jiro bestimmt auch Koks vom Arsch schnupfen lassen würde, wenn du ihn lieb darum bittest. Das sollte also kein Problem darstellen.«
In dem Moment kam ein Laster an uns vorbeigefahren, hupte, sodass ich mich zum Geschehen umdrehte. Jedoch fuhr der Laster direkt weiter, hupte aus einem nicht ersichtlichen Grund, und ließ mich wieder zu Alexander umdrehen, der verzweifelt eine neue Zigarette anzündete. Seine vorherige war ihm aus den Fingern gefallen und verglimmte stattdessen auf dem Boden.
Das ließ mich abermals schmunzeln.
»Sag so etwas nie wieder«, mahnte mich Alexander und sah verstohlen durch die Gegend. »Das wird nicht passieren.«
»Wieso nicht? Jiro ist, was Drogen angeht, auch nicht unbedingt abgetan. Da kann ich auch ein Lied von singen.« Dass Jiro vielleicht eher mit Alexander als Partner ein Problem haben könnte, als mit den Drogen, ließ ich gekonnt unter den Tisch fallen. Und auch Alexander ging auf diesen Aspekt gar nicht ein.
»Keine Drogen! Er ist ein Mensch, er kann daran sterben!«, raunte mich der Papa in Person an.
»Du wirst ihn nicht ewig kurzhalten können, wenn du bei allem mitziehst und ihn selber an die Leine hängst, wird er noch ausbüchsen.«
Auch bei diesen Worten zuckte Alexander heftig zusammen, als hätte ich da erneut einen wunden Punkt angesprochen.
»Ich werde ihn… an keine Leine hängen«, murmelte er schließlich, als würde er die Metapher wörtlich nehmen, und rauchte seine Zigarette. Seine Gedanken schienen abzuschweifen, da er mich völlig ausblendete. Das Kopfkino, welches sich in Alexanders schwarzem Schopf höchst wahrscheinlich abspielte, ließ mich das Thema aufgreifen und noch etwas Salz in die Wunde streuen.
»Würde ihm sicher auch gefallen. Er trägt gerne sein Stachelhalsband. Als ich ihm mal eine Leine drangeklemmt habe, habe ich einen Tritt in die Eier bekommen. Vor dir hat er aber mehr Respekt. Schätze mal, er würde es mit sich machen lassen…«, sinnierte ich und holte meinen Freund wieder in die Realität. Mit großen Augen beobachtete er mich, wie ich aufrauchte. Erst, als ich den Augenkontakt wieder aufnahm, fand er seine Stimme.
»Sag so etwas nicht, Hiro. Du weißt nicht, was du damit anrichtest«, brummte er mir gefährlich entgegen. Seine eisblauen Augen stachen regelrecht in meine.
»Was sollte ich damit anrichten? Außer euch guten Sex zu bescheren?«
»Hör auf! Darüber will ich gar nicht nachdenken!«
Auf einmal wurde Alexander wieder etwas lauter.
»Ich dachte, Jiro ist derjenige, der dich abhält, mit anderen Frauen zu schlafen? Hast du dann nicht das Bedürfn-«
»Doch! Und deswegen: Schnauze jetzt!«, platzte er mir recht ungeniert ins Wort, warf mir einen vernichtenden Blick zu und ließ mich wieder wie einen Vollidioten dastehen. Als hätte das ganze gefühlvolle Gespräch nie stattgefunden, in dem ich Alexander zum Geständnis verholfen hatte.
»Okay«, hob ich entschuldigend meine beiden Hände. »Wusste ja nicht, dass du auf Sex so gereizt reagierst.«
»… ich reagiere nicht gereizt auf Sex«, knurrte er mir entgegen.
Nein, absolut nicht gereizt.
»Krieg das erst mal mit Jiro auf die Reihe. Danach könnt ihr euch immer noch über solche Kleinigkeiten unterhalten.«
»Kleinigkeiten?«, hakte Alexander wütend nach, als er sich Richtung Schulgebäude in Bewegung setzte und ich ihm folgte. »Das sind keine Kleinigkeiten, das ist ungefähr das Wichtigste.«
»Für dich ist Sex das Wichtigste in einer Beziehung? Nimm von dieser Einstellung mal lieber ganz viel Abstand«, riet ich ihm und erinnerte mich schlagartig an all die Beziehungen, in denen ich vorgeworfen bekam, dass ich nur an Sex denken würde. Gut, Jiro war ein Mann und soweit ich erfahrungstechnisch aus meiner Beziehungskiste kramen konnte, war ich mir bewusst, dass zwei Männer eher auf einer Linie standen, was die Quantität des Sexes anging, als Frau und Mann. Trotzdem war Jiro ein kleines Mäuschen, wenn es um Gefühle ging, weswegen sie eine mindestens genauso große Rolle spielen würden, wie der Sex. Ich erinnerte mich noch gut, wie stark er geweint hatte, als ihn seine erste Liebe abserviert hatte. Und auch wenn Jiro seither viel gelernt hat und erwachsener geworden war, wusste ich, dass sobald es um Alexander gehen würde, er ganz schnell wieder in alte Maschen fallen würde.
Weswegen ich Alexanders Worten, dass er Jiro nicht verletzen wollte, doch mehr Bedeutung zuzollte, als gewöhnlich.
»Ich … habe vielleicht eine schlechte Angewohnheit beim Sex, die ich nicht unbedingt auf Jiro übertragen will. Bei Frauen ist es mir egal, ob sie danach die Fliege machen oder nicht. … Aber Jiro soll mir danach noch in die Augen sehen können«, gestand Alexander kleinlaut, während wir dem Schulgebäude immer näherkamen.
»Wenn ich eins und eins zusammenzählen kann, würde ich mal raten, bist du nicht gerade der zärtlichste Partner?«, horchte ich vorsichtig aus. Alexander schmunzelte bei meiner zugegeben zärtlichen Beschreibung, sagte jedoch nichts.
Und obwohl ich ihn eine Weile lang anstarrte, machte er keine Anstalten, zu antworten. Stattdessen nickte er mit dem Kinn vor sich, wo Kiyoshi und die anderen bereits auf uns warteten.
Sein süffisantes Schweigen nahm ich mal als ein "Ja". Alexander mochte es härter und war vielleicht egoistisch im Bett. Und er hatte Angst, dass er Jiro damit wehtun könnte.
Wie süß.
Die Tatsache, dass Alexander sich über so etwas den Kopf zerbrach, beteuerte mir nur zu deutlich, dass die Frage, ob die beiden überhaupt Gefühle füreinander hatten, gar nicht mehr im Raum stand, sondern schon beantwortet zur Seite geschoben wurde.
Auf der einen Seite war ich super glücklich, dass die Fronten endlich – zumindest theoretisch – geklärt waren. Auf der anderen Seite musste sich Kiyoshi noch den ganzen Abend anhören, wie unfair mich alle behandelt hatten. Mich erst anschnauzen und dann doch mit der offensichtlichen Wahrheit rausrücken!
»Echt jetzt?«, fragte ich belustigt in das Telefon.
»Ja, sie hat es mir angeboten. Da kann ich doch nicht nein sagen«, kicherte auch Jiro, der mich am Nachmittag angerufen hatte. Aus einem guten Grund: Er würde über Weihnachten und Silvester kommen. Und zwar mit Mom.
Sie wollte mit dem Auto fahren, um "einige Dinge" mitzubringen. Als ich fragte, ob sie das Sofa auf das Autodach spannen würde, rügte sie mich wieder, dass ich nicht solche Dummheiten von mir geben sollte. Aus einem anderen Gespräch wurde mir aber klar, dass sie alte Kartons aus dem Keller geholt hatte und sie mir bringen wollte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich keine dummen Kartons mehr im Keller stehen hatte, ließ das einfach mal so stehen und freute mich darauf, die komplette Familie an den Feiertagen um mich zu haben. Das erste Weihnachten. Mit allen.
Und als hätte sie meine Frage bereits gerochen, ging sie selbstständig auf Jiro zu und fragte ihn, ob sie ihn mitnehmen sollte. Die Fahrt würde zwar gute 5 Stunden dauern, wäre aber zu schaffen. So würde sie nicht alleine durch den Schnee fahren müssen und Jiro würde viel Geld sparen.
Insgesamt würden die beiden also knapp 2 Wochen bleiben und schließlich wieder gen Süden fahren, wenn das neue Jahr angebrochen wäre.
»Das wird so cool, Alter, ich freu mich schon wie ein Wahnsinniger!«, plauderte Jiro wie ein Wasserfall in den Hörer. Bereits seit 10 Minuten erklärte er mir, was er alles sehen wollen würde und wie er sich was vorstellte. Wie mein Vater so sei. Wie das Haus sei. Wie die Schule sei. Und die Leute, mit denen ich so abhängen würde.
»Ich häng eigentlich nur mit Kiyoshi und Alexander rum. Aber ich stell sie dir beide gerne noch einmal vor«, scherzte ich amüsiert und legte meine Füße auf meinen Schreibtisch. Kiyoshi saß wie immer stumm auf meinem Bett und las. Irgendwie wurde das zur Gewohnheit. »Besonders einer von den beiden würde sich, glaube ich, sehr freuen.«
Als ich das Thema jedoch wieder gekonnt auf Alexander fallen ließ, verstummte Jiro für einen Moment schlagartig.
»Sehr witzig, Hero. Ich kenn die beiden.«
»Vielleicht den einen noch nicht gut genug…«, spaßte ich in einem tiefen Ton und lachte über meinen eigenen Witz. Dabei war das mein voller Ernst gewesen.
»Wieso sollte ich Kiyoshi denn noch näher kennen lernen?«, konterte Jiro recht gewitzt, sodass ich aufhörte zu lachen und gespielt seufzte.
»Du weißt, dass ich nur Spaß mache.«
»Ja, ja. Ich lach mich tot«, raunte Jiro sarkastisch in den Hörer. »Kann ich denn dann bei euch pennen?«
Ich schmunzelte sofort wieder auf. »Du schläfst mal schön bei Alexander. Über die Feiertage bist du sein Problem.«
»Hallo? Geht's noch? Schiebst du mich etwa ab?«
»Ich schieb dich nur zu deinem Lo- ich meine Freund.«
»Du bist mein Freund, Hero… hör endlich auf, uns zu verkuppeln.«
»Lass es doch mal zu! Lass dich auf Alexander ein und ich sage dir: es wird dir gefallen.«
»Und hör auf ihn mir schmackhaft zu machen! Ich steh nicht auf Männer.«
Hmh, klar. Und ich hatte auch noch nie deine Zunge in meinem Rachen. Weil… wir stehen ja nicht auf Männer. Und sind auch gegenüber Homosexualität schon immer extrem engstirnig gewesen, weswegen bisexuelles Verhalten auch niemals in Frage kam.
»Alles klar, Jiro. Natürlich kannst du hier pennen. Mom wird jedoch hier wohnen, sei dir also um ein bisschen Zetern bewusst.«
»Damit werde ich klarkommen, wenn ich auch schon vorher 5 Stunden mit ihr im Auto saß«, spaßte mein Kumpel wieder etwas besser gelaunt. Nach einigen Sekunden des Schweigens, seufzte Jiro auf und entließ einen Schwall Luft aus seinen Lungen. Eine nachdenkliche Stimmung trat ein, sodass ich sie vorsichtig zu brechen versuchte.
»Alles in Ordnung soweit bei dir?«
»Hm…«, brummte es vom anderen Ende. »Ich lerne wie ein Irrer in letzter Zeit. Es ist wahnsinnig viel Stoff. Das laugt ein bisschen aus.«
»Seit wann lernst du denn so viel?«, lachte ich nervös auf. So kannte ich ihn gar nicht…
»Schon immer, Hiro. Nur jetzt ist es wirklich viel. Die Abschlussprüfungen werden nicht sehr spaßig werden.«
»Mach mir kein schlechtes Gewissen. Ich habe noch gar nichts getan…«
»Du hast doch Kiyoshi. Der hilft dir bestimmt.«
»Ha… schon. Aber in der Prüfung bin ich auf mich allein gestellt. Da werde ich sicherlich Panik bekommen.«
Mir lag ein guter Abschluss nicht so nahe wie meinem Umfeld. Kiyoshi wollte unbedingt auf eine Uni, Alexander ebenso. Und Jiro?
»Brauchst du denn einen guten Abschluss für die Uni?«, fragte ich aus heiterem Himmel. Jiro schwieg sofort. Erst nach einigen Denksekunden, antwortete er recht leise.
»Vielleicht. Ich habe mich noch nicht festgelegt.«
»Was willst du denn machen?«
»Weiß ich noch nicht… Aber eure Uni hat verdammt harte Auswahlverfahren. Anstrengen kann ich mich ja mal.«
»Es ist so schön, dass du über unsere Uni sprichst… und sie auch wirklich ansteuerst«, säuselte ich verträumt ins Telefon. Ja, ich brauchte meinen Kumpel einfach bei mir. Er war von Anfang an bei allem dabei und wurde letztendlich sogar mit in Leidenschaft gezogen, als die Sache mit Vincent losging. Er gehörte einfach dazu. Mensch hin oder her.
»Na klar. Und bitte komm jetzt nicht wieder mit Alexander«, seufzte er auf und schien sich am Nacken zu kratzen. Das ließ mich auflachen.
»Dann eben nicht! Obwohl ich euch so oder so schon zusammenwohnen sehe.«
»Entschuldige bitte, ich kenne diesen Mann kaum! Da zieh ich bestimmt nicht mit ihm zusammen! Diese WG würde außerdem in einem Desaster enden.«
»Weil ihr die Möblierung mit eurem Koitus zum Fall bringen würdet?«, lachte ich beherzt auf. Jiro schrie angeekelt ins Telefon, mahnte mich mehrmals beim Namen, während ich weiter belustigt in den Hörer lachte. Nachdem Alexander seine Gefühle gestanden hatte, schöpfte ich wieder neuen Mut den beiden ein wenig auf die Sprünge zu helfen.
*
Als er nach diesem furchtbar peinlichen Gespräch nach Hause gekommen war, setzte er sich sofort an seine Trainingsgeräte und stemmte die Gewichte, bis ihm schwarz vor Augen wurde. Bis kaum noch Blut in seinem Kopf war und er fast die Metallstange auf sein Gesicht fallen gelassen hätte.
Noch gefühlte drei Stunden saß er halb nackt auf seinen Geräten und starrte mit Muskelschmerzen in die dunkle Ecke seines Zimmers. Seine Handinnenflächen heilten langsam von den Strapazen ab, die sie durch die aufgerauten Metallstangen erleiden mussten. Alexander schämte sich.
Für den Gefühlsausbruch in der Nacht vor der Bar, für das Geständnis, welches er Hiro und sich selber entgegengebracht hatte, und für seine übertriebenen, oft blutig endenden Handlungen, wenn er Pein fühlte.
Die Sonne war bereits untergegangen und läutete den Abend ein. Alexander stand unter der Dusche und sinnierte über die Dinge, die ihn in den letzten Tagen so bewegt hatten.
Und je mehr er die Gedanken schweifen ließ, erinnerte er sich an Hiros Worte. Dass Jiro sich vielleicht Koks vom Arsch schnupfen lassen würde.
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Schwarzhaarigen. In der Tat würde ihm das gefallen. Den Punk an sein Bett fesseln, ihn vielleicht sogar gaggen und bevor er das weiße Pulver in seiner Ritze verteilen würde, die glatte, helle Haut mit einem Paddel rot schlagen. Ihn stöhnen hören, wie er unter den moderaten Schmerzen Lust empfinden und seinen Namen schreien würde.
Doch so schnell wie Alexander seine Erregung wachsen spürte, so schnell ebbte sie wieder ab.
Nein, er wollte Jiro nicht wehtun. Er wollte ihn nicht wie ein Tier behandeln, wie ein Stück Fleisch, wie er es immer bei Frauen getan hatte.
Jiro war nicht wie die anderen. Er war ein Mann. Ein Punk, dessen Ego wahrscheinlich genauso groß wie seine Klappe war. Alexander hätte keine Chance gehabt, ihn gefügig zu machen. Vielleicht würde er es mit viel Alkohol und Drogen schaffen, Jiro in sein Bett zu drücken, um ihn ranzunehmen. Doch dann würde genau der Fall eintreten, den Alexander nicht herbeisehnte: Der Mensch würde ihm danach nie wieder in die Augen sehen können.
Nach der langen, warmen Dusche, in der Alexander stark an sich halten musste, nicht doch zu den Gedanken, Jiro brutal zu vögeln, zu masturbieren, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Als er den Laptop aufklappte und ein paar Nachrichten durchblätterte, hörte er das typische Skypegeräusch.
Jiros Nachricht »Bist du da?« poppte am unteren Rand des Bildschirms auf.
In diesem Moment war der Vampir froh keinen Herzschlag mehr gehabt zu haben, sonst wäre es ihm aus der Brust gesprungen. Nach diesem furchtbaren Gespräch, den verwirrenden Gefühlen, war es noch zu früh mit dem Menschen zu schreiben. Wie sollte er ihm gegenübertreten? So wie immer? Oder einige Andeutungen machen, so wie es Hiro vorgeschlagen hatte?
Paarsachen ansprechen…?
Trotz einiger Zweifel klickte Alexander auf das Skypesymbol und öffnete das Chatfenster. Noch eher er seine Antwort abschicken konnte, klingelte Jiro über den Videochat an.
Ohne weiter zu überlegen, nahm Alexander das Gespräch an. Im nächsten Moment sah er sich selber nackt vor dem PC sitzen. Hektisch blickte er um sich, schnappte sich einige Klamotten, die auf dem Boden lagen, streifte sie sich über und setzte sich wieder vor die Kamera. Er konnte gewiss nicht nackt vor dem Rechner sitzen, wenn Jiro auf der anderen Leitung war.
Es dauerte einige Sekunden, bis die Verbindung hergestellt wurde und man das Gesicht des Menschen erkennen konnte.
»Hi… Alex«, kam die lang ersehnte Stimme aus den Lautsprechern seines Laptops. Liebevoll, ruhig und fast ein wenig erschaudernd, wo diese Stimme in Alexanders Kopf doch schon so viel gesagt hatte.
»Hallo Jiro«, begrüßte der Vampir seinen Freund und rang sich ein Lächeln ab. Im unteren Teil des Bildschirms konnte er sehen, wie dumm er dabei aussah. Wie einer dieser Idioten, die sich frisch verliebt hatte.
Sofort hörte er auf zu Lächeln.
»Sorry, wenn ich dich jetzt so überfallen habe«, lachte Jiro süßlich auf und kratzte sich am Nacken. Erst jetzt wanderten Alexanders Augen genauer über die Videoübertragung. Ein dunkelblaues Langarmshirt. Längere Haare, die strubbelig auf seinem Kopf lagen. Die Tunnel in seinen Ohren, gefühlt wieder ein paar Millimeter größer geworden. Und die Piercings. Diese hässlichen, glitzernden metallischen Objekte, die Jiros Gesicht so einmalig machten. »Hab nur gesehen, dass du online warst und dachte, wir könnten ja mal wieder videochatten. Hast du denn was Zeit?«, erzählte Jiro fröhlich weiter.
»Macht doch nichts. Ich war nur was am Surfen. Der Abend ist nicht verplant«, murmelte Alexander ernst in die Kamera.
»Ist denn alles okay? Du wirkst ein bisschen …müde?«, hakte Jiro nach, nachdem er auch Alexander für eine Weile misstrauisch beobachtet hatte.
Da kam er. Der besorgte Blick, den Alexander so gut kannte. Wäre der Punk jetzt bei ihm gewesen, hätten liebevolle Hände ihn in den Arm genommen oder seine Haare gestreichelt. Nur, um ihn etwas aufzuheitern. Aber wäre der Mensch hier gewesen, hätte es keinen Grund für Alexander gegeben, traurig zu sein, oder nicht? Dann wären die Fantasien in der Dusche vielleicht gar keine Hirngespinste gewesen, sondern pure Realität, und nichts in der Welt hätte den Vampir noch traurig stimmen können.
»Alles in Ordnung. Ich war vorhin trainieren, jetzt fühle ich mich etwas ausgelaugt«, log Alexander und lächelte abermals. Diesmal bemüht um ein weniger idiotisches Grinsen.
»Haha, achso! Du und dein Training… Echt beeindruckend, wie streng du das durchziehst. Da hätte ich keine Muße für«, lachte Jiro beherzt auf und hob anerkennend die Augenbrauen, dass Alexander so fleißig war.
»Du brauchst es auch nicht, dein Körper ist schön genug.«
Blasse Wangen wurden schlagartig rot und trieben den Menschen ins Schweigen. Während Jiro nach Worten suchte, schmunzelte Alexander weiter.
Vielleicht konnte er nicht alle seine Geschütze ausfahren, die er sonst bei Frauen anwandte, aber einige bewährten sich auch bei diesem einen Mann, der immer noch wie ein Kind verlegen zur Seite sah.
»Ein bisschen Training würde mir sicher nicht schaden«, flüsterte Jiro schließlich geniert in die Kamera und zog die Schultern hoch. »Ich fress wieder mehr Süßigkeiten, als gut für mich ist.«
»Wieso? Hast du Stress?«, hakte der Vampir nach und schob streng die Augenbrauen zusammen.
»Hm, ein bisschen. Die Klausuren stehen bald an und ich lerne viel. Da brauche ich Nervennahrung.«
»Bitte überanstreng dich nicht.«
»Keine Angst!«, lachte Jiro auf einmal schrill auf und wedelte mit der Hand vor der Kamera rum. »Ich jammer nur so rum, weil ich kaum noch Zeit zum Feiern finde, das ist alles.«
»Verstehe. Wenn du mal hier bist, können wir ja wieder feiern gehen. Du willst dich doch noch mit mir prügeln«, stellte Alexander schmunzelnd fest und lehnte sich etwas in seinem Stuhl zurück. Gelassen musterte er das breite Grinsen seines Gesprächpartners.
»Richtig. Es ist schön, dass du das nicht vergessen hast.«
»Eine Abreibung kann ich doch nicht abschlagen«, murmelte Alexander vor sich hin und sinnierte bereits über die Situation, in der er den Punk vielleicht wieder zu Boden drücken und in seinem Griff festhalten könnte. Ihm einfach hier und da mal auf die Haut schlagen zu können, sodass rote Striemen auf seiner zarten, weißen Haut zurückbleiben würden, die er gierig ablecken –
»Du sagst doch selten zu irgendetwas Nein«, antwortete Jiro auf einmal mit einem unterschwelligen Ton.
»Wie meinst du das?« Alexander fuhr sich wie ertappt durch das Haar, als er aus den Gedanken schreckte, in denen er Jiro schon wieder als reines Sexobjekt abgebildet hatte.
»Weiß nicht«, murmelte Jiro, zuckte mit den Schultern und sah zur Seite, »ihr wart ja alle letzte Woche in irgendeiner Bar feiern. Scheint ja ein schöner Abend gewesen zu sein. Mit viel Alkohol und so.«
Und ehe Alexander auf diese spitze Bemerkung, die sicher nicht so gemeint war, eine Antwort finden konnte, erinnerte er sich an das Telefonat zwischen Hiro und Jiro.
Hiro, die miese Ratte, musste Jiro darüber unterrichtet haben, dass Alexander seine Griffel an einer Frau liegen hatte. Wut machte sich in der Brust des Vampirs breit, ließ ihn ausschnauben und gequält in die Kamera schauen.
»Ging so. Wir haben uns ein wenig gestritten, sodass wir den weiteren Abend getrennt verbracht haben«, versuchte Alexander so neutral wie möglich zu klingen, um das Thema abzuschnüren.
Wieso fühlte er sich ertappt? Wieso fühlte er sich überhaupt schlecht, einer Frau den Hof gemacht zu haben? Jiro war nicht sein fester Freund. Jiro war nicht anwesend gewesen. Jiro war generell nicht in der Position, ihn in irgendeine Ecke zu stellen, wo er sich schämen sollte.
Und trotzdem kam dieses beklemmende Gefühl in Alexander hoch, was ihn bereits Ausreden im Kopf formulieren ließ, mit denen er sich irgendwie rausreden könnte. Nur, um Jiro nicht wegen einer solchen Belanglosigkeit zu verlieren.
»Oh, echt? Hat Hiro gar nicht erzählt, dass ihr euch gestritten habt…«
»War auch nicht schlimm, wir haben uns heute sofort wieder… ausgesprochen.«
Im wahrsten Sinne des Wortes.
»Na ja, solange du trotzdem deinen Spaß hattest?«
Die Frage erschien dem Vampir als unbedacht durchsichtig. Es war klar, was Jiro aushorchen wollte.
Alexander hatte keinen Spaß gehabt. Er war mies drauf und der Abend lag ihm noch immer tief im Mark. Am liebsten hätte er Jiro just in diesem Moment alles gegen den Kopf geworfen. Dass er Schuld an dem Dilemma war, in dem der Vampir steckte. Dass es allein seiner Verantwortung zuzuschreiben war, wie Alexander sich fühlte. Dass er keine Frau mehr nageln konnte, ohne nicht an Jiro denken zu müssen. Und dass er ihn jetzt gerne bei sich hätte, um ihn ranzunehmen, um zu wissen, ob es auch so geil wäre, wie er sich immer ausmalte.
…Schon wieder war der Vampir in seinen sexuellen Gedanken gefangen. Jiro hingegen hob beide Augenbrauen und schmunzelte gegen die Kamera, während der Vampir noch immer gedankenverloren gegen den Bildschirm starrte.
»Alex? Alles klar? Bist du noch da?«, kicherte der Mensch und winkte aufmerksamkeitssuchend vor der Kamera.
Da schreckten blaue Augen hoch. »Klar, sorry.«
»Sicher? Ich will dich nicht aushorchen, wie der Abend war. Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst.«
»Schon in Ordnung, ich war nur in Gedanken«, säuselte Alexander, hielt sich für einen Moment die noch feuchten Haare aus dem Nacken und blinzelte zur Seite. »Der Abend war ganz okay. Nicht besonders. Gegen Ende sowieso totaler Müll, weil Hiro und Kiyoshi gefahren sind und ich alleine dastand.«
»Die sind echt einfach gefahren?«
»…Ich war nicht ganz unschuldig dran.«
»Haha«, lachte Jiro abermals auf. Man sah kurzzeitig sein Zungenpiercing. »Ich kann mir gut vorstellen, wie du die beiden angeschnauzt hast.«
»Ich habe sie nicht angeschnauzt, ich habe mich nur verteidigt und – «
»Schon klar, Alex«, unterbrach Jiro den Vampir und zwinkerte in die Kamera. »Hiro war an dem Abend auch ein bisschen angesäuert. Der hat's nicht so mit Feiern gehen und Weibern.«
Da fiel das Wort, welches schon das ganze Gespräch über in der Luft lag. Weiber.
»Das habe ich gemerkt. Aber die Lust zu Feiern habe ich nach dem Abend auch nicht mehr…«
»Wie kommt's?«, fragte der Mensch recht verwundert über Alexanders Worte. »Du bist doch sonst der Feiertyp, oder nicht?«
»Irgendwie… nicht mehr. Die Luft ist raus«, murmelte Alexander vor sich hin, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mir fehlt das Pöbeln beim Rauchen. Hier gibt's das einfach nicht.«
»Ach, fick dich, Alex«, schnauzte Jiro seinen Freund belustigt an. Die immerwährende Beleidigung ließ Alexander wieder warm auflächeln.
»Und mir fehlt es, dich überall mit hin zu nehmen, wo auch immer ich hingehe«, murmelte Alexander weiter, als wäre er gar nicht mehr anwesend.
Nicht mal ein Blick in die Kamera war nötig, um Jiros Rötungen im Gesicht zu erahnen. Sein nervöses Stottern, welches durch die Laptoplautsprecher klang, gab Aufschluss genug über Alexanders überrumpelnde Worte.
»… du bist manchmal echt peinlich, weißt du das?«, antwortete Jiro fast tonlos und biss sich auf die gepiercte Lippe.
»Weiß ich. In letzter Zeit lege ich dahingehend viele Rekorde hin.« Alexander schmunzelte auf einmal los. Nie konnte er über Gefühle reden und dann – urplötzlich – kamen dann solche romantischen Geschichten aus seinem Mund. Er hätte diesen Satz gar nicht sagen sollen. Doch just in dem Moment hatten sich seine Lippen schneller bewegt als sein Kopf denken konnte.
Jiro antwortete nichts mehr, sah einfach nur beschämt zur Seite. Und auf eine perfide Art und Weise empfand Alexander das Gespräch trotzdem nicht als unangenehm. Ganz im Gegenteil, die schüchternen Reaktionen ließen den Vampir glauben, er könne vielleicht doch die Überhand über diesen Mann gewinnen. Dass er doch das Zeug dazu hätte, den aufmüpfigen, verlausten Punk in Alexanders teure Bettwäsche zu drücken, um ihn seinen Namen stöhnen zu lassen.
»Du trägst das Augenbrauenpiercing nicht mehr. Gefällt mir sehr«, lobte Alexander sein Objekt der Begierde und grinste siegessicher; bemüht, Jiro noch ein wenig länger in der devoten Lage zu lassen.
Sofort fasste sich Jiro an die Schläfe und rieb sie nachdenklich. »Ja… als du darüber gesprochen hast, hab ich lange nachgedacht und finde es, glaube ich, auch nicht mehr so schön.«
»Die anderen darfst du gerne behalten«, brummte der Vampir streng, wenn auch zweideutig, aus seinen Lippen.
Nein, dachte Alexander. Jetzt nicht befehlend werden. Jiro war nicht einer dieser Frauen, sondern sein Freund. Ein gleichgestellter Mann, dem er keine Anweisungen geben konnte. Der Mensch hatte das Piercing sicher aus eigenen Stücken herausgenommen und nicht nur, weil Alexander es empfohlen hatte.
»Haha, wirklich? Wie gütig von dir!«, ächzte Jiro in die Kamera, fuhr sich mit den Fingern über das Gesicht und ertastete dabei die einzelnen Ringe und Stäbe. »Mehr hätte ich auch nicht rausgenommen.«
»Wo bist du eigentlich noch gepierct? Nur im Gesicht?«, fragte Alexander, ohne auf Jiros Kommentar einzugehen. Der Mensch wollte schon zur Antwort ansetzen, als er die Zweideutigkeit in den Worten vernahm und entsetzt in die Kamera schaute.
»Bitte was?«
»Was?«, fragte Alexander selber nach, als wäre er aus einem Traum erwacht. Verdammt, dachte der Vampir, das war zu offensichtlich gewesen. Das Schwanzdenken musste dringend verringert werden. Bei Frauen würde das vielleicht funktionieren, bei Jiro nicht.
»… Du willst nicht wissen, wo ich noch alles gepierct bin«, schmunzelte Jiro los und rieb sich abermals die roten Wangen.
»Vielleicht doch?«, grinste Alexander zurück. Jiro durfte ruhig wissen, dass er so langsam echtes Interesse an ihm entwickelte.
»Haha, nein, sicher nicht. Das würde komisch werden.«
Komisch.
Was war denn an diesem Gespräch bisher noch nicht komisch gewesen?
»Wann… werde ich denn Gelegenheit haben, das herauszufinden?«, lenkte Alexander das peinliche, halb erotische Thema auf ein Angenehmeres.
Jiro sagte erst nichts, starrte einfach nur errötet in die Kamera und schluckte einige Schlucke Speichel. Erst, als Alexander noch einmal zum Wort ansetzen wollte, fand der Mensch seine Stimme wieder. »Weihnachten. Und Silvester.«
»Soll ich dir einen Flug buchen?«
»Nein, nein. Die Mutter von Hiro nimmt mich mit dem Auto mit. Du musst also keinen Flug buchen… was ich sowieso nicht erlaubt hätte.«
»Hm, du weißt, ich widersetze mich deinen Worten, wenn es sein muss.«
»Das weiß ich. Aber wie es in den Wald ruft, so schallt es zurück. Du weißt, dass du von mir kein Zuckerbrot erwarten kannst«, grinste Jiro breit und streckte seine gepiercte Zunge in die Kamera.
Alexander knirschte mit den Zähnen und zwang sich zu einem Lächeln. Warte nur ab, dachte der Vampir. Warte nur ab.
Das Gespräch verlief recht zügig in eine bedeutungslose Richtung und endete erst nach etwaigen Stunden. Kurz vor Mitternacht verabschiedeten sie sich dann recht gefühlvoll voneinander, wo Jiro ihm einen sehnsuchtsvollen Blick schenkte und schließlich den Laptop zuklappte.
Alexander konnte in der Nacht nicht schlafen. Ständig musste er an Hiros Worte denken. Dann an Jiros. Wie er sich ihm widersetzen würde. Und je mehr Alexander über diese Tatsache nachdachte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass genau dieser raue, grobe Charakter das war, was er so begehrte. Die Arbeit, diesen vorlauten Bengel zu knechten und zu erziehen, ließ den Vampir erotische Gedanken fassen. Abermals stellte er sich vor, wie er Jiro über sein Knie legen würde, um ihn zu züchtigen. Seinen hellen Hintern zu vermöbeln. Die roten Striemen zu lecken. Dem Punk das Nietenhalsband anzuziehen, ihn mit einer Leine nackig durch die Wohnung zu zerren, um ihn wie ein Tier zu erniedrigen. Alles, um ihn gefügig zu machen.
Nur, um wahrscheinlich letztendlich doch ein freches Mundwerk zu hören zu bekommen. Und diesen dreckigen Mund würde er mit seinem Schwanz stopfen. Ob der Punk wollen würde oder nicht.
Die Nacht verbrachte Alexander damit, gegen seine erotischen Träume zu verlieren und sich mehrfach in seiner Hand zu erleichtern. Schließlich, nach vielen Stunden, schlief er doch vor Erschöpfung mit unangenehmen Gefühlen ein. Der Punk blieb ein Laster, welches sich mit Alexanders anderem Laster perfekt zu paaren schien. Wieso musste er diese dominante Eigenschaft innehaben? Und wieso musste Jiro da auch noch die größte Rolle drin mitspielen? Als wüsste er ganz genau, dass er Alexander damit kriegen konnte. Dass das sein schwacher Punkt in seinem Ego war und er nach belieben mit Sticheleien damit spielen konnte.
Wie mit seinen Piercings.
Wo er wohl alles gepierct war?
»Das willst du nicht wissen.«
Doch, genau das wollte Alexander wissen. Nach diesem Satz umso mehr.
Und würde Jiro auch nur einen Fuß für länger als 10 Minuten in diese Wohnung setzen, wusste der Vampir, würde er seine Neugierde recht schnell stillen können.
Die Zeit im Herbst verging recht langsam. Mom rief hier und da mal an, suchte einige Dinge zusammen, die sie mitnehmen könnte. Vater deutete einen Abend mal an, dass er Moms altes Zimmer wiederhergerichtet hätte und er gespannt sei, ob sie es noch mit Gefallen betreten würde. Auch er schien ihre Ankunft herbeizusehnen, was mich Hoffnung schöpfen ließ, dass unsere Eltern wieder zu einander finden könnten.
Kiyoshi dagegen ließ sich von Vaters guter Laue nicht anstecken und verfiel ein wenig in die Winterdepression. Lernte Tag ein, Tag aus und las sich noch die Augen wund. Letztendlich kam ich nur in der Nacht in den Genuss seiner Liebe. Tagsüber schien er eher neben sich zu stehen. Zwar verging kaum eine Minute, in der wir getrennt waren, trotzdem fühlte es sich nicht wie Zweisamkeit an. Kiyoshi war irgendwo mit seinen Gedanken, nur nicht bei mir. Wahrscheinlich wurmte ihn die Zukunft. Der Job, die Familie.
Doch nicht nur Kiyoshi schien depressiver geworden zu sein.
Alexander saß ebenso traurig in der Welt. Ausdruckslos starrte er wieder einmal auf die weißen Tische unserer Schule.
Draußen schneite es.
Zum ersten Mal seit Jahren sah ich wieder Schnee. Und so schön wie er war, so eklig nass und kalt war es draußen. Alexander passte sich diesem Wetter ausnahmslos an.
»Siehst heute wieder einmal so grau wie das Wetter aus«, begrüßte ich ihn recht unfreundlich und setzte mich ungefragt neben ihn. Die guten Manieren hatte ich im Laufe der Zeit gegenüber Alexander fallen lassen. Er fasste mich auch nicht mit Samthandschuhen an.
Die Stunde hatte noch nicht begonnen; Kiyoshi war mit Kat Prüfungsanmeldungen für uns holen, sodass ich mit dem "Gute-Laune" Vampir alleine war.
»Danke«, brummte Alexander, löste sich mit den Augen vom weißen Tisch und erwiderte meinen Blick. Er hatte sich seit mehreren Wochen nicht mehr rasiert, sodass er mit den langen Haaren und dem schwarzen Bart ein wenig ungepflegt aussah. Oder wie ein Rockstar. Oder irgendwie immer noch verwegen erotisch.
»Kopf hoch. Jetzt am Wochenende kommt Jiro, ist doch super!« Mit dem Ellebogen knuffte ich ihn belustigt in die Seite. Seit dem Geständnis im Café hatte Alexander nie mehr ein Wort über seine Gefühle oder Jiro verloren. Stattdessen schien er den Frust quasi in sich hineinzufressen. Vom Feiern wurde auch nicht mehr gesprochen. Generell nahm er von Frauen Abstand und machte einen riesigen Bogen um sie. Das spürten natürlich nicht nur ich, sondern auch seine alten Freunde, die ebenso Distanz zu ihm gewannen. Letztendlich stand Alexander wieder alleine in der Welt. Kiyoshi und ich waren die Einzigen, die sich seiner schlechten Laune annahmen. Und anstatt, dass der Trottel sich mal durchrang und seine Gedanken aussprach, blieb alles, wie es war. Es ging ihm nicht gut, also verteilte er schlechte Laune und böse Kommentare. Und alles, was uns übrigblieb, war, es zu schlucken.
»Hm«, seufzte Alexander. »Wann kommt er genau an?«
»Sonntag vor Weihnachten. Mom wollte morgens losfahren und uns Bescheid geben, wenn sie sich der Stadt nähern.«
»Hoffentlich kommen sie bei dem Schnee gut durch«, bemängelte Alexander das Wetter und sah skeptisch nach draußen. »Mir wäre es lieber, sie würden fliegen.«
»Mir auch. Aber Mom besteht auf die blöden Kisten und anderen Schrott, der unbedingt mitmuss. Wahrscheinlich auch 'ne Menge Mitbringsel.«
»Weihnachtsgeschenke…«, murmelte Alexander auf einmal los und schien vom eigentlichen Thema abzurücken.
»Weihnachtsgeschenke?«
»…muss ich noch besorgen.«
Da verirrte sich ein Schmunzeln auf meinen Lippen. »Du verschenkst Dinge, die nichts mit deiner Faust zu tun haben?«
»Bei dir mache ich gerne eine Ausnahme.« Ein genervter Augenaufschlag ließ mich weiter lachen.
»Brauchst du noch einen Tipp für Jiro?«
»…«
»Er mag … technische Dinge. Aber das ist zu unpersönlich«, überlegte ich laut vor mich hin, ohne überhaupt auf Alexanders Antwort gewartet zu haben. »Schenk ihm doch etwas, was ihn an dich erinnert. Ein Plüschtier oder so.«
»… Ich habe zwar zugegeben, dass ich einen Mann mag, das bedeutet aber nicht, dass ich stockschwul werden muss, okay? Keine fucking Plüschtiere.«
»Was hast du gegen Plüschtiere? Kiyoshi -«
»Kiyoshi ist kein Maßstab«, unterbrach mich mein Gesprächspartner und verdrehte abermals die Augen. »Ich denk mir was aus. Danke, Hiro.«
»Wenn du zu viel Geld hast, kannst du ihm auch ein Motorrad schenken. Den Führerschein hat er nämlich im Frühjahr gemacht und seitdem nie benutzt«, murmelte ich vor mich hin und stützte meinen Kopf auf der Hand ab, wissend, dass Alexander zu viel Geld hatte.
»Er hat einen Motorradführerschein? Will er Selbstmord begehen?«, kam sofort spöttisch aus Alexanders Mund.
»Nicht jeder Motorradfahrer stirbt auf seiner Kiste…«
»Der Punk schon. …so leichtsinnig, wie er ist.« Da schüttelte sich der schwarze Schopf und das Papa-Syndrom kam wieder durch. »Er kriegt ein Miniaturmotorrad. Das muss reichen.«
»Sei nicht so gemein. Denk an die Leine. Mach sie nicht zu kurz«, brummte ich wissend, dass diese Worte sofort Anklang finden würden. In der Tat zog Alexander scharf die Luft ein und schenkte mir einen vernichtenden Blick. Schmunzelnd ließ ich von ihm ab und packte meinen Unterrichtskram aus.
»Ich liebe unsere Gespräche, Alex. Immer enden sie so… fröhlich.«
»An wem mag das wohl liegen?«
»Gute Frage«, stimmte ich salopp in seinen Vorwurf mit ein und ignorierte ihn die Stunde über.
Kiyoshi kam schließlich mit den Prüfungsunterlagen wieder, die er mir sofort weiterreichte und sogar Alexander einen Packen mitgebracht hatte.
Jetzt wurde es ernst. Prüfungen… urgh.
Die Vorweihnachtszeit wurde doch schöner als gedacht. Kat, Ichiru, Kiyoshi und ich gingen sogar einmal über den kleinen Weihnachtsmarkt in der Innenstadt. Alexander ließen wir lieber zu Hause. Solche romantischen Sachen trieben ihn nur in den Wahnsinn.
Und ehe ich mich versah, kam das Wochenende, wo Mom und Jiro aus dem Süden anreisen sollten. Natürlich schneite es unaufhörlich. Mamoru kam gar nicht mehr aus dem Schneeschippen raus. Morgens fing er an und hörte mittags auf, nur um am frühen Abend wieder dieselbe Menge an Schnee an den Rand zu kehren.
»Ob sie gut durchkommen werden?«, fragte Kiyoshi, der rauchend neben mir auf dem kleinen Balkon vom Studio aus Mamoru beobachtete, wie er am Schippen war. Ich stand neben ihm, rauchte ebenfalls und stützte mich auf dem kalten Geländer ab. Nur ein dicker Cardigan lag auf meinen Schultern, wärmte einen eh schon kalten Körper. Das Rauchen erwies sich mit durchgefrorenen Fingern als wirklich anstrengend.
Im Grunde rauchten wir nur, weil Vater für eine Stunde das Haus verlassen hatte. Früher hätten wir uns die Kleider vom Leib gerissen, um ungehemmten Sex zu haben. Doch seitdem wir den auch so haben konnten – da sich niemand mehr traute irgendetwas dazu zu sagen – kamen andere Laster zum Vorschein, wenn die Bude mal frei war.
»Ich hoffe doch. Wenn es nicht aufhört zu schneien, werden sie wohl erst heute Nacht ankommen. Und Mom fährt nicht gerne bei Nacht«, murmelte ich vor mich hin.
»Notfalls müssen sie eben irgendwo übernachten und kommen morgen«, seufzte Kiyoshi, lehnte sich an meine Brust und küsste sachte meine Lippen. Er schmeckte nach Tabak.
»Wird Alexander aber gar nicht gefallen… Ich glaube, der hat seine Bude vor Aufregung schon drei Mal umgeräumt«, spaßte ich. »So nervös wie ich ihn am Freitag nach Hause hab sprinten sehen? Er riecht wahrscheinlich schon meinen Plan, Jiro zufällig bei ihm zu vergessen.«
»Du kannst ein ganz schön großes Arschloch werden, Zwerg«, bemerkte mein Bruder mit einem breiten Grinsen, während er die Zigarette in ein Stück Alufolie ausdrückte. Aschenbecher gab es in diesem Haushalt natürlich nicht.
»Wenn es um die Liebe geht«, begann ich, sah dabei dramatisch in den schneienden Himmel, »habe ich das Gen von Mom geerbt. Immer einmischen, immer dafür kämpfen. Manchmal muss man Leute zu ihrem Glück zwingen.«
Das ließ Kiyoshi beherzt auflachen. Mom und ihre Arbeit. Ihre Mission.
Es färbte auf mich ab.
Als Vater am späteren Abend wiederkam, Mamoru vom fielen Schippen erschöpft am Karmin saß, rief Mom endlich an.
»Hiro? Hallo Hiro«, begrüßte sie mich recht freundlich. Trotzdem merkte man ihr einen müden Unterton an. »Wir sind jetzt eine Stunde von euch entfernt. Es hört ja wirklich nicht mal auch nur für eine Sekunde auf zu Schneien!«, beschwerte sie sich sofort wieder über das Wetter und schnaubte aus.
»Ja, leider… Aber schön, dass ihr bald hier seid«, murmelte ich in den Hörer meines Handys. Kiyoshi und ich saßen im Wohnzimmer und spielten mit den Bluttabletten so was wie Bierpong.
Da klingelte es an der Tür. Mein Bruder sprang auf und hechtete zur Haustür. Eine dunkle Stimme war zu hören, die mich sofort schmunzeln ließ.
»Habt ihr Besuch bekommen?«, fragte Mom auf der anderen Leitung, da sie das Klingeln vernommen hatte.
»Alex ist gerade gekommen. Hatte auch so seine Probleme mit dem Schnee.«
»Ach je, der arme Mann. Hätte doch nicht kommen müssen. Morgen wäre doch auch noch ein Tag gewesen.«
»Ein verlorener Tag, Mom. Hier zählt jede Minute«, scherzte ich und begrüßte den schwarzhaarigen Mann mit einem Kopfnicken. Seine gepflegte Erscheinung ließ mich breiter Grinsen. Er duftete nach herben Parfüm, trug Hemd und Jackett, eine schwarze Jeans und Lederschuhe. Die Haare lagen gestylt auf seinen Schultern. Das Gesicht frisch rasiert.
Für das langersehnte Wiedersehen konnte er sich also noch in Schale werfen. In Vergleich zu seinem Pennerauftreten der letzten Wochen eine wirkliche Verbesserung.
Mom seufzte auf einmal ins Mikro. »Wir fahren dann mal weiter. Jiro ist auch froh, wenn wir endlich da sind.«
»Das glaube ich euch. Grüß ihn mal lieb und weiterhin gute Fahrt. Wir warten hier auf euch und stellen Essen bereit. Ihr sollt ja nicht verhungern.«
Schließlich legten wir auf. Dass der Kühlschrank wieder mit allen Leckereien gefüllt war, machte auch mir Appetit. Doch als ich heimlich ein Stück Käse gegessen hatte, wurde mir sofort schlecht. Es schmeckte nach Erde und die Konsistenz ließ mich aufstoßen.
So lecker, wie ich Käse in Erinnerung hatte, so eklig empfand ich ihn jetzt. Mit einem traurigen Gefühl hatte ich den Kühlschrank also wieder geschlossen.
»Schön, dass du hier bist. Sie brauchen noch eine Stunde«, begrüßte ich Alexander, schüttelte ihm die Hand und deutete ihm an, dass er sich aufs Sofa setzen könnte.
»Gut«, gab er wortkarg als Antwort und betrachtete argwöhnisch den großen Weihnachtsbaum, den wir neben dem Karmin aufgestellt hatten. »Ihr habt ernsthaft einen Weihnachtsbaum?«
»Ich hatte noch nie einen«, fügte sich Kiyoshi kleinlaut dem Gespräch hinzu und näherte sich dem Baum, den wir vor ein paar Tagen liebevoll geschmückt hatten. »Dieses Weihnachten soll endlich mal schön werden«, murmelte er in seinen Gedanken und strich verliebt über eine goldene Kugel, welche an einem Ast hing.
Alexander sagte daraufhin nichts mehr, sondern setzte sich einfach hin. Wahrscheinlich konnte er anhand Kiyoshis leuchtenden Augen erahnen, dass die letzten Weihnachten nicht so der Burner gewesen waren.
Denn diese sahen bisher immer gleich aus: den ganzen Tag im Zimmer gesessen, bis Vater ihn runtergerufen hatte. Dann gab es ein Geschenk, welches bereits auf dem leer geräumten Esstisch stand. Kiyoshi packte es aus, freute sich über irgendeine dumme Sache, die einfach nur teuer, aber nicht schön war und ging wieder in sein Zimmer. Dort blieb er dann auch für die restlichen Feiertage, bis die Schule im neuen Jahr wieder anfing.
Dieses Jahr sollte alles anders werden: Die ganze Familie in einem Haus – mit einem Weihnachtsbaum. Denn an dem wurde auch die ganzen Jahre über gespart. Selbst Mom und ich hatten einen kleinen Plastikbaum neben dem Sofa in unserer winzigen Wohnung stehen, der jedes Jahr aus seiner Kiste fertig geschmückt geholt wurde. Früher fand ich das ja furchtbar albern. Jetzt hinterließ es ein sehnsüchtiges Gefühl in meinem Magen. Mom und ihre albernen Dekosachen… ich vermisste beides.
»Hast du denn gar nicht geschmückt bei dir?«, fragte ich schließlich, setzte mich zu Alexander auf das Sofa und überschlug die Beine. Die blauen Augen blinzelten noch ein paar Mal in die Richtung von meinem Bruder, bis sie schließlich zufielen.
»Ich mag kein Weihnachten.«
»Wieso nicht?«
»Es ist ein Familienfest. Ich mag Familienfeste generell nicht.«
Das ließ mich doch stutzen. Natürlich konnte ich mir meinen Teil denken; dass Alexander mit seinen Eltern sowieso nicht so dicke war und er gemeinsame Abende so gut es ging vermied.
»Dieses Jahr verbringst du die Feiertage ja mit uns«, grinste ich breit, während ich Kiyoshi dabei beobachtete, wie er einzelne Lamettastreifen auf dem Baum wie ein Perfektionist richtete.
»…und was bitte lässt dich das denken?«, kam murrend von meiner Seite. Alexander hatte entnervt einen Arm über die Lehne des Sofas gelegt und seinen Kopf zu mir gedreht. »Schlimm genug, dass ich einen Fuß in dieses Haus gesetzt habe. Wenn meine Eltern davon erfahren, kann ich gleich umziehen.«
»Keine Ahnung, was deine Eltern gegen uns haben…«, seufzte ich und verdrehte die Augen. In dem Moment kam Mamoru mit einem großen Krug Wein. Ach, nee. War Blut, ich Dummchen.
»Verbringst du Weihnachten also doch bei deinen Eltern?«, hakte ich nach, während Alexander dankend ein Glas annahm.
»Ja. Es war auch nie anders geplant.«
»Schade, ich dachte, wir könnten alle zusammen was machen.«
Kiyoshi hob sofort beide Augenbrauen und sah mich verwundert an. Er konnte wohl nicht ganz verstehen, was ich da von mir gab. Weihnachten mit Alexander? So weit käm's noch.
Denn auch unser Freund schien wenig von der Idee angetan. »Was macht man Weihnachten schon? Zusammenhocken und reden. Reden, reden, reden.«
»Wir könnten ja mal Rodeln gehen«, schlug ich vor und ließ den Kopf auf die Rückenlehne fallen. »War ich das letzte Mal als Kind.«
»Rodeln? So was macht man auch nur als Kind«, rügte mich Alexander, da er die kindische Aktion bereits roch. »Ich setz mich sicher auf keinen Schlitten und fahr irgendwo runter. Albern.«
Spaßbremse. Am Blick meines Bruders konnte ich erahnen, dass er gerne mit mir Rodeln gehen würde. Wenigstens er würde das Kind in sich wahren und den Stock aus seinem Arsch ziehen, wenn ich das nicht schon vorher getan habe. Alexanders Stock steckte wohl noch ziemlich tief drin und würde wohl, solange er kein Alkohol oder andere illegale Substanzen konsumieren würde, erst einmal stecken bleiben.
»Wo ist eigentlich euer Vater?«, fragte Alexander schließlich und blickte sich im leeren Wohnzimmer um.
»Der ist noch in seinem Büro. Arbeitet bis zur letzten Minute, bevor er mal für ein paar Tage den Papierkram niederlegen wird.«
»Löblich«, war alles, was Alexander ausspuckte. Er tat gerade so, als würde er da von sich selber sprechen. Dabei gab's für den doch nur Party und Weiber. Soll mal nicht so tun, als würden die letzten Jahre seit seiner beschlossenen Abstinenz unter den Tisch fallen.
Irgendwann kam Dad dann doch runter und reichte Alexander recht höflich die Hand. Selbst unser Freund zeigte wieder bürgerliche Manieren, obwohl er uns kurz vorher wieder in abgrundtief asozialer Sprache erzählt hatte, was Rose und Sam so im Club trieben.
Und wie eine Punktlandung, quietschte Kiyoshi nach knapp 50 Minuten seit dem Telefonat mit Mom auf, als er durch das große Fenster des Wohnzimmers blickte. »Sie sind da!«
Ich stand vom Sofa auf, ging zu meinem Bruder und sah das hässliche, kleine Auto, welches bereits unter den Massen von Schnee verschwand.
»Wieso parkt sie nicht in der Tiefgarage?«, raunte Dad sofort auf und deutete Mamoru an, dass er die beiden in die Garage schicken soll. »Wieso fährt sie überhaupt so ein … Auto?«
»Mom eben. Sie liebt ihren Kleinwagen über alles«, kicherte ich, wissend, dass Dad ihr genug Geld ließ, um sich ein anständiges Auto holen zu können.
Ohne weiter zu antworten, ging Vater nervös in den Eingangsbereich und zubbelte seinen Anzug zurecht. Kiyoshi hüpfte in seinem großen Pullover hinterher und grinste bereits gegen die Tür. Wie ein Kind freute er sich auf Mom und Jiro. Wahrscheinlich freute er sich einfach darauf, die komplette Familie um sich zu haben; wo er doch so viele Jahre alleine war.
Ich hingegen seufzte nur, sah dann das Auto in der Tiefgarage verschwinden, nachdem Mamoru die Tore geöffnet hatte. Erst, als ich mich in Bewegung setzen wollte, den Cardigan gerichtet und in Richtung Tür gesehen hatte, bemerkte ich den super nervösen Alexander noch immer auf dem Sofa sitzen. Fast krampfhaft umschlang er die Sofalehne mit seinen Händen.
»Komm, Alex, sie werden mit dem Aufzug kommen«, deutete ich meinem Kumpel an, dass er sich vom Sofa erheben müsste, um den Besuch in Empfang nehmen zu können.
»Hm«, brummte er nur und schluckte sichtlich angespannt einen Kloß runter.
Belustigt sah ich zu, wie Alexander sich vom Sofa erhob, das Sakko richtete und räusperte. Schließlich folgte er mir zu den anderen in die Empfangshalle, als würde ich ihn zum Schafott geleiten. Solchen Situationen war der coole Vampir wohl sonst nicht ausgesetzt. Zumindest schien er üblicherweise keinen menschlichen Besuch zu erwarten, auf den er bereits seit Wochen hinfieberte.
Während wir also wie Hühner auf der Stange im Foyer standen, ich Kiyoshis Hand hielt, was eher missmutig von Vater beäugelt wurde, hörten wir Stimmen aus dem Aufzug kommen. Das Gefährt bewegte sich, bis es schließlich im Erdgeschoss zum Stehen kam. Mamoru kam aus den sich öffnenden Türen mit zwei Koffern, welche er vor sich herschob, bemerkte uns nicht weiter und verschwand schließlich im Wohnzimmer. Da entdeckte ich die beiden.
Mom und Jiro traten dann schließlich ebenfalls aus dem Aufzug. Beide sahen recht müde aus; geknautscht von der Fahrt.
Ich hörte Vater erleichtert aufseufzen, als er Mom sah. Wie immer trug sie ein furchtbares Outfit. Zu meiner Überraschung jedoch nicht das rote Kostümchen, welches sie sonst immer für wichtige Anlässe trug. Wahrscheinlich war es ihr zu unbequem für die Fahrt gewesen. Stattdessen kam sie mit weißer Stoffhose und beigem Pullover auf uns zu. Und obwohl Vater so freundlich lächelte, überließ er mir und Kiyoshi den Vortritt sie zu begrüßen. Stattdessen ging er gemütlich zu Jiro und schüttelte ihm liebevoll die Hand, um ihn Willkommen zu heißen. Ehe ich mich also mit meinem Kumpel beschäftigen konnte, wurde ich von meiner kleinen Mom gedrückt.
»Hallo Hiro Schatz«, begrüßte sie mich seufzend und schloss sogar für einen Moment die Augen, als sie mich in ihren Armen hielt. Liebevoll strich ich über ihren warmen Rücken. Es war furchtbar angenehm… einen Menschen zu halten.
»Hallo Mom. Schön, dass ihr hier seid!«
Kiyoshi wurde auch kurz umarmt – wenn auch nicht ganz so überschwänglich wie ich. Die langjährige Distanz schien noch immer in den beiden zu stecken.
»Schön, dich auch wieder zu sehen. Selbst wenn wir uns damals nur kurz kennen gelernt haben«, begrüßte Mom zu meiner Überraschung den hinter uns stehenden Alexander. Der schien wie aus einer Trance erwacht zu sein, räusperte sich und reichte Mom die Hand. Unsicher schüttelte er sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite.«
Überrascht, wie gut Mom unserer Aura trotzte, beobachtete ich das Schauspiel, wie sie zwischen drei großgewachsenen Vampiren stand. Und generell die einzige Frau der Runde war.
Schließlich drehte sich Mom zu Dad um, der geduldig neben uns stand, und lächelte ihn an. Es war ein Wiedersehen nach so vielen Jahren, welches nicht spurlos an den beiden vorübergegangen war. Vielleicht war das sogar das erste Treffen seit der Trennung? Sie ging vorsichtig zu ihm – war gefühlt zwei Köpfe kleiner als er – und sah sehnsüchtig in sein Gesicht. Ich spürte sofort, was Dad da für sich wirken ließ: seine vampirische Aura. Wollte er sie also zurückgewinnen? Oder war es ein Willkommensgeschenk, dass sich Mom für die nächsten Tage wohlfühlen sollte? Eine Art Versprechen, dass er sich bemühen wird, ihr eine schöne Zeit zu bescheren? Auf jeden Fall lag da was in der Luft und es ließ mich für einen Moment erleichtert ausatmen.
»Hero«, flüsterte eine leise Stimme in meine Richtung. Sofort sah ich in die glücklichen Augen meines Kumpels, den ich seit so vielen Monaten nur über den Videochat gesehen hatte. Er wartete bereits neben mir und öffnete seine Arme für eine Umarmung.
»Jiro, Alter«, begrüßte ich ihn überschwänglich, fiel ihm um den Hals und drückte ihn an mich. Sofort spürte ich seinen Herzschlag, roch seinen Geruch und erinnerte mich an alles, was ich jemals mit ihm durchgemacht hatte. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit, während Jiros Hände über meinen Rücken strichen.
»Das war viel zu lange…«, wimmerte Jiro leise in mein Ohr, sodass ich für einen Moment glaubte, er würde weinen. Als wir uns jedoch lösten und ich in zwar gerührte, aber nicht feuchte Augen blickte, atmete ich erleichtert aus.
»Auf jeden Fall. Jetzt bist du ja hier. Und zwar für ganze 1,5 Wochen!«
Jiro lachte herzlich auf und nickte glücklich; drehte sich schließlich zu meinem Bruder, der bereits hinter mir hervorgekrochen kam und sich um seinen Hals legte.
»Hallo Jiro!«, grinste er unserem Freund entgegen, schlang die dünnen Arme um seinen Nacken und schmiegte sich an ihn.
»Hallo Hero-2«, scherzte Jiro, zwinkerte Kiyoshi dann zu, der belustigt die Augen verdrehte. Irgendwie ging die ganze Begrüßung recht schnell von statten, als wären wir immer noch auf der Flucht und hätten keine Zeit für große Reden. Wissend, worauf ein gewisser jemand schon die ganze Zeit sehnsüchtig wartete, kommentierte ich die fluchtartige Begrüßung nicht weiter, steckte meine Hände in die Hosentaschen und nahm etwas Abstand.
Jetzt kam endlich der Moment, auf den ich die ganzen Wochen hingearbeitet hatte. Genau jetzt, wo Alexander noch wie ein kleiner Junge hinter uns stand und Jiro nervös beobachtete.
Als mein Bruder sich dann neben mich gesellte, einen Arm in meinen einhakte und gespannt in dieselbe Richtung wie ich blickte, wurde es still um uns. Mom und Dad waren bereits ins Wohnzimmer gegangen, wo ich sie leise sprechen hörte. Mamoru deckte den Tisch, damit die beiden Menschen nicht verhungern würden, und rannte zwischen den Türen hin und her.
Alexander blieb still auf seinem Fleck stehen. Regte sich nicht, starrte einfach nur in Jiros Richtung. Der blickte sich noch im Foyer um, unterdrückte wahrscheinlich einen raunenden Kommentar, wie groß das Haus war. Letztendlich blickte er dann in Alexanders Richtung; sichtlich überrascht.
»Alexander? … du bist ja auch hier…«, murmelte er mit großen Augen und kam einige Schritte auf den Vampir zu. Hatten die beiden also nicht miteinander gesprochen?
Alexander wollte zum Wort ansetzen, sah zu Boden, suchte nach einer Erklärung und nickte schließlich nur. Was ein Stoffel, dachte ich. Da haben wir so viele Wochen an dieser Beziehung gearbeitet und Alexander bewegte sich keinen Millimeter auf Jiro zu. Wo war hier der großkotzige Macker hin, der Frauen bereits mit einem Wort gefügig machen konnte?
»Das ist aber eine schöne Überraschung! Schön, dich zu sehen…«, murmelte Jiro weiter und kam lächelnd auf die erstarrte Salzsäule zu. Blaue Augen wurden auf einmal ganz groß, beobachteten die Bewegungen von Jiro und blinzelten angeregt in seine Richtung.
Ich dachte schon, die Begrüßung würde wie der Abschied enden: versteift und absolut nicht liebevoll. Erzwungen.
Doch Jiro ließ sich nicht weiter beirren, tat wahrscheinlich einfach das, was er schon die ganzen Wochen tun wollte, und schlang mit einer sehnsüchtigen Bewegung seine Arme um Alexanders Nacken. Der erstarrte gefühlt erneut in seinen Bewegungen, als er den warmen Körper von Jiro spürte. Es war einfach lächerlich, wie die beiden miteinander umgingen. Als wäre der jeweils andere eine Porzellanpuppe.
Ich wollte schon einen giftigen Kommentar in Alexanders Richtung loslassen, als der sich endlich in Bewegung setzte und die liebevolle Umarmung erwiderte. Vorsichtig strich er mit den Händen über Jiros Rücken, zog dabei ein kleines Stück seines Langarmshirt hoch. Wie in Zeitlupe beugte sich Alexander nach vorne, steckte seine Nase in Jiros Halskuhle und sog seinen Duft ein. Jiros Griff verstärkte sich, sodass er seine Hände in die schwarzen, welligen Haare von Alexander vergrub.
Die vorher angespannte, fast befremdliche Stimmung änderte sich schlagartig in eine liebliche, fast erotische Atmosphäre, sodass ich Kiyoshi an der Hand von den beiden subtil wegzog.
»Komm, wir gehen zu Mom und Dad…«, flüsterte ich, um das junge Pärchen allein zu lassen. Mein Bruder verdrehte nur die Augen bei meiner offensichtlichen Mission, die Liebe der beiden gedeihen zu lassen.
*
»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du auch hier bist?«, flüsterte der Mensch sinnlich in Alexanders Ohren. Dieser seufzte einfach nur schwermütig, genoss die lange Umarmung und dachte gar nicht mehr daran, Jiro loszulassen.
»Ich wusste noch nicht, ob ich es wegen dem Schnee schaffen würde…«, log der Vampir und schloss die Augen. Natürlich war von Anfang an klar, dass er das Haus der Kabashis betreten und damit seinen inneren Schweinehund besiegen würde, nur um seinen Freund in Empfang nehmen zu können. Denn genau diesen Moment, in dem er Jiro wieder in den Armen halten konnte – ohne Blut, ohne Leid und ohne Angst –, hatte er herbeigesehnt und hielt ihn seither wie den heiligen Gral tief in seinem Herzen fest.
Jiro schmunzelte auf Alexanders Antwort hin einfach nur, dachte sich seinen Teil und streichelte liebevoll über die schwarzen Haare. Der herbe Duft, den Alexander um weitere zehn Einheiten männlicher wirken ließ, machte den Menschen ein wenig nervös. Viel zu lange war es her, wo er diesem Mann so nahestand. Das letzte Mal im Krankenhaus und am Flughafen, wo die Ereignisse noch ihre Spuren an ihnen hinterlassen hatten. Und als würden diese Erinnerungen wieder real werden, klammerte sich der Mensch an den großgewachsenen Vampir, der ihn noch immer sanft in seinen Armen hielt.
Erst, als die Stimmen im Wohnzimmer lauter wurden, die Mutter von den Zwillingen lachte, lösten sich die beiden Männer aus ihrer gefühlt schier unendlich langen Berührung und sahen sich tief in die Augen. Jiro lächelte sanft, konnte jedoch nicht lange in die eisblauen Augen sehen, die noch immer starrend auf ihm hafteten. Stattdessen fiel sein Blick auf Alexanders Mundpartie.
Sollte er es tun? Jetzt? Doch, was, wenn Alexander das nicht wollen würde? Sie hätten außerdem keine Gelegenheit gehabt, weiter darüber zu sprechen. Aber wie viel gab es denn da noch zu besprechen? Gefühle, von denen Jiro glaubte, sie wären damals nur aus dem Affekt entstanden, holten ihn wie ein Hammerschlag ein und fühlten sich realer denn je an.
Der Vampir erstarrte schlagartig wieder zur Salzsäule, als er Jiros Blick wahrnahm. Eigentlich, so dachte er sich, war es wie im Kindergarten. Keiner der beiden traute sich einen Schritt weiter zu gehen, weil er Angst hatte, der jeweils andere könnte ihn abweisen. Dabei standen die Fronten doch – besonders nach dieser liebevollen Umarmung – eindeutig offen.
Wieder einmal, wie damals auf dem Flughafen, legte Jiro seine Stirn auf Alexanders, sah verträumt in seine Augen und lächelte erneut auf. Solche Situationen hatte er bisher mit noch niemandem durchlebt. Selbst seinen damaligen Freundinnen hatte er diese romantische Ader nicht gezeigt. Wieso auch? Er war ein Punk, das war 'ne Einstellung, dachte sich Jiro und blinzelte angeregt in die Augen seines Partners, die die bedeutsame Geste des Menschen dankend annahmen. Es war eine Einstellung, die, sobald dieser Mann es verlangen würde, anfing zu Bröckeln. Hiro hatte schon Recht: Alexander hatte seine Finger im Spiel, wenn es um die Piercings oder die generelle Erscheinung ging.
Jiro hatte sich sogar extra neue Schuhe gekauft. Normale. Schwarz, aus Leder. Nur, falls er mit seinen Freunden in ein gehobenes Metier gehen würde, damit er sich anpassen und Alexander nicht schlecht dastehen lassen würde.
»Gehen wir…?«, fragte Alexander dunkel, strich ein letztes Mal über Jiros Oberarm. Sofort nickte der Mensch, löste sich von seinem Freund und grinste breit.
»Ich habe einen Bärenhunger. Und es riecht schon so gut…«, murmelte Jiro, als er sich langsam in Bewegung setzte, um zu den anderen ins Wohnzimmer zu gehen.
»Dann iss genug. Du sollst ja nicht vom Fleisch fallen.«
Alexanders Scherz wurde nur mit einer schiefen Kopfbewegung und einem Lächeln hingenommen. Und für einen Moment war sich Jiro sicher, dass der Vampir nach seiner Hand greifen wollte, um mit ihm gemeinsam den Raum zu betreten; wurde sich aber sofort bewusst, dass sowohl Hiro, als auch alle anderen mit dieser Geste über eine Beziehung aufgeklärt geworden wären, dessen die beiden selber noch nicht so ganz sicher waren.
Das Essen roch wirklich fantastisch, sodass ich doch immer wieder gewillt war, Jiro einige Happen vom Teller zu klauen. Für Kiyoshi und Alexander, sowie Vater und Mamoru, schien das alles weniger interessant gewesen zu sein. Wer den Geschmack von Reis mit Hähnchen in süßer Currysoße nicht kannte, würde ihn auch nicht vermissen, wenn er die Pampe auf einem Teller sehen würde.
»Wie war die Fahrt denn sonst? Hattet ihr Stau?«, fragte Vater schließlich sehr ruhig, während er auf seinem Sessel saß und souverän ein Rotweinglas mit dementsprechender Flüssigkeit schwenkte. Eine Geste, die mich abermals Schmunzeln ließ. Wollte er also tatsächlich einen auf dicke Hose machen, um Mom zu beeindrucken? Was auch immer seine Intention war – es funktionierte. Sie hing ihm wahrlich an den Lippen, während sie ihren echten Weißwein trank.
»Gott sei Dank keinen Stau. Bei dem Wetter trauten sich kaum Autos auf die Straßen. Selbst bei uns im Süden hat es ein wenig geschneit. Es ist aber nichts liegen geblieben«, erzählte Mom fröhlich, interessierte sich dabei nur für die Augen von Dad und überschlug ihre Beine, während sie gelassen auf dem kleineren der beiden Sofas saß. Wahrscheinlich, so ging ich mal von aus, hatte sie den Stil und die abgehobene Art sehr vermisst; wo es doch immer ihr Wille war, genau so zu sein. Reich und erfolgreich. Mit teuren Möbeln um sich herum. Fehlte nur noch das Ikebana auf dem Esstisch. Und je länger ich diesen langen, massiven Mahagoniesstisch ansah, wurde mir bewusst, dass ein bisschen Grünzeug ihm stehen würde.
Ich hatte mich neben Mom gesetzt, Kiyoshi auf meinem Schoß. Zwar sah ich an Dads Blick, dass ihm das so gar nicht passte, aber an Moms Gelassenheit kam er langsam ran. Immerhin hatten uns bereits beide Elternteile in flagranti erwischt; da war ein einfaches "Auf-Dem-Schoß-"Sitzen kein Problem mehr.
Während sich Mom und Dad angeregt über die Fahrt und andere uninteressante Dinge unterhielten, sah ich schmunzelnd zu den zwei frisch Vermählten. Die kamen nämlich mit einem solch breiten Grinsen ins Wohnzimmer, dass man fast hätte annehmen können, sie hätten schnell einen Joint geraucht. Natürlich hatten sie das nicht – Liebe war eine genauso gute Droge. Seitdem saßen sie wie Turteltäubchen auf dem anderen Sofa und schwiegen. Alexander wollte wohl besonders cool sein und hatte deswegen einen Arm über die Rückenlehne gelegt, während er die Beine überschlagen hatte. Natürlich fiel mir sofort auf, dass es der Arm war, unter dem Jiro saß. Das subtile "hin und wieder über die Haare streicheln" folgte selbstverständlich ebenfalls.
»Wie wär's, wenn wir euch beiden mal das Haus zeigen, hm?«, schlug ich vor und hob beide Augenbrauen. Die anfängliche Unsicherheit, die sich bis auf spärlichen Körperkontakt in sonst keinerlei Interaktionen zeigte, musste sich dringend auflösen.
»Ja, wieso nicht?«, grinste Jiro mir sofort entgegen und nickte aufgeregt. Alexander hingegen schob die Augenbrauen zusammen, als würde er der Hausführung eher skeptisch gegenüberstehen. Wahrscheinlich hatte er auf die Mitnahme seines Freundes zu sich nach Hause spekuliert, die mit der Vertrautheit des Hauses in eine weite Ferne rückte.
Aber keine Angst Alexander, dachte ich, mir fällt schon was ein.
Kiyoshi stand sofort von meinem Schoß auf, ging schon einmal vor und wartete auf die anderen beiden, nachdem auch ich das Wohnzimmer verlassen hatte. Alexander und Jiro folgten nur recht langsam, wenn auch zu meiner Überraschung Arm an Arm. Jiro hatte sich bei Alexander eingehakt und grinste mir entgegen.
»Dein zeig mal deine Villa, Hero«, spaßte er und zwinkerte mir zu, wissend, dass es nicht meine Villa war.
»Küche und Tiefgarage ist wohl eher uninteressant«, begann ich nachdenkend und deutete auf die zwei Eingänge im Erdgeschoss, wedelte weiter mit der Hand um mich, während Kiyoshi bereits die ersten Stufen hochging. »Wohnzimmer und Esszimmer kennt ihr ja auch. Gehen wir hoch, da sind mehr interessante Sachen. Auch für dich Alex«, grinste ich den murrenden Anhang neben Jiro an.
»Solange du uns nicht deine Sexspielzeuge zeigst, soll mir alles Recht sein«, schnauzte er leise und ließ sich von seinem Partner mitziehen. Der sah ihn mit großen, mahnenden Augen an, dass er nicht einfach wieder losplärren sollte, um schlechte Laune zu verbreiten.
»Keine Angst. Es würde nichts sein, was du nicht schon kennen würdest«, antwortete ich recht kühl und hob beide Augenbrauen, während wir alle die Treppe hochgingen. Alexander hatte mit Sicherheit schon mehr Dinge in seinem Leben in der Hand gehalten und sie zum sexuellen Vergnügen eingesetzt, als ich mir jemals hätte ausdenken können.
Oben angekommen deutete Kiyoshi direkt zum Studio. »Das ist unser kreativer Raum. Da stehen Instrumente und Leinwände drin. Falls hier also jemand mal kreativ sein will…«, erklärte mein Bruder recht detailliert und wollte schon zu weiteren Ausführungen ansetzen, als sich zwei Köpfe schüttelten.
»Ich bin absolut nicht kreativ«, gab Jiro zu und grinste über seine eigene Unfähigkeit einen Stift zu halten oder eine Note zu lesen.
»Ich auch nicht«, stimmte Alexander mit ein und hob die Schultern. »Ich wurde gezwungen, Klavier zu spielen. Seitdem sehe ich solchen Dingen nicht mehr so entspannt hinterher.«
»Deine Eltern haben schon einen leichten Knacks, oder?«, hakte ich mit verschränkten Armen nach und schüttelte den Kopf über Alexanders Erfahrungen mit der Musik.
»Frühmusikalische Erziehung nennt man das auch«, brummte mir Alexander entgegen und seufzte genervt. Da er mir jedoch nicht widersprach, ging ich davon aus, dass ich mit meiner Vermutung Recht hatte und seine Eltern in manchen Beziehungen schon manchmal eine Schraube locker hatten.
Kiyoshi drehte sich schlussendlich enttäuscht wieder um und betrat die andere Seite des Gangs. Hier öffnete er einfach die verschiedenen Türen, ließ uns kurz reinschauen und erklärte, was sich dahinter befand.
»Bad. Kann man übrigens nicht abschließen…«, murrte er.
»Hier kann man keine Tür abschließen«, fügte ich hinzu, während wir vier durch den matt belichteten Gang gingen.
»Wieso nicht?«, fragte Jiro nach, der sich einige Zentimeter näher an Alexander schmiegte. Wahrscheinlich war ihm der gruselige Gang genauso unangenehm wie mir am Anfang meiner Reise, als ich ihn das erste Mal betreten hatte.
»Sagen wir… eine spezielle Person in diesem Haus hatte die Angewohnheit sich einzuschließen, um dahinter dumme Dinge zu tun, weswegen Vater –«, begann ich, wurde jedoch von Kiyoshi unterbrochen, indem er stehen blieb und mich finster ansah.
»Man kann einfach nicht abschließen. Ist doch auch kein Problem, oder?«, fragte er harsch und zog seine Lippen in eine strenge Linie.
»Alles gut. Ich habe nur Jiros Frage beantwortet«, hob ich entschuldigend die Hände und wollte Kiyoshi zur Versöhnung einen Kuss geben, den er jedoch mit einer Kopfdrehung abwendete.
Diva.
Laut seufzend folgte ich meinem beleidigten Bruder und schob die Hände in meine Jeans. Alexander und Jiro blieben für einen Moment stehen und sahen sich verstohlen um. Wahrscheinlich war ihnen unser kleiner "Streit" ein wenig unangenehm gewesen.
»Was glaubst du, was Hiro damit meinte?«, flüsterte Jiro seinem Partner zu. Auch wenn er bemüht war, leise zu sprechen, hörten wir natürlich alles. So groß war der Gang nun auch wieder nicht.
»Kiyoshi hat gerne an sich rumgeschnibbelt«, brummte Angesprochener recht kühl und setzte den Gang fort. Alexanders nüchterne Antwort ließ selbst mich zusammenzucken. Auch wenn es vielleicht irgendwo albern erschien, dass ein Junge, der alles hatte und alles durfte, depressiv wurde, war es doch eine ernst zu nehmende Tatsache, dass sich Kiyoshi geschnitten und damit selber verletzt hat. Dass er an den Tod dachte und es wahrscheinlich in manchen Momenten immer noch tat. Ich wollte mir an solchen Tagen nicht auch nur vage ausmalen, was passieren würde, wenn irgendwann mal zwischen uns beiden Schluss und er wieder alleine mit seiner Trauer wäre.
Doch als Kiyoshi unser, beziehungsweise ursprünglich mein Zimmer, öffnete und sich wortlos an mich lehnte, um mich in den Arm zu nehmen, war ich mir sicher, dass es keinen Grund gab, über ein Ende nachzudenken. Kiyoshi würde sich nicht mehr verletzen. Er würde nicht mehr gehen wollen, solange ich da war. Und egal, wie oft wir uns streiten würden, die Liebe, die uns verband, würde nicht einfach so schwinden. Dafür war das Band zwischen uns einfach zu stark geworden.
»Ist das euer Zimmer?«, fragte Jiro über das letzte Thema etwas angespannt nach und sah sich im zugegeben etwas unordentlichen Zimmer um.
»Genau«, murmelte ich und öffnete die Tür ein Stück mehr, um auch Alexander rein zu lassen.
»Euer Vater erlaubt euch ein gemeinsames Zimmer? Der weiß aber schon, was ihr hier drin macht?«, hakte er überrascht nach, als er die zwei Bettdecken auf dem Bett vernahm, die ihn darüber aufklärten, dass wir auch in einem Bett schliefen.
»Weißt du, es gibt so etwas wie Privatsphäre. Und an die hält sich Dad eigentlich recht gut, seitdem wir wieder hier sind«, schnauzte ich Alexander giftig an.
»Na, habt ihr ein Glück, dass Inzucht in eurer Familie toleriert wird.«
»Was willst du damit sagen?«, hakte ich nach diesem spitzen Kommentar nach und formte meine Augen zu schlitzen.
»Hallo? Könnt ihr mal aufhören?«, schaltete sich Jiro energisch dazwischen. »Ihr seid nur am Streiten!«
»Alexander muss seine aufgestaute Wut nun an mir auslassen, wo er dich ja jetzt wie seine geliebte Prinzessin behandelt«, spottete ich belustigt auf, wissend, dass ich wieder etwas Salz in die Wunden der beiden streute.
»Jetzt mal schön langsam hier, Freundchen«, drohte mir Alexander auf einmal und kam näher an mich ran, um den Schlägerassi raushängen zu lassen. »Ich habe noch nicht mal angefangen meine aufgestaute Wut an dir ausgelassen.«
Das ließ mich süffisant und gleichzeitig bitter auflachen. »Für diesen Teil solltest du dir vielleicht auch lieber wieder Jiro nehmen.«
Der Witz, der hinter diesen Worten steckte, versetzte Alexander in eine plötzliche Starre, sodass ich einer Schlägerei aus dem Weg gegangen war. Es war nicht sehr fair von mir Alexanders Geständnis auf etwas Gewalt beim Sex zu stehen gegen ihn zu verwenden, aber seine ruppige Art mit mir umzugehen ging mir langsam gegen den Strich.
Jiro hingegen schob beide Augenbrauen zusammen und sah mich verwirrt an. Sein Blick mahnte und fragte zur gleichen Zeit.
»Jedenfalls«, begann mein Bruder wie aus dem Nichts zwischen uns her zu laufen. »Mein altes Zimmer ist dann dein Zimmer, Jiro.«
Kiyoshi setzte sich etwas von den Streitereien entnervt in Bewegung und schlurfte zu seinem alten Zimmer, vor dessen Tür ich schon viele nervöse Momente verbracht hatte. Alexander schnaubte einfach nur aus, warf mir noch einen vernichtenden Blick zu und folgte Kiyoshi schlecht gelaunt. Auch die anfängliche Sehnsucht, die er Jiro schenkte, schien nach dem Terz verflogen zu sein, da er ihn einfach im Raum stehen ließ. Ohne Händchen und ohne Einhaken. Alexander wollte damit wohl beweisen, dass er Jiro keineswegs wie seine Prinzessin behandelte. So ein Unsinn.
Kiyoshi öffnete sein zugegeben recht leer geräumtes Zimmer und ließ freien Blick auf eine geordnete Einrichtung. »Hier ist genug Platz. Kannst auch den Schrank benutzen, da sind nur noch ein paar Jacken von mir drin. Schieb die einfach zur Seite«, erklärte er in einem ruhigen, wenn auch gelangweilten Ton. Die distanzierte, etwas hochnäsige Art von ihm kam mit einem Schlag wieder raus. Als hätte er in seinem Leben noch nie vorher gelacht.
Jiro ließ sich nichts weiter anmerken, ignorierte die grundsätzlich schlechte Stimmung und sah sich kopfnickend im Zimmer um. »Wirklich schön hier. So viel Platz wünsche ich mir mal in unserer Wohnung im Süden…«
»Was sagt eigentlich deine Mom dazu, dass du über Weihnachten und Silvester hier bist?«, fragte ich und versuchte es Jiro mit dem Ignorieren der unangenehmen Situation gleich zu tun.
»Sie war nicht so begeistert. Aber ich glaube, mehr wegen der langen Fahrt. Denn tendenziell wirkte sie nicht allzu traurig. Ich glaube, sie hat sich jemand Neues angelacht«, grinste Jiro mir entgegen. »Wahrscheinlich will sie mit ihm die Feiertage alleine verbringen.«
»'nen neuen Macker? Echt?«, fragte ich erstaunt, hob beide Augenbrauen und ging lachend weiter auf Jiro zu, legte einen Arm um seine Schultern. Mein Kumpel ließ den Kopf kreisen und sah verspielt genervt an die Decke.
»Ja, irgendwie ist der ein bisschen komisch… Aber wo die Liebe hinfällt.«
»Genau…«, murmelte ich, als ich den bösen Blick von Alexander in meinem Nacken spürte. Ich hielt Jiro für seinen Geschmack wahrscheinlich schon zu intim. »…wo die Liebe hinfällt.«
»Hero…«, murmelte Jiro wissend, worauf ich hinaus wollte, und sah mich mahnend mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Lass es.«
»Ich mach doch gar nichts!«
Sofort nahm ich meinen Arm von Jiros Schultern und ging affektiert an Alexander und Kiyoshi vorbei, um den Raum zu verlassen. In dem Moment sah ich Mamoru wieder mit der Schneeschaufel hantieren. Seufzend ging er durch das Foyer und zog einen schweren Streusalzsack mit sich.
»Ist es schon wieder so viel Schnee, Mamoru?«, fragte ich vorsichtig und kam langsam die große Marmortreppe hinunter, wo mich sofort zwei erschöpfte Augen ansahen.
»Leider ja, junger Herr Hiroshi. Wir sind schon wieder eingeschneit«, bemängelte er den vielen Schneefall und öffnete die Haustür, aus der eine kalte Brise hineinwehte. Sofort erblickte ich die Massen an Schnee, die sich bereits auf den Stufen gebildet hatten. Weiter weg, neben der großen Einfahrt, erblickte ich einen großen Haufen aufgetürmten Schnee. Als ich näherkam, Mamoru bereits an den Treppen anfing Schnee zu schippen, deutete ich auf den großen Berg.
»So viel hast du schon weggeschippt? Mamoru, überarbeite dich nicht…«
Doch als unser Butler sich zum Hügel drehte, schüttelte er energisch den Kopf. »Nicht doch. Den Schnee würde ich niemals auf die Auffahrt kehren. Ich beseitige ihn hinter dem Haus.«
»Was is'n das dann?«, murmelte ich und ging einige Schritte weiter an die Tür, um den Berg zu inspizieren.
»Mein Auto…«, brummte es sofort dunkel hinter meinem Ohr. Alexander sah knirschend nach draußen und seufzte schließlich, als er den Berg Schnee sah.
»Da ist dein Auto drunter?«, lachte ich sofort belustigt auf, handelte mir allerdings nur einen bösen Blick ein.
»Ja, was sonst?«, knurrte er mir entgegen und verschränkte die Arme. »Räum ich nachher frei…«
»Lass es«, hörte ich Jiro von weiter weg sagen. Er kam gerade mit Kiyoshi die Treppe runter und gesellte sich zu uns an die Haustür, wo Mamoru noch immer am Kehren war. Langsam verschränkte er dich Arme und lehnte sich an die offene Tür. »Selbst, wenn du das Auto frei bekommst, würdest du es nie und nimmer aus dieser Schneegrube bewegen können. Da bräuchtest du Schneeketten. Und ich schätze mal, die hast du nicht dabei, oder?«
Alexander brummte noch einmal auf, sah verkniffen auf den Schnee und schob die Augenbrauen zusammen, sodass seine Zornesfalte ausgesprochen tief auf seiner Stirn lag. »Ich habe keine dabei, ja…«
»So ein dummer Zufall, dass du hier nicht wegkannst«, begann ich zu summen und grinste Alexander vielsagend an. Der verstand meinen Blick wohl erst nicht so ganz, wollte schon zum Gegenkommentar ansetzen, als er die Erleuchtung bekam, was ich damit sagen wollte.
»Wir haben genug Zimmer, du kannst ruhig hier schlafen«, murrte Kiyoshi und stand recht teilnahmslos neben der Gruppe.
»Danke…«, kam es von Alexander, dessen Miene sich von Sekunde zu Sekunde entspannte. »Ein Zimmer wäre nett.«
»Oh man, Alex«, entwich es mir mit verzweifelten Unterton. Wieso ging er nicht auf meine Andeutung ein? Und wieso in Gottes Namen, orderte er ein eigenes Zimmer?
Freundschaftlich schlug ich Alexander auf die Schulter, ging seufzend an ihm vorbei und verdrehte die Augen. Mom kam in dem Moment aus dem Wohnzimmer, spähte zu uns rüber.
Sofort unterrichtete ich sie über Alexanders Übernachtung. Auch Dad nickte zustimmend und versprach unserem Besuch natürlich ein Zimmer zu stellen. Kam denn hier niemand auf die Idee, auf die ich kam?
Als Alexander und Jiro im Wohnzimmer saßen, sich endlich mal nett unterhielten (wenn auch zugegeben manchmal recht zynisch; diese Eigenart werden die beiden wohl nie los), ging ich mit Kiyoshi in die Küche, um kleine Snacks zu holen. Nachdem mein Bruder einige Plätzchen aus der Verpackung gerissen und sie müde in eine Schüssel geschüttet hatte, gesellte ich mich direkt neben ihn an die Kücheninsel.
»Alles klar?«
»Hm«, brummte er missmutig, zuckte mit den spitzen Schultern und stellte die Tüte mit den Keksen weg.
»Was ist los?«, hakte ich vorsichtig nach, strich über seine Arme und schob seinen Pullover ein wenig zurecht. Er schlackerte, wo es nur ging. Dabei gehörte er eigentlich mir – hatte also meine Größe; bei Kiyoshi jedoch immer noch gefühlte 3 Nummern zu groß.
»Weiß nicht. Bisher fühlt sich Weihnachten nicht so toll an.«
Sein Blick wanderte traurig zu Boden, sodass ich nicht in seine Augen sehen konnte.
»Wir haben ja auch noch nicht Weihnachten. Lass dich nicht von Alexander verstimmen.«
»Eigentlich geht es mir gar nicht so um ihn…«
Vorsichtig hob ich beide Augenbrauen. »…Sondern?«
Und als hätte Kiyoshi nur auf diese von mir plump gestellte Frage gewartet, schubste er die Keksschüssel einige Zentimeter von sich und sah wütend in mein Gesicht.
»Du steckst mehr Energie in die Beziehung von Fremden! Das verstimmt mich!«
Der Vorwurf kam ehrlich gesagt nicht sehr überraschend von Kiyoshi, sodass ich die Lippen aufeinanderpresste; wissend, dass ich nicht in der Position war, genau diesen Vorwurf zu dementieren. Anstatt mir genug Zeit zu geben, eine begründete Entschuldigung aus meinen grauen Zellen zu kramen, meckerte Kiyoshi einfach weiter.
»Es geht seit Wochen nur noch um Jiro und Alexander! Dass sie sich streiten, sich gernhaben, dies oder das machen! Es ist schon okay, dass du dich für deinen besten Freund einsetzt, aber…«, und da wedelte er mit seinem Arm durch die Gegend, »…du bleibst mit unserer Beziehung total auf der Strecke.«
»Kiyoshi… es tut mir leid. Ich dachte nur, dass du momentan mit dem Kopf eh woanders bist… also…«, stotterte ich zugegeben nicht sehr professionell vor mir her. War das etwa unser erster richtiger Streit? Dabei verbrachten wir doch so viele Momente gemeinsam, sodass ich immer davon ausgegangen war, Kiyoshi könnte sich wegen mangelnder Aufmerksamkeit gar nicht beschweren.
»Ich habe abgeschaltet, weil ich das Thema nicht mehr hören konnte… Eigentlich dachte ich, würde deine Euphorie, die beiden zu verkuppeln, mit dem Besuch von Jiro endlich mal abebben, aber irgendwie geht es auch heute nur noch um die beiden. In jedem Satz von dir drückst du sie in deine Liebesschublade.«
Die Worte von meinem Partner stachen ein wenig in meiner Brust. Dass er all die Tage, vielleicht Wochen sogar, wegen mir so still geworden war, ließ mich feste Schlucken. Jiro und Alexander beschäftigten mich nun mal sehr, da blendete ich die eigentlich wichtigen Dinge aus.
»Sorry…«, murmelte ich, sah beschämt zu Boden und strich mir über den Pony. »Ich wollte dich nicht mit den beiden langweilen.«
»Das hast du nicht. Jedenfalls nicht so, dass ich eingeschlafen wäre… Es nervt einfach nur irgendwann«, brummte er auf einmal traurig und nahm die Schüssel wieder an sich, welche er noch Minuten vorher von sich gestoßen hatte. »…Kümmre dich mehr um mich… du weißt, ich brauche dich um mich… und nicht bei Jiro und Alexander.«
Knatschende Worte erreichten mein Ohr, sodass ich sofort einen Arm um Kiyoshis Taille legte. Sein Gesichtsausdruck verkrampfte sich schlagartig, ließ mich denken, er würde gleich anfangen zu weinen.
»Oh nein, Yoshi, nicht weinen, du weißt, ich kann mich schnell vergessen. Dabei vergesse ich doch nicht gleich auch dich…«, flüsterte ich in sein Ohr. Große, glänzende Augen trafen meine und sahen mich eine Weile lang an.
Doch mein liebevolles Lächeln wurde nicht erwidert. Stattdessen drückte er sich recht beleidigt in meine Arme und legte sein Kinn auf meine Schulter.
»Schatz…«, murmelte ich erneut, um sein Vergeben einzufordern. Das Wort "Schatz" hatte es bisher immer rausgerissen. Doch so gut ich ihn auch kannte, so schlecht schien ich damit umzugehen. Ich wusste natürlich schon immer, dass Kiyoshi mehr Aufmerksamkeit brauchte, als normale Partner, die ich bisher hatte, war mir trotzdem nicht bewusst, dass dieses nicht erfüllte Bedürfnis schon so tief in ihm eingefressen war.
Je mehr ich in der herrschenden Stille über die vergangenen Tage nachdachte, wurde mir bewusst, dass auch unser Sexleben sehr unter meinem Scheuklappendenken gelitten hatte. Selbst im Monat des zunehmenden Mondes, wo ich mit dem Tier in Kiyoshi vorliebnehmen durfte, saßen wir öfter einfach nur im Bett und unterhielten uns, soweit das möglich war, anstatt heißen Sex zu haben.
Als auch nach weiteren Minuten keine Antwort kam und langsam etwas Panik in mir hochstieg, dass Kiyoshi wohl immer noch sauer auf mich war, löste ich mich von ihm und küsste seine Lippen. Verzweifelt blickte ich dabei in seine Augen, die mich schnippig ansahen. Letztendlich ließ ich meinen Bruder los und sah hilflos durch die Küche.
»W-Was soll ich denn machen? Ich habe mich entschuldigt… Ich habe dich nicht aus einem bösen Willen heraus ignoriert…«
Ein leises Schnaufen fuhr über Kiyoshis Lippen, gefolgt von einem seiner typischen Kopfbewegungen, wo er affektiert seine Haare hinter die Schulter warf.
»Versprich mir einfach, dass es nicht mehr vorkommt…«, kam schließlich verkniffen aus ihm raus. Ich nickte wie ein Weltmeister, sah hoffnungsvoll in seine Augen.
»Versprochen. Ich halt mich zurück. Kein Alexander und Jiro mehr. Nur noch wir.«
»Gut…«, murrte Kiyoshi noch ein letztes Mal, bevor er mir einen kalten Versöhnungskuss gab, die Schüssel nahm und aus der Küche ging. Der Kuss fühlte sich nicht wirklich liebevoll an, zeigte mir aber, dass er bereit war, mich noch einmal mit der Nummer davonkommen zu lassen.
Ich blieb noch für einige Sekunden in der Küche stehen, warf die leere Tüte der Kekse weg und seufzte laut auf, als ich durch das Fenster die verschneite Landschaft sah.
Eigentlich hatte ich tief in meinem Herzen immer gehofft, dass die Beziehung mit meinem eigenen Bruder genau solche Gespräche, wie ich sie immer von meinen Exfreundinnen gewohnt war, nicht stattfinden würden. Aber Kiyoshi war nun mal eine kleine Diva, brauchte seinen Willen und machte, wenn nötig, aus einer Fliege gerne einen Elefanten.
Vielleicht sollte ich mir ein paar Tipps von Alexander geben lassen, wie man dominanter wird, um solche Dinge einfach im Keim zu ersticken. Kiyoshi war sich meiner Liebe sicher – in meinen Augen waren solche Gespräche also völlig sinnloses Hin- und Hergequatsche. Aber mehr als mein Ego für einen kurzen Moment zu vergraben und mich zu entschuldigen blieb mir im in solchen Situationen nicht übrig.
Bemüht, mir den Abend nicht von der schlechten Laune der anderen zunichte zu machen, ging ich zurück in das Wohnzimmer, wo sie zu meiner Überraschung alle recht freundlich miteinander am Reden waren. Jiro und Alexander stichelten wieder einmal über irgendein dummes Thema; so viel bekam ich noch mit. Den Rest des Abends verbrachte ich wie ein braver Freund neben meinem Partner, der mir zwar immer noch die kalte Schulter zeigte, hier und da trotzdem meine Hand nahm, um sie zu streicheln.
Hoffentlich würden Jiro und Alexander die nächsten Tage endlich mal zueinander finden, sodass ich das Thema in meinem Kopf abhaken konnte.
Je weiter der Abend fortschritt, desto ruhiger wurde es auch im Wohnzimmer. Mamoru hatte letztendlich aufgegeben, noch weiter die Einfahrt freizuschippen und ließ den Schnee weiter im ruhigen Schneefall auf unser Grundstück fallen. So viel Schnee, musste ich zugeben, hatte ich in meinem Leben noch nie gesehen. Für die Herrschaften aus dem Norden schien es hingegen ein normaler Anblick zu sein. Umso mehr war ich über Alexander überrascht, dass er mit diesem Wissen trotzdem zu uns gefahren war. Vielleicht, so hielt ich in meinem Kopf fest, war das auch alles von ihm geplant gewesen. Doch die Unterstellung behielt ich mal für mich; Kiyoshis rügende Worte im Hintergrund gespeichert, nicht so viel über die beiden zu reden.
Mom und Dad verabschiedeten sich schließlich, um zu Bett zu gehen. Es war bereits kurz vor Mitternacht. Zu meiner Verwunderung gingen sie gemeinsam in die obere Etage. Ob Mom in ihr eigenes Zimmer gegangen war oder doch zu Dad, wusste ich nicht. Aber nach einem Abend erwartete ich keine Wunder, obwohl die beiden sich wirklich vorzüglich unterhalten hatten, dass es den Anschein erweckte, als hätten sie sich niemals getrennt.
»Dann gehen wir auch mal schlafen, oder?«, fragte ich vorsichtig in die Runde und sah sofort zu meinem Bruder. Der nickte langsam, stand auf und seufzte müde.
»Ich zeig dir eben noch dein Zimmer«, begann Kiyoshi und sah dabei zu Alexander, der noch immer wie gestriegelt neben Jiro saß und wohl gerne noch die Nacht durchgeredet hätte.
»Klar«, antwortete er knapp, stand ebenfalls auf und sah etwas bedröppelt zu Boden. Auch Jiro erhob sich zögernd und strich sein Langarmshirt glatt. Etwas genierend sah er zu Boden; wohl wissend, was hier jeder im Kopf hatte, aber niemand aussprach: Schlaft doch in einem gemeinsamen Bett, verdammt noch mal.
Mir war es ja verboten worden darüber zu quatschen. Sonst hätte ich schon noch meinen Senf dazu abgegeben.
Vier junge Männer trotteten dann also wie in einer schlechten Komödie die große Treppe hoch, wo sie sich in zwei Richtungen aufteilten. Alexander bekam das Zimmer neben Mamorus. Also ganz, ganz weit weg von Jiros Zimmer; nämlich am anderen Ende des Gangs. Fast am Studio.
Kiyoshi und Alexander gingen in das noch dunkle Zimmer und schalteten das Licht ein, nachdem mein Bruder angefangen hatte, unserem Gast einige Sachen für die Übernachtung zu leihen. Als ich die Stimmen der beiden hörte, wie sie sich wahrscheinlich über das Zimmer unterhielten, packte ich Jiros Arm und drückte ihn in Kiyoshis altes Zimmer.
Mein Kumpel sah mich überrumpelt an, schüttelte nervös den Kopf und stolperte mehr schlecht als recht rückwärts in den Raum.
»Hero, was geht?!«
»Alter«, begann ich und packte die Worte, die mir schon den ganzen Abend im Nacken standen, in einen schnellen Satz. »Mach was, bitte! Lass den armen Sack doch jetzt nicht alleine schlafen!«
Ehe ich die Worte ausgesprochen hatte, raunte Jiro auf. »Hero, lass –«
»Ich lass es ja! Ich mach nichts, ok? Du musst das selber in die Hand nehmen!«, rügte ich ihn angeregt; etwas panisch, dass mich Kiyoshi bei dieser Aktion erwischen würde. Wo ich doch versprochen hatte, mich nicht mehr damit zu beschäftigen…
»Ich nehme gar nichts in die Hand! Du interpretierst da zu viel rein!«, dementierte mein Kumpel weiterhin meine Andeutungen. Natürlich musste ich leise Schmunzeln, als Jiro diesen Wortlaut aus den Lippen presste; wo es doch so viel gab, was er in die Hand hätte nehmen können.
»Okay…«, brummte ich schließlich, ließ Jiros Arm los und sah etwas gereizt zur Seite. »Dann eben nicht. Dann turtelt auch nicht rum.«
Mit diesen Worten ging ich wieder aus Kiyoshis Zimmer raus und sah meinen Bruder bereits wieder den Gang betreten. Emotionslos packte er meine Hand und zog mich in unser Schlafzimmer.
»Die beiden können zuerst ins Bad, wir gehen danach«, informierte er mich über die Reihenfolge. Schweigend nahm ich diesen Satz hin und ließ mich mitziehen.
Wieso dieses riesige Haus nur ein Badezimmer besaß, wollte mir auch nicht so ganz in den Kopf gehen. Wahrscheinlich war der Architekt damals ein bisschen betrunken gewesen.
Als wir unser Zimmer erreichten, blickte ich noch einmal hinter mich und sah die beiden anderen Männer im Gang stehen. Jiro, dachte ich, beiß die Zähne zusammen und lass den armen Irren bei dir im Bett schlafen. Er wünscht es sich doch so sehr…
*
»Geh ruhig ins Bad, ich geh danach«, murmelte der Mensch und deutete auf die Badezimmertür, welche bereits offenstand. Alexander stand mit einem schwarzen T-Shirt in der Hand im Gang und sah sich missmutig um. Die Übernachtung im Haus der Kabashis passte ihm nicht wirklich in den Kram. Seine Eltern würden ausflippen, wenn sie diese Aktion mitkriegen würden.
»Ich beeil mich«, brummte er schließlich, nickte Jiro zu und betrat das Bad. Ein Klicken der Tür läutete Jiros Nervosität ein.
Wie bestellt und nicht abgeholt stand er noch vor seiner Tür und knibbelte an seinen Nägeln. Sollte er Hiros Vorschlag zu Herzen nehmen und Alexander bitten bei ihm zu schlafen? Aber wie sähe das denn überhaupt aus? Das klang ja wie eine direkte Einladung zum Sex!
Und dafür war Jiro absolut nicht bereit. Nie und nimmer konnte er sich vorstellen mit einem Mann zu schlafen. Natürlich hatte er, seitdem Alexander in sein Leben getreten war, schon einige Male darüber nachgedacht, musste er sich selber eingestehen. Aber wie sollte so etwas ablaufen? Alexander war keine Frau, bei der Jiro wusste, dass sie es mochten, wenn er ihnen an die Brüste oder zwischen die Beine ging. Und nicht nur das Vorspiel bereitete dem Menschen Kopfschmerzen: Beim Hauptteil würde Jiro sich weigern den Unterwürfigen zu spielen. Doch Alexander würde niemals die Rolle der Frau einnehmen. Es stand also noch aus, wer welche Funktion beim Sex einnehmen würde – und Jiro war sich bewusst, dass er diesen Kampf jämmerlich verlieren würde. Egal, wie er ausgetragen würde, ob mit Prügeln oder Stein-Schere-Papier. Der Vampir sah nämlich nicht so aus, als würde er bei einer Niederlage freiwillig und kampflos den Kürzeren ziehen. Eine Handbewegung würde ausreichen, um den Menschen in die gewünschte Position zu drücken. Um ihn gefügig zu machen.
Alexander war Jiro körperlich mehr als überlegen, sodass sich der Mensch eingestehen musste, dass, wenn es zum Sex kommen sollte, er sich auf eine schmerzvolle Erfahrung einstellen müsste. Doch wieso musste es gleich zu Sex kommen? Könnten die beiden nicht erst einmal nur so miteinander klarkommen? Vielleicht sollte ein erster Kuss dem Sex voran gehen und feststellen, ob die Zuneigung der beiden überhaupt auf derselben Ebene stand. Denn im Grunde war keiner der beiden bereit, sich und anderen einzugestehen, dass sie Interesse am selbem Geschlecht gefunden hatten.
Je länger Jiro über diese Themen nachdachte und wie ein verlorener Junge auf dem Gang stand, desto lauter hämmerte sein Herz.
Nicht nur, dass er in einem Haus voller Vampire steckte, nein – er sollte auch noch einen von denen in sein Bett lassen? Niemals… Auch wenn sich der Mensch tief in seinem Inneren nach etwas Nähe sehnte.
Nach wirklich nicht mal zwei Minuten kam Alexander aus dem Bad und hielt seine Kleidung unter dem Arm. Das von Hiro geliehene Shirt saß viel zu eng und ließ Alexander noch sehr viel stämmiger als sonst aussehen. Auch die enge Unterhose gab eine Menge Preis; zu viel für das menschliche Gemüt, um weiter nüchtern vor dem Vampir zu stehen.
»Du kannst jetzt rein«, sagte Alexander in einem ruhigen Ton, lächelte sogar ein wenig und deutete auf die offene Badtür, aus der ein leichter Geruch von Seife kam.
Jiro stand noch wie versteinert im Gang, musterte Alexanders perfekten Körper und schluckte schwer.
Nie und nimmer würde sich dieser Körper einem anderen beugen, so viel war klar. Und das, was da so üppig unter der Unterhose lag, würde verdammt weh tun.
»Danke«, schoss es auf einmal zittrig durch Jiros Lippen. Schnell griff er nach seinem Koffer im Zimmer, stemmte ihn auf und zog hektisch einige Sachen heraus, um sich ebenfalls ein T-Shirt und Badartikel zu schnappen. Mit schnellen Schritten rannte er ins Badezimmer.
Er sah Alexander noch schmunzeln und schließlich in seinem Zimmer verschwinden. Ging er denn schon schlafen?
Würden sie sich denn nicht einmal mehr gute Nacht sagen?
Fast penibel begann Jiro sein Gesicht zu reinigen, putzte sich die Zähne und sah immer wieder in den Spiegel. Es erinnerte ihn an die vielen Male, wo er zum ersten Mal bei einer Freundin geschlafen hatte. Auch da fing er nervös an, sich herzurichten, um auch ja gut auszusehen. Dabei hatte er sich doch geschworen heute keinen Sex zu haben! Nicht mit Alexander! Niemals würde er einen Mann an seinen Hintern lassen. Die Vorstellung allein ließ die blassen Wangen des Menschen wieder knallrot werden.
Als sich Jiro nach etlichen Minuten im Bad schlussendlich wieder auf den Gang traute, sich vorher verstohlen umsah und niemanden entdeckte, ging er mit schnellen Schritten zum Zimmer der Zwillinge. Vorsichtig klopfte er an, bis Hiro die Tür öffnete und ihn anlächelte.
»Das Bad wäre dann frei«, informierte Jiro seinen Kumpel und lächelte sanft auf.
»Wunderbar. Dann schlaf gut! Wenn was ist, wir sind ja nicht weit voneinander entfernt«, grinste Hiro schelmisch auf und klopfte Jiro auf die Schulter.
Zwar war sich der Schwarzhaarige nicht ganz so sicher, was in der Nacht so Wichtiges passieren sollte, dass er Hiro aus dem Schlaf reißen müsste, ließ den Kommentar aber einfach mal als Nettigkeit stehen.
»Schlaft ihr beiden auch gut. Bis morgen«, verabschiedete sich Jiro, winkte Kiyoshi noch zu, der ihn kaum bemerkte. Zwar erwiderte er das Winken mit einem zaghaften Lächeln, trotzdem stand in dem Zimmer eine etwas unangenehm drückende Luft, dessen Jiro schnell entfliehen wollte.
Langsam schlurfte er den matt belichteten Gang zurück zu seinem Zimmer und sah Hiro und Kiyoshi gemeinsam im Bad verschwinden. Schließlich trat Stille ein.
Jiro überlegte für einen Moment, ob er noch einmal zu Alexander gehen sollte, um ihm auch eine gute Nacht zu wünschen, hielt die Idee jedoch für zu heuchlerisch und betrat sein Zimmer. Er wollte dem Vampir nicht hinterlaufen oder ihn mit seiner Anwesenheit nerven.
Als er sein Zimmer betrat und lustlos seine Klamotten zu Boden fallen ließ, bemerkte er im Augenwinkel die bekannte Gestalt auf seinem Bett sitzen saß.
»Alexander!«, rief er entsetzt aus, fasste sich an die Brust und sah erschaudert zur Seite. »Was machst du denn hier?«
»Ich wollte dir nur gute Nacht sagen. Sorry, wollte dich nicht erschrecken«, grinste der Vampir dem Menschen wieder recht süffisant entgegen und erhob sich von der Bettkante. Seine spitzen Eckzähne blitzten dabei im faden Licht des Raumes.
»Schon… okay«, murmelte Jiro leise und kratzte sich am Nacken. In einer solchen Geistervilla auch noch so erschreckt zu werden, stand dem Menschen gar nicht gut im Gesicht. Wie Hiro seine Woche ohne das Wissen um die Vampire hier abgesessen hatte, war ihm unerklärlich.
Jiro behielt seinen Blick beschämt gen Boden – aus Angst, der Vampir könnte in seinen Augen lesen, über was er sich so die letzten Minuten den Kopf zerbrochen hatte.
»Dann schlaf gut«, sprach Alexander leise und fügte noch hinzu: »Hoffentlich kannst du schlafen.«
»Wieso… sollte ich es nicht können?«, hakte Jiro nervös nach, hob dann doch seinen Blick und entdeckte sofort die eisblauen Augen, die ihn liebevoll ansahen.
»In einem Haus voller Vampire lässt es sich als Mensch vielleicht nicht so angenehm ruhen.«
»Ach so«, lachte der Mensch nervös auf. »Ich komm damit wohl klar. Wird schon nichts passieren, du hast mich ja damals auch nicht aufgefressen.«
Natürlich kam mit diesem Satz wieder die Erinnerung an den Geräteschuppen hoch, wo sie zusammengekauert auf ihren Tod gewartet hatten. Wie Jiro es geschafft hatte, einfach einzuschlafen, war ihm im Nachhinein ein Rätsel gewesen.
»Dass es noch nicht geschehen ist, heißt nicht, dass auch nicht geschehen wird«, bemerkte Alexander gefährlich knurrend und zwinkerte Jiro verspielt zu. Selbstverständlich würde Alexander niemals Hand an Jiro legen, um ihn auszusaugen, doch der Anblick der knallroten Wangen im Gesicht des Menschen waren ihm solche Worte wert.
Alexander kam einige Schritte auf Jiro zu, behielt ihn dabei in seinem Blick und musterte ihn deutlich. Der Mensch bewegte sich keinen Millimeter, wusste nicht wohin er gehen sollte. Die Anwesenheit des stämmigen Mannes machte ihn nervös. Wie ein Raubtier, was seine Beute fixierte, beäugte Alexander den Menschen. Normalerweise war Jiro kein Mäuschen, welches sich nicht traute einen Schritt zu machen. In anderen Situationen hätte er längst irgendeinen dummen Kommentar abgelassen, um seinen Freund endlich aus dem Zimmer zu scheuchen. Wann hatte er diese Eigenschaft bei Alexander verloren?
Jiro war sich sicher, dass es die Undurchsichtigkeit seines Freundes war, die ihn gefügig machte. Dass es ihm nicht möglich war, auch nur eine Textzeile in Alexander zu lesen, um einzuschätzen, was sein nächster Schritt sein könnte. Und seit der zugegeben romantischen Geschichte am Strand wusste der Mensch sowieso nicht mehr wohin mit seinen Gedanken.
Ohne, dass ein Wort fiel, griff Alexander mit seiner Hand nach Jiros Wange, fuhr die Finger in den Nacken, beugte sich zu ihm vor und schloss sinnlich die Augen. Die Nähe, der Moment und alles andere, was Jiro spürte, ließ ihn erstarren.
Küsste er ihn jetzt? Was sollte er tun?
Doch alles, was folgte, war ein kurzer und sanfter Kuss auf die Wange.
»Gute Nacht«, flüsterte Alexander und ließ Jiro sofort wieder los. Gänsehaut breitete sich auf den Armen des Menschen aus, sodass er peinlich berührt auf den Boden blickte.
»Gute Nacht…«, flüsterte er als Antwort, rang sich ein kurzes Lächeln ab und strich ehrfürchtig über Alexanders Arm. Jede Ader hob sich von der restlichen Haut ab. Jiro musste abermals über die strammen Muskeln des Vampirs schlucken.
Niemals, nicht einmal in Jahrzehnten, würde der Mensch es schaffen diesen Mann zu verführen. Mit seiner hageren Statue fühlte sich Jiro in seiner Anwesenheit wie Kiyoshi aussah: dünn und zerbrechlich.
Alexander blieb noch für einige Sekunden vor Jiro stehen, ließ die sanfte Berührung zu und wartete sein Tun ab.
Er wollte, dass der Mensch ihn ansprach; ihn darum bat, in diesem Zimmer zu bleiben. Doch war er sich nach den Sekunden Stille sicher, dass dies nicht geschehen würde.
Also nahm er all seinen Mut zusammen, strich ein letztes Mal über Jiros Wange und ging mit sanften Worten zur Tür. »Wenn du nicht schlafen kannst, weißt du ja, wo ich bin.«
Die Anspielung war vielleicht ein wenig zu offensichtlich gewesen, dachte Alexander, wartete jedoch auch nicht Jiros Antwort ab und verließ mit zügigen Schritten das Zimmer. Als die Tür in das Schloss einrastete und der Vampir alleine auf dem Gang stand, schloss er entnervt die Augen. Wieso musste es auch immer so unangenehm laufen? Wäre Jiro eine Frau gewesen, hätte Alexander süffisant die Tür hinter sich geschlossen, den warmen Körper ins Bett gedrückt und sich darübergelegt, um die Kleidung der beiden loszuwerden. Sein Partner hätte ihn dann zu sich gezogen, ihn geküsst und alles hätte seinen Lauf genommen.
Aber diesen Mut brachte Alexander nicht auf. Jiro war keine Frau, die er einfach so ins Bett drücken könnte. Außerdem hielt er es für keine gute Idee in einem fremden Anwesen das erste Mal zu erleben; wo doch noch so viele Fragen offenstanden und eine Beziehung in weiter Ferne stand.
Alles, was ihm blieb, war geduldig zu bleiben und Hiros Vorschlag weiterhin ernst zu nehmen. Paarsachen zu machen. Es langsam anzugehen. Abwarten, was geschehen würde. Die Liebe und die Energie in eine Beziehung zu stecken und nicht einfach wie wild drauf rumzuvögeln.
Alexander betrat recht genervt sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und ließ sich ins Bett fallen. Es roch alles nach den Kabashis, was ihn daran hinderte, sich ausgiebig zu entspannen. Auch wenn er in den Zwillingen – und anscheinend in der kompletten Familie – wirklich nette Personen gefunden hatte, so konnte er alte Einstellungen nicht gänzlich abstreifen.
Doch auch die dunkelste Einstellung, die er letztendlich von seinem Elternhaus mitbekommen hatte, konnte nicht die Tatsache aus dem Raum schaffen, dass er es den Zwillingen – vielmehr Hiro – zu verdanken hatte, Jiro kennen gelernt zu haben. Ob es ein Segen oder ein Fluch war, ließ Alexander offen. Auf der einen Seite machte ihn Jiro furchtbar nervös und schwach; zwei Züge, die Alexander absolut nicht leiden konnte. Auf der anderen Seite, so musste sich der Vampir eingestehen, machte ihn Jiros Anwesenheit glücklich. Besonders nach diesem Abend, wo er nach so vielen Monaten wieder in den Genuss dieser zarten Hände gekommen war, stand für Alexander fest, dass er diese Zuneigung nicht mehr abstreifen konnte. Sie hatten ihn schon gänzlich eingenommen.
Nach vielen, etlichen Minuten, schaffte es Alexander die Augen zu schließen und wegzunicken. Die Gedanken an Jiro, dass er nur wenige Meter von ihm weg schlief, ließen ihn ruhig werden. Er erinnerte sich an den sanften Atem, der schon einige Male seine Haut gestreift hatte, und an das schlafende Gesicht, welches so viel Vertrauen und Herzenswärme ausgestrahlt hatte.
Es vergingen vielleicht Minuten oder sogar Stunden, als jemand sanft, wenn auch zögerlich die Tür öffnete. Alexander schlief normalerweise wie ein Stein, wurde jedoch aus gegebenem Anlass sofort wach, als er sanftes Tapsen über den Boden vernahm.
Es fielen keine Worte, der Eindringling gab keine Identität preis und war generell in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Alexander blieb einfach wie ein Stein liegen und täuschte seinen Schlaf vor. Er musste nicht lange raten, wer da heimlich in sein Zimmer geschlichen kam.
Leise raschelte die Decke neben dem Vampir und ein warmer Körper rutschte drunter. Ein Schmunzeln durchfuhr Alexanders Gesicht. Der typische Geruch des Menschen stieg sofort in seine Nase.
»Jiro«, flüsterte er leise in die Stille, drehte sich zum Menschen um und schenkte ihm einen größeren Teil der Decke, indem er sie liebevoll über ihn legte. »Kannst du nicht schlafen?«
»Nicht so…«, flüsterte der Mensch leise und zurückhaltend zurück. Die letzten Stunden hatte er mit sich gerungen, ob er wirklich zu Alexander gehen sollte. Ob es eine gute Idee war, dem Vampir in sein Bett zu folgen. Ob es überhaupt grundsätzlich eine gute Idee war, den Schritt in eine Beziehung zu tätigen. Und ob er bereit für diesen Schritt war, sich Gefühle einzugestehen, die er die ganze Zeit verschwiegen und dementiert hatte.
»Und wieso? Machen dich diese vier Wände doch ein wenig nervös?«
»Nein«, kicherte Jiro leise auf und rückte ein Stück näher an Alexanders Körper heran. Sofort spürte er seine Brust, die still neben seinem Kopf lag. Kein Herzschlag hämmerte, keine Adern pulsierten, nichts.
»Sondern?«
»Keine Ahnung…«
Natürlich wusste Jiro ganz genau, wieso er nicht schlafen konnte, wo doch Themen wie Beziehung, Sex, Homosexualität und andere verzwickte Dinge in seinem Kopf tanzten. Doch schämte er sich für diese Gedanken und wollte sie Alexander nicht unbedingt offenbaren. Die darauffolgenden Fragen könnten unangenehm werden, sodass Jiro ihnen lieber aus dem Weg gehen wollte.
Eine große Hand wanderte ungefragt auf Jiros Rücken und streichelte sanft das Shirt und die darunterliegende Haut. Wieder machte sich Gänsehaut bei Jiro breit. Stück für Stück versanken die beiden Männer in einer liebevollen Umarmung, die Jiro immer weiter entspannen ließ. Die starken Arme, die stramme Brust und der herbe Geruch ließen den Menschen sehnsüchtig seufzen. Seit wann waren das Dinge, die er gerne um sich hatte? Vielleicht waren es die Dinge, die ihn an eine Zeit erinnerten, in denen er Geborgenheit, Schutz und Hilfe empfangen hatte. Gänzlich ungefragt und ohne weiteres. Dass Alexander sein Lebensretter war, dass er der Mann war, der sein eigenes Leben bedingungslos über das des Menschen gestellt hatte. Wieso sollte ein fremder Mann das tun? Aus reiner Nächstenliebe? Alexander schien nicht der Mann zu sein, der in seiner Kindheit in Altruismus gebadet wurde. Ganz im Gegenteil: Alexander war ein verwöhntes, kleines Biest, welches sich arrogant und egoistisch durch die Weltgeschichte gevögelt hatte.
Wieso ausgerechnet jetzt Jiro? Was hatte Jiro an sich, dass ein so attraktiver Mann die Seiten für ihn wechselte?
Was auch immer in dieser einen Woche geschehen war, es hatte beide Männer nachträglich und gravierend verändert. Und Jiro wollte nicht mehr länger im Dunkeln spazieren. Er wollte endlich Klartext.
»Alex?«, fragte Jiro vorsichtig in die schwarze Stille, da er absolut nicht einschätzen konnte, ob der Vampir bereits wieder eingeschlafen war oder nicht.
»Hm?«, brummte es genauso leise zurück.
Vorsichtig fuhr der Mensch mit einer Hand über Alexanders Brust, ertastete schließlich sein Schlüsselbein und den glatt rasierten Hals.
»Hast du mich ein bisschen vermisst?«, fragte Jiro so zögerlich wie noch nie in seinem Leben zuvor. Ihm machte weniger die Antwort, sondern vielmehr der Ausgang dieser Situation Angst. Alexander würde doch jetzt einen giftigen, sarkastischen Kommentar ablassen, fies lachen, Jiro ein bisschen verarschen und ihn schließlich mit seinen Gefühlen aufziehen, oder nicht? Sie würden wieder sticheln, vielleicht hier und da handgreiflich werden und schon – ja und schon wären sie dabei.
Das war doch der Plan, den Jiro in seinem Zimmer gefasst hatte, oder nicht?
Alexander hingegen zog scharf Luft ein und tat nichts dergleichen. Eine solch direkte, gefühlslastige Frage hatte er nicht erwartet. Und wieder war der Vampir dankbar um ein totes Herz. Würde es noch schlagen, wäre es peinlich für ihn geworden. Doch umso erleichterter war er, als er den aufgeregten Herzschlag des Menschen spürte. Diese liebevolle Geste, wie Jiro auf seiner Brust lag, seine Wange fest in der Hand hielt und nervös auf eine Antwort wartete, ließ den Vampir sehnsüchtig lächeln.
»Sehr sogar…«, flüsterte er fast tonlos und fuhr mit seiner Hand über Jiros Rücken, bis er den Nacken erreichte. Mit leichtem Druck führte er den Menschen zu sich heran.
Jiro schluckte. Keine Stichelei, kein dummer Kommentar. Sondern die wohl ehrlichste Antwort, die er aus Alexanders Mund gehört hatte, seitdem sie sich kannten.
Es war doch jetzt offensichtlich, oder? Jetzt, nach allem, was geschehen war, den Liebkosungen, den Sticheleien und den Geständnissen: Alexander fühlte dasselbe.
Dass der Vampir mit so offenen Karten spielen würde, hatte der Mensch nicht erwartet. Er war nun an der Reihe offen mit solchen Dingen umzugehen. Doch sämtliche Wörter blieben in seinem Hals stecken. Da war nur ein riesiger Kloß, der weder rauf noch runter wollte. Nachdem also keine Worte oder Sätze seinen Gefühlen freien lauf gelassen hätten, entschied sich Jiro für den letzten Schritt.
Vorsichtig, fast zögerlich, beugte sich Jiro vor, ertastete Alexanders Gesicht mit seiner Nase und spürte sogar einen ruhigen Atem. Als kein Widerstand folgte und den Menschen weiter Mut schöpfen ließ, näherte er sich den ertasteten Lippen.
Und küsste sie.
Trocken und eiskalt waren sie.
Doch ehe Jiro weiter über diese von ihm peinlich inszenierte Aktion nachdenken konnte, übte die Hand in seinem Nacken weiter Druck aus, sodass er indirekt gezwungen war, den Kuss weiter zu intensivieren.
Der Vampir schloss genießend die Augen und atmete erleichtert gegen Jiros Haut. Alles in ihm kochte, auch wenn er kalt erschien. Die Sehnsucht, das Verlangen, die Gefühle – alles brodelte in ihm, wollte raus und Jiro damit einhüllen. Ihn völlig in seinen Strudel ziehen.
Alexander genoss den Kuss hingebungsvoll, wo es doch genau das war, was er sich die ganzen Wochen über gewünscht hatte. Und wie dankbar war er auf einmal für die Menge an Schnee, die sich über sein Auto gelegt und ihn somit eine nichtgewollte Übernachtung geschenkt hatte. Mit Jiro an seiner Seite.
Endlich durfte er ihm so nah sein, wie er wollte. Der Kuss intensivierte sich schnell, als Alexander mit seiner zweiten Hand den Menschen weiter auf sich zog und die Hüfte an seine presse. Die Lippenpiercings klimperten hier und da an seinen Zähnen, was ihn aufschmunzeln ließ.
Schließlich konnte Alexander seine Neugierde nicht weiter eindämmen und fuhr seine Zunge aus, um sie über Jiros Lippen gleiten zu lassen. Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete der Mensch willig seinen Mund und gewährte der Zunge Einlass. Alexander spürte im Nu das Zungenpiercing. Die Kugel erschien auf einmal riesig, klackte einige Male gegen die Zähne und spielte angeregt mit der fremden Zunge.
Und Alexander hätte sich selber anlügen müssen, wenn er behauptet hätte, dass dieser Kuss ihm nicht gefallen hätte. Einen Mann zu küssen war in der Tat noch eine Überwindung, doch sobald er sich vor Augen führte, dass es sich hierbei um Jiro handelte, das Piercing eben nicht irgendeiner Bartussi gehörte, sondern genau dem Mann, der ihm bereits vor Wochen den Kopf verdreht hatte, genoss er jede Sekunde dieser Nähe.
Jiros Atem wurde schneller, geradezu angeregter, je länger er im Kuss gefesselt war. Jeder Muskel und jede Bewegung von Alexander, welche er direkt unter ihm spürte, versetzten ihn in Trance. Ob es die Aura des Vampirs oder die Gefühle waren, erschien Jiro auf einmal nicht mehr so wichtig. Ein großer Stein fiel vom Herzen des Menschen, als er nach einem langen, intensiven Zungenkuss die zärtlichen Lippen auf jeder Fläche seines Gesichts spürte. Es bitzelte, kribbelte und fühlte sich komisch an, trotzdem es kein unangenehmes Gefühl war.
Jiro hatte es getan. Er hatte mit offenen Karten gespielt und nicht verloren. Auch Alexander wusste, dass es kein Spiel des Versagens war, Gefühle einzugestehen. Beide Männer hatten auf ihre Weise gewonnen und es fühlte sich unglaublich wärmend an.
Es fielen keine weiteren Worte mehr. Hier und da küssten sie sich erneut, streichelten die Wangen des jeweils anderen und genossen die Nähe. Auch wenn Jiro noch so viele Dinge sagen wollte, behielt er sie alle für sich. Früher oder später müssten sie gesagt werden, doch dieser Zeitpunkt lag noch in gefühlt weiter Ferne.
Im Moment zählte nur das Beisammensein – nach so vielen Wochen voller Sehnsucht.
Es war, als wäre seit der Flucht die Zeit stehen geblieben und die beiden Männer hatten sich an ihrem persönlichen Strand wiedergefunden.
Als Alexander das erste Kratzen einer Schaufel über dem Asphalt hörte, schlug er seine Augen auf. Der Butler schippte wohl wieder Schnee, obwohl noch nicht einmal mehr der graue Tag angebrochen hatte. Der Raum wurde nur spärlich mit der hinter Wolken verhangenen Sonne erhellt. Aus einem kleinen Spalt der Rollläden konnte der Vampir erkennen, dass es aufgehört hatte zu schneien.
Er würde also wieder nach Hause kommen können.
Hier und da fielen die blauen Augen noch einmal zu, blinzelten und versuchten zu erkennen, wie viel Uhr es war. Alexander spürte sofort einige Muskeln schmerzen. Knochen taten weh, zogen seine Statue zusammen, als hätte er am Vorabend noch für mehrere Stunden trainiert. Trotzdem fühlte er sich wach.
Ausgeschlafen.
Irgendwie fit.
Erst, als Alexander tief Luft holte, um laut zu seufzen, hielt er inne, als er einen zweiten Körper neben sich sah. Ein zerzauster schwarzer Schopf bewegte sich kurzweilig auf seinem Arm, schien jedoch sofort wieder eingeschlafen zu sein.
Konnte das wirklich wahr gewesen sein?
War das gestriges Ereignis kein Traum gewesen?
Nur vage erinnerte sich der Vampir an Jiros Erscheinen, wie er heimlich und schüchtern in sein Bett gekrochen kam, und ihn umgarnt hatte.
Sie hatten sich geküsst.
Minutenlang; bis sie schließlich beide eingeschlafen waren. Alexander konnte sich also mit dem Sex zurückhalten, wenn er wollte. Die Angst, er würde Jiro im Zuge seiner sonst so großen Lust übermannen, schien auf einmal unbegründet. Nein, er hatte seinem inneren Verlangen die Stirn geboten und genau das bekommen, was er immer wollte: Den verlausten Punk an seiner Seite zu sehen, wenn er morgens aufwachte.
Nicht mehr alleine zu sein und in ein leeres Zimmer zu blicken, wo die Traumwelt ihm doch solche Liebenswürdigkeiten gezeigt hatte. Nein, all das schien der Vergangenheit anzugehören.
Jetzt hatte er ihn, richtig?
Das war kein Traum, oder?
Fast panisch blickte sich Alexander im dunklen Raum um. Das wenige Licht im Zimmer ließ den Vampir nicht viel erkennen, aber genug, um zu wissen, dass sie alleine waren.
Kein Vincent.
Keine Waffen.
Kein Blut.
Immer wieder drehte Alexander seinen Kopf zu Jiro, der wie ein Stein neben ihm schlief. Liebevoll umklammerte er Alexanders kräftigen Arm und verwendete ihn als Kopfkissen. An seiner leicht blauen Hand konnte er sehen, dass Jiros Kopf ihm einige Adern abgeklemmt hatte. Sowieso waren die Muskel- und Knochenschmerzen auf den zweiten Körper im Bett zurückzuführen. Noch nie hatte Alexander mit einem zweiten Menschen in einem Bett für länger als vier Stunden geschlafen. Die Frauen, die er früher in sein Bett gelassen hatte, fegte er spätestens nach dem Sex wieder raus, sodass die Nacht wieder ihm alleine gehörte.
So fühlte sich das also an, einen Partner zu haben, der neben einem im Bett schlief und den Schlaf indirekt behinderte. Denn subjektiv gesehen fühlte sich Alexander besser denn je, obwohl er objektiv gesehen viel schlechter geschlafen hatte.
Nach vielen Minuten, in denen schließlich feststand, dass Alexander nicht nur schön geträumt hatte, sondern auch schön aufgewacht war, drehte er sich zu Jiros Körper und schlang einen Arm um ihn. Langsam hob und senkte sich der Torso, was Alexander entspannt seine Augen schließen ließ. Und trotzdem er seinen Arm nicht mehr spüren konnte, unterließ er jede Bewegung, die den Menschen hätte wecken können.
Eine leichte Angst überkam ihn, dass Jiro die ganze Aktion vielleicht doch abblasen könnte. Dass er es nicht so gemeint hatte. Dass er die Nähe im Zuge der gestrigen Angst, alleine in einem Vampirhaus zu schlafen, gesucht hätte.
Doch als hätten ihn genau diese Gedanken aufgeweckt, bewegte sich der schmale Körper einige Male, bis er sich umdrehte und große Augen zu Alexander aufblickten.
»Alex«, flüsterte der Mann mit den grünen Augen und rang sich ein Lächeln ab. Auch ihm taten alle Knochen weh; von den Muskeln mal ganz abgesehen.
Angesprochener sah noch recht erschrocken zum Menschen, der sich müde die Augen rieb. Erst nach einigen Momenten der Stille, in der sein Name wie Unheil in der Luft hing, fand Alexander seine Stimme wieder. »Habe ich dich geweckt?«
»Nein, nein«, gähnte Jiro auf, grinste breit und kuschelte sich an Alexanders Brust. »Ich war so im Halbschlaf…«
»Okay…«
Vorsichtig hob Alexander seine nun freie, taube Hand und legte sie auf den schwarzen Schopf, der sich liebevoll auf seine Schulter gelegt hatte. Das war ein eindeutiges Zeichen, oder? Der Punk machte keinen Rückzieher.
Waren sie also jetzt… zusammen?
»Hast du gut geschlafen?«, kam es aus Jiros Lippen und ließ den Vampir aus den Gedanken schrecken.
»Ja. Und du? Trotz Vampirhöhle?«, murmelte er immer noch gedämpft.
»Haha, ja, doch. Tief und fest«, schwärmte Jiro schon fast wie ein Mädchen und schloss erneut die Augen. Alexander war wie ein menschliches Kissen gewesen, nur ohne nervige Dinge wie Herzschlag oder pulsierende Adern, die Jiros Schlaf in irgendeiner Weise hätten stören können. Ein leichtes und zufriedenes Seufzen entfuhr den warmen Lippen. Es war eine geborgene Nacht gewesen.
Grüne Augen blickten auf und trafen auf Blaue, die ihn neugierig ansahen. Niemand sagte etwas, sodass die Situation schleichend drückender wurde. Alexander rang sich ein sanftes Lächeln ab, wo es das Einzige war, was ihm einfiel. Doch Jiro ließ sich nicht länger beirren, lachte leise auf und schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, hakte Alexander leicht nervös nach und konnte nicht anders, als selber ein wenig zu lachen. Die gute Laune des Punks war ansteckend.
»Wir sind voll peinlich…«, kicherte Jiro in Alexanders Halskuhle und strich über die breite Brust, auf der er so gemütlich lag.
»Oh, jetzt sind schon "wir" peinlich und nicht mehr "du"?«, grinste Alexander amüsiert über Jiros Worte.
»Du hast mich damit angesteckt.«
»Natürlich, also ist es im Endeffekt doch wieder nur ein "du".«
»Nein«, begann Jiro leise, hob den Brustkorb ein Stück an, sodass er in Alexanders Gesicht sehen konnte. »Es ist ein "wir".«
Dem Vampir fehlten schlagartig die Worte. Absolut gekonnt hatte Jiro die unangenehme Frage über eine Beziehung beantwortet.
Es war also nicht mehr ein du und ich. Es war ein wir geworden.
Ohne weiter zu fragen oder Jiros Standpunkt zu dementieren, führte Alexander seine Hand in den warmen Nacken, presste den Menschen zu sich runter und küsste die feuchten Lippen.
Ja, dachte sich der Vampir, daran könnte er sich in der Tat gewöhnen. An einen Partner. An Lippen, bei denen er wusste, wie sie schmecken würden. An den Duft, den er einziehen konnte, wann immer er wollte. An eine Liebe, dessen er nicht zweifeln musste.
Jiro ließ sich anstandslos küssen, schloss die Augen und lehnte sich ein Stück weiter auf Alexanders Körper, der sich, nachdem er so viele Stunden unter der Decke Wärme getankt hatte, sogar lebendig anfühlte. Nicht mehr kalt oder leblos, sondern glühend und greifbar.
Der Kuss intensivierte sich schnell. Jiro spürte, dass wann immer eines seiner Piercings Alexanders Zunge streifte, sein Partner energisch ausatmete und den Griff um seinen Körper intensivierte. Zwar hatte der Vampir bisher immer nur über das Metall hergezogen, doch die gierige Zunge, die fast ausschließlich um die silberne Kugel in Jiros Mund tanzte, verriet sein Gemüt. Er stand drauf.
Die beiden Männer versanken weiter in sehnsuchtsvolle Küsse, bis Alexander sich nicht mehr zusammenreißen konnte und sich ruckartig drehte, um die Positionen zu wechseln. Jiro lag nun wie Beute unter den hungrigen Augen des Raubtieres auf dem Rücken. Forsche Hände suchten den menschlichen Körper ab, der erhitzt unter Alexanders lag, und begannen das Shirt hochzuziehen.
Jiros Herz hämmerte nun gefühlt um das Doppelte, wissend, worauf es jetzt hinauslaufen würde. Eigentlich hatte er sich fest vorgenommen, damit noch zu warten, doch wie konnte er diesem sexuell anziehenden Mann widerstehen? Große Hände fuhren über seine Brust, seine Seiten, seine Hüften, bis sie auch die dünne Shorts langsam über die Hüftknochen schoben. Erregte Küsse stimmten beide Männer in eine Art Trance, in der sie sich einander hergaben.
Vorsichtig, fast zögerlich, fuhr der Mensch über Alexanders Brust, schob das enge, schwarze Shirt über die Bauchmuskeln und ertastete weiche Haut. Der Vampir löste sich für einen Moment von Jiros Lippen, sah ihm dann verlangend in die Augen und bäumte sich ein Stück auf, um sich das Shirt anstandslos über den Kopf ziehen zu lassen.
Ungeduldig zerrte er an Jiros Shirt, wollte es ihm auch so schnell wie möglich vom Kopf ziehen, um endlich in den Genuss der hellen Haut zu kommen und das Geheimnis der Piercings zu lüften, welches ihn schon seit Wochen verrückt machten.
»Klopf, Klopf, Alexander«, kam Hiros Stimme von der Tür, welche sich sofort öffnete. »Es ist schon gleich 9 Uhr, hier wird nicht ausgeschlafen.«
Der Scherz, der mit Sicherheit gut gemeint war, versetzte Alexander und Jiro in eine erschaudernde Starre. Mit einem Sprung verschwand der Vampir vom Bett, hechtete zur Tür und presste sich mit seinem Körper gegen sie, sodass Hiro nicht weiter in das Zimmer treten konnte.
»Morgen, komme gleich«, brummte er hektisch durch den kleinen Spalt. Hiro stand bereits angezogen und geduscht im Gang und hob eine Augenbraue.
»Okay? Alles klar bei dir?«, hakte er nach, spähte neugierig ins Zimmer.
»Alles gut. Ich zieh mich nur gerade um.« Alexander räusperte sich angespannt und nickte ein paar Mal, bevor er die Tür wieder zum Schließen ansetzen wollte. »Bis gleich.«
»Klar, bis gleich. Ich geh dann noch eben Jiro wecken…«
»Äh!«, begann Alexander nervös und öffnete die Tür wieder ein Stück. Hiro blieb in seiner Bewegung stehen und schaute recht interessiert in die Richtung des anderen Vampirs. Der stand aufgekratzt am Türrahmen und suchte nach einer Ausrede, wieso Jiro nicht in seinem Zimmer sein könnte.
»Der ist… noch draußen, wir waren gerade eine Rauchen«, log er mit strenger Miene, um überzeugend zu klingen. »Der ist schon wach.«
»Oh man, ihr raucht euch noch schwarz…«, spaßte Hiro, nickte aber verständnisvoll. »Dann sag ihm Bescheid, dass es gleich Frühstück gibt.«
»Mach ich…«
Damit verschwand Hiro endlich von Alexanders Tür, ging zu seinem Bruder, der die ganze Zeit auf dem Gang stand, und bewegte sich mit ihm in ihr gemeinsames Zimmer.
Alexander schloss entnervt die Tür und blieb noch für einen Moment dort stehen. Würde er schwitzen können, wäre nun der Zeitpunkt, wo er sich entnervt über die feuchte Stirn wischen würde.
Ein leises Kichern kam vom Bett. Jiro saß belustigt unter der großen Bettdecke und hielt sich die Hand vor den Mund. »Wir waren also schon eine Rauchen?«
Der Vampir raunte genervt auf, stemmte eine Hand in seine Hüfte und fuhr mit der anderen durch sein dichtes Haar. »Jetzt kann ich wirklich eine Zigarette gebrauchen…«
»Ja, ich auch…«, seufzte Jiro, stand schließlich vom Bett auf und kam mit leisen Schritten auf den nur in Unterwäsche bekleideten Mann zu. Liebevoll schlang er seine Arme um Alexanders Taille und schmiegte sich an den gut geformten Körper heran.
»Kriegen wir dich erst mal unbemerkt aus meinem Zimmer…«, seufzte Alexander auf und erwiderte die warme Umarmung.
»Etwa keinen Bock auf Hiros Fragen?«, kicherte Jiro leise und genoss die zärtlichen Berührungen auf seinem Rücken.
»Hm«, brummte der Vampir recht genervt aus seinen Lippen und zog die Augenbrauen zusammen. Er war sich noch nicht so ganz sicher, was passieren würde, wenn sie ihre Beziehung den Zwillingen preisgeben würden, wo sie doch erst vor wenigen Minuten offiziell angefangen hat.
Umso ärgerlicher empfand Alexander nun auch den Vorfall, dass Hiro sie von der schönsten Sache der Welt abgehalten hatte. Es wäre so perfekt gewesen – direkt nach dem indirekten "wir sind jetzt zusammen".
*
»Du bist echt'n Arsch«, brummte Kiyoshi mir entgegen, als ich seine Hand nahm, um wieder in unser Zimmer zu gehen.
»Wieso?«, summte ich stattdessen aus meinen Lippen und sah belustigt zur Seite.
»Weil wir wussten, dass Jiro in seinem Zimmer war.«
»Ach komm schon, lass mir den Spaß!«, seufzte ich auf, als ich die Tür zum Gang geschlossen hatte und wir alleine im Zimmer standen. »War doch witzig wie Alexander rumgestottert hat.«
Ich gab zu, dass es nicht ganz fair von mir gewesen war, die beiden in eine solche Situation gebracht zu haben. Letztendlich war ich mir sowieso auch nicht ganz so sicher, ob der Moment, in denen ich die beiden gestört hatte, wirklich so passend gewesen war. Aber als ich an Jiros Zimmer angeklopft und keine Antwort bekommen hatte, habe ich mir erst einmal Sorgen gemacht. Also bin ich ungefragt ins Zimmer und habe ein leeres Bett gesehen. Selbstverständlich schob ich erst mal Panik, dass Jiro unser Haus fluchtartig verlassen hätte, wo er mir doch am Abend vorher noch so großkotzig entgegengehalten hatte, dass er nie und nimmer etwas selber in die Hand nehmen würde.
Nachdem Mamoru mich aufklärte, dass niemand seit seiner frühmorgendlichen Schneeaktion das Haus verlassen hatte, ging in meinem Kopf ein Licht auf. Alexander hatte diese Vermutung mit seinem nervösen Rumstottern mehr als Bestätigt, sodass ich nicht an mich halten konnte und wieder Salz in die Wunde gestreut hatte. Als wäre ich die Mama gewesen, die die beiden in flagranti erwischt hätte.
»Witzig ist was anderes, lass die beiden doch endlich in Ruhe«, murrte Kiyoshi mir entgegen, als er die Arme verschränkte.
Sofort griff ich nach seinen Handgelenken, öffnete die abwehrende Haltung und küsste seine Lippen. »Ich habe dir doch versprochen, dass ich nix mehr mache. War doch nicht so schlimm, oder?«
»Mhm«, seufzte mein Bruder und verdrehte die Augen. Er schien immer noch auf Abwehrhaltung zu sein. Ich beugte mich zu ihm vor, küsste seine Lippen und drückte ihn versöhnend mich. Kiyoshi verkniff die Augen, wollte sich wehren, drückte lediglich gegen meine Brust und schnaubte aus.
Schließlich ließ er den Kuss geschehen und nahm meinen Versöhnungsversuch an.
…So ein Kind.
Als wir nach einigen Minuten wieder aus dem Zimmer kamen, roch ich bereits Zigarettenqualm. Die offene Haustür, an der zwei Gestalten standen, gab mir Aufschluss über die Quelle des Geruchs.
Jiro und Alexander standen nah beieinander in ihren vorabendlichen Klamotten vor der Haustür im Schnee und rauchten. Wie immer.
»Guten morgen ihr beiden«, begrüßte ich sie recht amüsiert und lächelte liebevoll in die Runde. »Vor allen Dingen Jiro. Wo hast'n gesteckt?«
»Morgen, Hero«, kam überraschend glücklich über Jiros Lippen. »Ich war wohl noch kurz vor der Tür, als du mich wecken wolltest. Hatte mein Handy im Schnee verloren.«
»Ohje, ist es denn noch ganz?«, spielte ich scheinheilig bei der Lüge mit und hörte sofort ein leises, erleichtertes Seufzen von Alexander.
»Ja, funktioniert noch einwandfrei«, grinste mein Kumpel mir entgegen und rauchte genüsslich seine Zigarette auf. Sowieso wirkte er verdammt zufrieden. Denn obwohl Alexander teilnahmslos mit seiner üblich schlecht gelaunten Miene neben ihm stand, wirkten die beiden zehn Mal glücklicher als am Vorabend. Ich dachte mir mal meinen Teil und hoffte auf baldige Aufklärung; egal von wem.
Dad war natürlich nicht sonderlich begeistert von der Tatsache, dass wir alle in Alexanders Wohnung fahren wollten, um sich dort einen schönen Nachmittag zu machen. Sowieso war er auch stinkig, dass die beiden Männer vor seinem Haus geraucht hatten. Trotzdem wir die Zigarettenstummel feinsäuberlich weggeschmissen hatte, blieb er stur. Er schwieg uns während dem Frühstück recht teilnahmslos an, während Mom wie ein Wasserfall redete. Sie schien fitter denn je zu sein. In so einem teuren Bett mit teurer Bettwäsche… verständlich. Für sie nach so vielen Jahren mal wieder purer Luxus und eine angenehme Nacht. Trotz Vampirhöhle.
Und so subtil wie ich Jiros Koffer in Alexanders Wagen packen wollte, so subtil kamen die bösen Blicke von meinem Bruder. Also blieb der Koffer, wo er war: bei uns.
Es dauerte einige Minuten, bis wir Alexanders BMW vom Schnee freigeschaufelt hatten, um endlich losfahren zu können. Natürlich fing ich zwischendrin an, eine Schneeballschlacht zu inszenieren, doch niemand außer Jiro machte mit. Unglaubliche Spaßbremsen.
Wir winkten Mom und Dad noch hinterher, als wir in das Auto stiegen und das Grundstück verließen. Und kaum fuhr Alexander aus dem Südtor auf die Hauptstraße, trat eine bedrückende Stille ein. Kiyoshi nahm schließlich meine Hand, die auf der Rückbank lag, und sah schweigend aus dem Fenster. Auch ich starrte gedankenverloren durch die Runde und konnte an den zwei Männern, die vor uns saßen, sehen, dass sie dieselben Gedanken fassten.
»Seltsam«, flüsterte Jiro los und beobachtete die Schneelandschaft, welche zügig an uns vorbeizog, während Alexander vorsichtig über die glatte Straße fuhr. »Das letzte Mal, als wir alle so im Auto saßen… da…« Doch weiter kam er nicht. Auch Alexander seufzte traurig auf und sah verkniffen aus der Windschutzscheibe.
Es fühlte sich so an, als würden wir in der Zeit zurück versetzt wieder in diesem alten Mercedes sitzen. Als würde die Angst noch so frisch wie am ersten Tag der Flucht in uns sitzen.
Dabei war er tot. Nicht mehr existent. Er konnte uns nicht mehr jagen.
Kiyoshi drückte meine Hand auf der Rückbank recht feste, sodass ich besorgt in seine Richtung sah. Zittrig drehte er sich zu mir um, blinzelte über feuchte Augen und rang sich ein kleines Lächeln ab. Es war das Lächeln eines Mannes, dem noch einmal bewusst wurde, dass er um ein Haar mit seinem Bruder gestorben wäre.
Ich hob seine dünne, weiße Hand an und küsste liebevoll die weiß hervorstehenden Knöchel. Nach diesem Abendteuer war mir klar, dass egal, was kommen würde, ich diese Hand nie wieder loslassen würde. Und als mir mein Bruder das süßeste und glücklichste Lächeln der Welt schenkte, war ich froh, dass wir noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen waren und niemand einen Ehrentod sterben musste.
Nach dem zugegeben sehr romantischen Moment, blickte ich wieder nach vorne. Alexander hatte den Schaltknüppel losgelassen und seine Hand auf Jiros Bein gelegt, wo sie sofort von zwei weiteren umschlossen wurde. Liebevoll strich Jiro mit seinen Daumen über Alexanders großen Handrücken.
Der Anblick der beiden stimmte mich gleich viel besser, auch wenn die Mimik des frischen Pärchens noch immer nachdenklich wirkte. Aber hey, wir hatten es geschafft, oder? Nichts konnte uns mehr auseinanderbringen.
Als wir Alexanders gut gepflegten Wohnkomplex erreichten, konnte sich Jiro wohl einen giftigen Kommentar nicht verkneifen.
»Voll die Bonzengegend. Wieso war mir das klar?«, seufzte er laut auf.
»Und als was würdest du die Gegend von den Zwillingen bezeichnen?«, raunte Alexander aus, als wären wir im hinteren Bereich des Autos nicht mehr anwesend gewesen. Mit einer schnellen Handbewegung machte er sein Auto parksicher, stieg aus und trat sofort in eine kleine Schicht Schnee.
»Als abgeschottet von der Außenwelt«, antwortete Jiro beim Aussteigen und grinste noch immer recht amüsiert. »Hero, ich wäre glaub ich direkt wieder umgedreht, wenn deine Mom nicht neben mir gesessen hätte.«
»Dann kannst du ja in etwa nachvollziehen, wie ich mich gefühlt habe, als ich im Sommer hierhergekommen bin«, scherzte ich, zwinkerte Jiro zu und nahm Kiyoshis Hand, der stumm neben mir stand.
»Hat sich ja alles zum Guten gewendet…«, beschwichtigte mein Kumpel die Situation, in der Kiyoshis Stimmung wieder umzuschwenken drohte.
»Gott sei Dank, ja…«
Alexander wartete nicht länger auf uns, schloss den Wagen vom Hauseingang aus ab und hielt uns die Tür zum Flur auf. Es war ein modernes Mietshaus, ganz in weiß.
Innen war die Treppe aus hellem Marmor, das Geländer stilsicher aus weiß-lackiertem Holz und Glaswänden. Sowieso roch es auch leicht nach Pfirsich, als hätte jemand frisches Obst hierhergebracht.
Jiro sah sich interessiert um und folgte unserem Gastgeber schließlich die Treppe nach oben. Kiyoshi und ich seufzten bei jeder Stufe und wünschten, wir hätten den Aufzug genommen. Zwei Sportskanonen in ihrem natürlichen Umfeld.
Als Alexander seine Wohnung im dritten Stock aufschloss und allen Anschein nach ein komplettes Stockwerk für sich hatte, staunten wir nicht schlecht. Schwarzer Marmor lag im Flur, der länglich in die Wohnung reichte. Einzelne Türen zu ebenfalls geräumigen Zimmern zeigten, wie gewaltig groß die Wohnung war. Und nicht nur die Bauweise war beeindruckend, auch die Einrichtung zeugte von einer Menge Geschmack, so viel musste ich zugeben.
»Du hast es wirklich schön hier«, bemerkte Jiro sehr leise, als er sich die nassen Schuhe im Flur auszog. Das dauerte natürlich ein wenig länger; so 14-Loch Boots brauchten ihre Zeit. Alexander stand bereits in seinem Wohnzimmer, welches gleichzeitig sein Schlafzimmer zu sein schien, und sah auf das Festnetztelefon. Jemand hatte anscheinend angerufen. Doch unser Gastgeber drückte die Nachricht einfach weg und stellte das Telefon wieder in die Station.
Anzunehmen, dass es die Eltern waren, zu denen Alexander ja sowieso kein so gutes Verhältnis hatte.
»Echt cool… Aber wieso schläfst du im Wohnzimmer?«, hakte ich nach, während ich den weiß lackierten Esstisch inspizierte, um mich schließlich auf einen der schwarzen Lederstühle zu setzen. Sie schwangen ein wenig zu meinen Bewegungen.
»Ich brauche nur ein Zimmer. Die anderen Zimmer habe ich anders eingerichtet«, erklärte Alexander und ging wieder in den Flur. Kiyoshi setzte sich auf meinen Schoß und strich über die Blätter einer Zimmerpflanze, welche sich am bodenlangen Fenster befand.
»Wirklich eine große Wohnung«, bemerkte mein Bruder nach einigen Minuten, in denen kein Wort fiel und sah sich bewundernd um. »Die wäre perfekt für uns, Hiro.«
Das zauberte mir natürlich ein Lächeln auf die Lippen. »Jetzt müssen uns unsere Eltern nur noch ausziehen lassen. Und die Miete zahlen.«
Kiyoshi seufzte langgezogen aus und ließ die Schultern hängen. Dass das auf längere Zeit wohl erst einmal nicht passieren würde, war uns beiden klar.
»Für jemand alleine finde ich sie doch etwas zu groß«, schaltete sich Jiro wieder dazwischen und setzte sich auf eine kleine Ledercouch, die vor einem großen Fernseher stand. »Aber ich gehe mal davon aus, dass Herr von Hofstätt weder selbstständig putzt noch wäscht. Dann kann die Wohnung ja so groß sein, wie sie will«, spottete mein Kumpel etwas giftig in die Runde, während er missmutig über das weiche Leder strich. Gut, dass Alexander nicht im Raum war und den Kommentar gehört hatte.
Je länger ich mich umsah, desto deutlicher erinnerte ich mich an Alexanders kleine Hütte im Süden bei seiner Tante. Die war ziemlich puristisch eingerichtet. Auch in dieser Wohnung sah man wenig persönliche Dinge. Selbst die großen Fotografien auf Leinwand wirkten… austauschbar.
Alexander kam mit einigen Gläsern aus der Küche wieder und stellte sie auf dem Esstisch ab. Nur ein Glas war leer, der Rest mit einer blutroten Flüssigkeit gefüllt.
»Was möchtest du trinken?«, fragte er den einzigen Menschen in der Runde. »Wasser, Cola… Ich habe auch Orangensaft.«
»Eine Cola wäre nett«, lächelte Jiro etwas genierend mit dem Wissen, dass Alexander wahrscheinlich nur für ihn etwaige Getränke gekauft hatte. Ein kurzes Nicken vom Schwarzhaarigen folgte, die Colaflasche kurz danach.
»Und du wohnst hier echt ganz alleine?«, fragte ich schließlich wieder in die Runde und trank vom Blut. Es schmeckte ziemlich frisch. Wieder einmal wollte ich nicht wissen, woher Alexander solch frisches Blut hatte…
»Ja.«
»Und das… soll wohl auch erst mal so bleiben, oder?«, fragte ich scheinheilig weiter und bekam sofort einen Tritt in mein Schienbein.
Ja, ja. Verstanden, Kiyoshi.
Alexander räusperte sich ebenfalls unangenehm berührt. Selbstverständlich hatte er meine Anspielung verstanden. Und so liebevoll wie die beiden jetzt miteinander umgingen, schien eine gemeinsame Wohnung zumindest einen Gedanken wert zu sein.
Als Alexander noch immer recht rastlos inmitten des Raumes stand und sich wohl nicht setzen wollte, stand Jiro ebenfalls auf und stellte das Glas auf dem weißen Tisch ab.
»Und wo trainierst du immer?«, fragte er auf einmal eine skurrile Frage.
Angesprochener schien etwas überrumpelt zu sein, schluckte erst eine Menge Blut runter, welches er kurz vorher an seinen Mund geführt hatte, und nickte schließlich gen Flur.
»Im hinteren Zimmer stehen meine Geräte.«
»Du hast extra Geräte hier? Kann man die sehen?«, platzte es aus mir raus; voller Neugierde, da ich eigentlich auch ein bisschen mehr für meinen Körper tun wollte und mir gerne ein paar Tipps zustecken ließ.
»Wenn du die Augen aufmachst, solltest du sie sehen können«, scherzte Alexander finster vor sich in und ging mit seinem Glas den Flur entlang. Kiyoshi wurde sofort von meinem Schoß gescheucht, sodass ich dem schwarzhaarigen Vampir mit schnellen Schritten folgen konnte.
Mein Bruder teilte mein Interesse für Trainingsgeräte natürlich nicht sonderlich und blieb für eine Weile am Tisch stehen. Erst als Jiro ihm zulächelte, demonstrativ am Türrahmen auf ihn wartete, setzte er sich in Bewegung, um uns demotiviert zu folgen.
Kiyoshis Launen wurden wieder extremer, sodass ich mir langsam eine Lösung für dieses "Problem" überlegen musste.
Als Alexander seinen Trainingsraum öffnete und ich auf drei verschiedene, zugegeben echt große, Geräte blickte, trat ich in das Zimmer ein. »End krass…«, platzte es aus mir heraus.
Ehrfürchtig setzte ich mich ungefragt auf eines der Geräte, fasste nach den Gummigriffen und überlegte, was ich tun müsste, um die Gewichte zu bewegen.
»Du musst die Arme nach oben bewegen«, erklärte Alexander und stellte sich locker mit seinem Glas neben das Gerät. »Ich kann es dir aber auch so einstellen, dass du die Arme vor der Brust zusammenführen musst.«
»Ich probier's mal«, grinste ich und versuchte die Gewichte über meinen Kopf zu stämmen.
… und ich scheiterte jämmerlich.
Kiyoshi fing schlagartig an zu lachen und kam auf mich zu. Auch Jiro grinste in sich rein, während ich weiterhin versuchte, die Griffe zittrig nach oben zu drücken.
»Alter, was hebst du?! Elefanten?«, stöhnte ich genervt auf, als ich die Griffe los ließ.
Alexander schmunzelte und zog die Schultern hoch. »Ich trainiere auch viel. Von nichts kommt nichts.«
»Und das hier?«, fragte Jiro, zeigte auf eine Langhantel, die auf einer Gummimatte am Boden lag. Die Scheiben waren so groß wie ein Autoreifen. »Das stemmst du auch?«
Kiyoshi kam neugierig auf die Langhantel zu, kniete sich zu ihr und untersuchte die Gewichte, die fast so groß waren wie er selber. »180 Kilogramm? Das ist wirklich viel…«
»180?!«, schoss es aus Jiro raus. »Du hebst mal so locker das Dreifache meines Gewichts? Bist du Schwergewichtssportler?«
»Wir Vampire haben den Vorteil mehr Kraft in unsere Muskeln pumpen zu können, als es ein Mensch könnte. Das darfst du also nicht mit menschlichen Kräften vergleichen«, stellte Alexander klar und trank noch ein paar Schlucke von seinem Glas. Trotzdem waren 180 Kilogramm auf einer Hantel ziemlich viel – auch für einen Vampir. Wieso Alexander auf einmal einen auf bescheiden machte, wusste ich auch nicht.
Ich blieb schüchtern auf dem Gerät sitzen, bei dem ich erbärmlich gescheitert war und beobachtete, wie mein Bruder die Metallgriffe in die Hand nahm.
»Tu dir nicht weh, die Griffe können die Haut verletzen«, bemerkte Alexander etwas nervös, stellte sein Glas ab und wollte Kiyoshi schon davon abhalten, die Hanteln zu heben, wurde aber durch ein energisches Kopfschütteln abgehalten.
»Geht schon!«
Als Kiyoshi sich tatsächlich ins Zeug legte, die Hantel zu heben, dachte ich im ersten Moment, mein dürrer, schwacher Bruder würde mich jetzt in Grund und Boden stemmen, doch auch er bekam die Hantel nicht einmal einen Zentimeter vom Boden. Er lachte auf, rollte mit der Hantel nach hinten und fiel auf den Hintern.
Selbst Alexander musste schmunzeln und half meinem Bruder wieder auf die Beine. Jiro ließ sich nicht weiter beirren, versuchte auch sein Glück an der Hantel. Doch auch er bekam sie nicht wirklich vom Boden.
»Alter!«, stieß er aus seinen Lippen und ließ die Metallstange schließlich enttäuscht los. »Die Metallstange tut echt weh. Warum ist die so aufgeraut?«
»Damit man nicht über das Metall rutscht. Ich habe auch etwas Magnesiumpulver hier. Das brauche ich aber eher selten.«
Alexander zeigte uns dann eine kleine Dose mit weißem Pulver. …Hätte auf den ersten Blick auch etwas anderes sein können, womit sich unser Freund immer viel Freude bereitet hätte.
»Na los, Playboy«, giftete ich unseren Gastgeber an und deutete mit dem Kinn auf die Langhantel. »Heb das Ding. Das will ich jetzt sehen.«
Natürlich kam das Wort "Playboy" nicht wirklich gut an, aber irgendwie musste ich Alexander ja anstacheln.
Der schnaubte aus, knackte demonstrativ mit den Schulterknochen und stellte sich vor die Langhantel. Er krempelte professionell sein Hemd hoch, kniete sich hin und umschloss die Stange mit seinen Händen.
Irgendwie hielt jeder von uns den Atem an, als Alexander die 180 Kilogramm mit etwas seufzen anhob. Man sah ihm an, dass auch er sich enorm anstrengen musste, aber als das Ding einmal in seinen Händen lag, stemmte er es mit Leichtigkeit hoch.
»Jetzt wundere ich mich auch nicht mehr, wie du mich so lange herumtragen konntest…«, murmelte Jiro und beobachtete, wie der Bizeps von Alexander vor- und zurückrutschte.
Nach einigen Zügen, in denen Alexander über Jiros Kommentar grinste, legte er die Hantel wieder ab und rieb sich die Handinnenflächen. Seine Arme zeigten deutlich hervorstehende Adern, die zugegeben recht lecker aussahen. Ja, ich hätte gerne mal reingebissen. Aber da die Adern Alexander und nicht etwa meinem Bruder gehörten, hielt ich von dieser Idee ganz viel Abstand.
»Warum hast du keine Handschuhe?«, fragte Jiro leise, als Alexander wieder auf ihn zukam. »Deine Hände sind jetzt ganz rot…«
»Das geht in ein paar Minuten wieder weg. Geht schon«, brummte sein Freund leise, lächelte Jiro eine Weile lang an und strich liebevoll über seine schmale Hüfte. Der liebevollen Geste folgte ein langer, intensiver Augenkontakt, der beide Männer in eine andere Dimension brachte. Alexanders Griff um Jiros Hüfte wurde dabei merklich fester.
Kiyoshi und ich standen natürlich noch im selben Raum und grinsten uns die Wangen wund, als Alexander merkte, wie verliebt er mit Jiro vor unseren Augen umging. Sofort sah er beschämt zur Seite und ließ seinen Freund los. Jiro schien das alles nicht zu stören, grinste glücklich in die Runde und hoppelte aus dem Geräteraum.
»Und? Was sagst du, soll ich mir auch solche Geräte anschaffen?«, fragte ich meinen Bruder, der mit seinen Fingern etwas skeptisch über die anderen Gerätschaften fuhr. »Und ein bisschen trainieren?«
»Ehrlich gesagt, gefällst du mir, wie du bist…«, murmelte er und sah mich mit großen Augen an. Alexander ging schließlich ebenfalls aus dem Raum, sodass ich mit Kiyoshi alleine war. Da flüsterte er mir leise zu: »Alexander ist mir zu viel.«
»Magst du etwa keine Muskeln?«
»Doch schon«, hauchte mein Bruder, »Aber nicht so viel. Sein Oberarm ist so breit wie mein Oberschenkel.« Dabei fasste er sich an seine hohen Wangen und rieb sie nachdenklich. »Das ist gruselig.«
»Verstehe… Aber so ein bisschen darf ich?«
Kiyoshi lächelte sofort auf, nickte energisch und küsste meine Lippen. Liebevoll schmiegte er sich an meinen Körper und zog die Schulter hoch. Wie ein schmales Kätzchen kuschelte er sich in meine Arme.
Es gefiel ihm also, wenn ich ihn wegen einer Nichtigkeit um Erlaubnis bat, damit er an meinem Leben teilhaben konnte.
So langsam schien ich zu verstehen, was in seinem Kopf vorging. Oder auch nicht – denn es dauerte natürlich wieder nicht lange, bis die schlechte Laune erneut eintrat.
Denn so schön, wie Alexanders Bude auch war: wir mussten die beiden Turteltäubchen dringend alleine lassen. Und diese von mir wieder wunderbar inszenierte Aktion ließ Kiyoshi abermals die Augen verdrehen…
»Wo geht ihr hin?«, fragte Jiro, als ich und Kiyoshi die Schuhe anzogen. »Raus?«
»Mamoru steht schon vor der Tür und holt uns ab«, grinste ich meinem Kumpel entgegen und kam auf ihn zu, um ihn zum Abschied zu umarmen. So gemein, wie ich war, hatte ich Mamoru geschrieben, dass er uns bei Alexander abholen kommen sollte, ohne Jiro darüber zu unterrichten.
»Ja, okay…«, murmelte mein Kumpel niedergeschlagen, sah sich um und schnappte sich seine Jacke. »Dann fahren wir.«
Die Trauer war ihm ins Gesicht geschrieben. Er wollte wohl viel lieber noch ein bisschen länger geheimnisvoll, unendlich lange in der Küche mit Alexander stehen, während wir im Wohnzimmer saßen. Aber genau das sollte er ja auch weiterhin tun: er wusste es nur noch nicht.
Alexander stand ebenfalls etwas perplex im Flur und sah uns zu, wie wir uns anzogen. »Da wart ihr ja nicht lange hier.«
»Sieh's ein, wir können eben nicht so lange aufeinander hocken, wie du und Jiro«, spaßte ich, zwinkerte ihm zu und umarmte ihn zum Abschied. Ich bekam nur einen groben Schlag in die Rippen und ein süffisantes Grinsen von Alexander, als er mich losließ.
Kiyoshi umarmte den noch immer verwirrten Jiro und seufzte. »Bis bald Jiro. Wenn du … nach Hause willst, ruf uns an.«
Ach, Kiyoshi, dachte ich. Spiel doch wenigstens einmal mit!
»Wie? Nach Hause?«, fragte Jiro natürlich verwundert und blickte zwischen Kiyoshis und meinem Gesicht hin und her.
»Ja, genau, meld dich einfach zwischendurch!«, grinste ich breit, klopfte meinem Kumpel auf die Schulter und verschwand mit Kiyoshi so schnell es ging aus Alexanders Haustür. Ich ließ sie offenstehen, vernahm noch Alexander am Türrahmen, wie er uns genervt hinterherblickte, und verschwand schließlich mit meinem Bruder aus dem Mietshaus. Wie auf der Flucht scheuchte ich Kiyoshi vor mir her, der sich nicht dazu aufraffen wollte, schneller ins Auto zu steigen, damit Jiro uns auch ja nicht nachrennen konnte.
»Du hast echt'n Knall«, murmelte er schließlich mit verschränkten Armen, nachdem wir im Auto saßen und Mamoru losfuhr.
»Und ich liebe dich«, fügte ich amüsiert hinzu. Die verkniffene Mimik meines Bruders entwich im Nu, sodass er verstohlen aus dem Fenster blickte. Zwischen seinen weißen Haaren konnte ich eine leichte Röte um seine Wangen wahrnehmen, sodass ich glücklich auflachte. Immer wieder erstaunlich, wie schnell er die Launen wechseln konnte.
*
»S-Sind die jetzt schon weg?«, stotterte Jiro auf, war noch immer dabei sich die Jacke richtig anzuziehen und stolperte zu Alexander, der ruhig und gelassen an der offenen Tür stand.
»Sieht so aus.«
»Aber… die können mich doch nicht einfach hierlassen!«, seufzte der Schwarzhaarige verzweifelt und wollte schon aus der offenen Tür hechten.
Doch als er sie gerade zu erreichen schien, drückte Alexander den Spalt zu und verschloss die Haustür, sodass der Mensch nicht mehr auf den Hausflur konnte.
»Wieso nicht?«, fragte er stattdessen leise gegen das ihm nahestehende Gesicht von Jiro. Grüne Augen blickten schlagartig hoch und sahen wie Rehaugen erschrocken in das Licht der blauen Iris.
Die Nervosität, die sich seit dem Morgen verflüchtigt hatte trat überraschend wieder ein und ließ Jiros Herz ernorm schnell gegen seine Brust hämmern.
Ohne den Augenkontakt zu brechen, ging Alexander einige kleine Schritte auf Jiro zu, und drückte ihn mit seinem Gewicht gegen die geschlossene Haustür. Der einzige Fluchtweg aus den Fängen des Vampirs war damit abgeschnitten. Nun war der Mensch zwischen starken Armen, die an der Wand lehnten, und einem massiven Oberkörper gefangen. Alexander sah nicht so aus, als würde er noch länger auf Jiros Taten oder Worte warten wollen.
Wie erstarrt blieb der Mensch an der Tür stehen und ließ sich sanft auf die Lippen küssen. Denn obwohl Alexander gefährlich wie ein Raubtier zu sein schien, waren seine Berührungen sanft und beherzt. Es war wahrscheinlich einfach seine Aura, seine Statue und seine Dominanz, die jeden in seiner Gegenwart erstarren ließ.
»Alex«, flüsterte Jiro leise, fast ehrfürchtig zwischen den einzelnen Küssen gegen die grobe Haut des Vampirs. Kleine Stoppeln hatten sich bereits auf seinen Wangen breit gemacht und deuteten einen vollen Bartwuchs an.
Doch Alexander antwortete nicht, küsste einfach weiter über Jiros Hals und Schlüsselbein. Sein ganzer Körper presste den Menschen gegen die Wand, ließ ihm kaum Freiheiten, sich zu bewegen. Nur Jiros Arme lagen über Alexanders Nacken und griffen nach den langen, schwarzen Haaren.
Als dann die großen, weißen Hände auch noch die Winterjacke von Jiros Körper strichen und zu Boden gleiten ließen, wurde der Mensch noch nervöser als vorher. Würden sie also jetzt Sex haben? Da weitermachen, wo sie heute morgen gestört wurden? Im Flur?
Könnte er das? Würde er das schaffen?
Selbst, wenn es nur zu Petting kommen würde – Herrgott, der Mensch wusste doch nicht mal wie ein Blowjob funktionierten würde. Natürlich konnte er sich denken, wie so was ging, immerhin war er schon oft genug in den Genuss davongekommen, doch selber hatte er noch nie mit seinem Mund ein anderes Glied beglückt. Und er wollte seinen Partner bei Gewissheit nicht enttäuschen. Aber war es überhaupt möglich, Alexanders Erwartungen gerecht zu werden? Immerhin hatte er schon so viele Sexpartner in seinem Leben gehabt – jedenfalls kam das bisher immer recht deutlich aus Hiros Erzählungen raus –, sodass es für Jiro fast unmöglich schien in solche Fußstapfen zu treten; wo er doch keine Ahnung von irgendwas hatte.
Und mit einer solchen Nervosität würde er noch weniger hinkriegen. Was, wenn er sich lächerlich machen würde? Was, wenn Alexander ihn auslachen oder gar verstoßen würde? Was, wenn all seine Bemühung mit einer einzigen falschen Tat hinfällig werden würden?
»A-Alex«, murmelte Jiro erneut auf, zitterte bereits am ganzen Körper und hielt sich klammernd an Alexanders Hemd fest, welches sich fast wie von selber von den Muskeln schob. Der Vampir verstand nicht ganz, worauf der Mensch hinauswollte, schnappte sich den schmalen Körper und trug ihn wie ein Leichtgewicht an der Hüfte aus dem Flur in sein Schlafzimmer, wo er Jiro in sein großes Bett legte, um ihn wieder zu küssen.
Doch ehe die zärtlichen Berührungen intensiver werden konnten, stoppte Jiro Alexanders Kuss, indem er ihm eine Hand vor die Lippen legte.
»Alex«, wiederholte Jiro zittrig und schluckte einen kräftigen Kloß runter. »I-Ich …«, begann er, brach jedoch mit der Stimme ab. Die Hitze, die Leidenschaft und die Lust, die sich zwischen den beiden Männern breitgemacht hatte, ließ Jiro kaum Atmen.
Alexander stoppte jegliche Bewegung, nahm sogar etwas Abstand vom Menschen und sah ihn mit großen, besorgten Augen an. »Hab ich… dir wehgetan?«
»Nein! Nein, nein!«, beschwichtigte der Mensch seinen Liebhaber, der noch völlig überfahren über ihm hockte. »Ich… ich, äh… weiß nur nicht, ob… ich… also…«
Der Vampir konnte sich nach Jiros Stottern kein Lächeln mehr unterdrücken. Der Punk hatte also Schiss. Wollte noch warten. Natürlich, dachte sich Alexander, Jiro war keine Frau, die nur wegen des Sex mit ihm einige Stunden verbrachte. Nein, Jiro wollte Alexanders Geist bei sich haben, sich mit ihm unterhalten und die Anwesenheit genießen. Nicht nur körperliche Liebe spüren, sondern auch die Immaterielle.
»Ich wollte dich nicht überrumpeln«, flüsterte der Vampir liebevoll gegen die Lippen seiner neugewonnen Liebe und küsste abermals den feuchten Mund. Wieder spürte er jedes Piercing und genoss den Kontakt zwischen Haut und Metall.
»Hm…«, brummte Jiro auf, legte schließlich seine Arme um Alexanders Nacken und genoss den zurückhaltenden Kuss. »Ich bin einfach nicht so erfahren wie du…«
»Wer sagt, dass ich erfahren bin?«, platzte es aus Alexander raus. Fast empört blickte er in die Augen seines Freundes, der seinen Satz erschrocken zurückzog.
»Äh, ach, niemand. Ich dachte nur, weil du so… forsch… warst… als wüsstest du genau, was du tust…«
Alexander stierte noch einige Sekunden in die grünen Augen, die verzweifelt in die Luft blickten, als würden sie sich dort vor dem bösen Vampir retten können.
»Ich weiß, was ich will«, begann er etwas ruhiger, streichelte mit der Hand über Jiros Wangen. »Also tue ich alles, um genau das zu bekommen.«
»Nimmst dir ganz schön viel raus«, grinste der Mensch scheu auf und schöpfte erneuten Mut. »Was passiert, wenn du mal nicht das bekommst, was du dir in den Kopf gesetzt hast? Wirst du dann trotzig?«
Für einen Moment wusste Alexander nicht ganz, worauf Jiro hinauswollte. Er blieb stumm, überlegte und das Einzige, was sich in seinem Kopf breit machte, waren die erotischen Gedanken des gewaltsamen Sex mit Jiro. Genau das würde wahrscheinlich passieren, wenn er nicht bekäme, was er wollte. Alexander würde Gewalt anwenden.
»…Wahrscheinlich werde ich trotzig, ja«, murmelte der Vampir schließlich auf Jiros Frage und zuckte mit den Mundwinkeln. Selbstverständlich durfte Jiro diese unangenehme Eigenschaft von ihm nie erfahren. Eine Notlüge war dann schon in Ordnung.
»Das ist irgendwie süß«, bemerkte Jiro schmunzelnd und strich über Alexanders kalte Wangen. Sein Bartwuchs war wirklich extrem schnell, schoss es durch Jiros Kopf und streichelte weiter über die Bartstoppeln.
»Ich bin bestimmt nicht süß…«
»Nein, du bist ein verwöhntes Biest. Aber es ist süß, wenn du trotzig werden würdest.«
Jiros natürliches Lachen hallte durch die weißen vier Wände des Schlafzimmers, sodass Alexanders dunkles Gemüt schlagartig erhellte und ihn selber zum Lachen anregte.
Was war es nur, dass ihn so in den Bann dieses Mannes zog? Wo er doch nicht einmal mehr besonders hübsch oder erotisch war.
Oder doch?
Jiro war erotisch. Auf seine eigene Art und Weise. Alexander wusste, dass er den Menschen eigenständig in diese hohe Position gehoben hatte. Denn ohne diese furchtbaren Erinnerungen an die Vergangenheit würde Jiro in Alexanders Welt untergehen. Wenn er ihn ohne jeglichen Hintergrund kennen gelernt hätte… wäre da doch nie etwas passiert, oder nicht?
Alexander seufzte, anstatt Jiro zu antworten und ließ sich neben den schmalen Körper fallen. Zögerlich umschloss Jiro den Brustkorb seines Partners und lehnte sich an seine Schulter.
Schweigen machte sich breit. Es war eine Mischung aus unausgesprochenen Problemen und die noch immer vibrierende Hitze, die beide Männer kurz vorher verspürt hatten.
Sie lagen noch eine Weile zusammengerollt und aneinander gekuschelt in Alexanders Bett, bis Jiro anfing auf Alexanders Wangen zu tippen.
»Was ist?«, fragte der Vampir scheinheilig, als das Klatschen auf seiner Haut fester wurde.
»Ich muss dir noch in die Fresse schlagen.«
»Jetzt?«
»Hm… Nein, irgendwann später.«
Alexander schmunzelte sofort auf und verdrehte die Augen. »Als würde dir mehr Zeit den Arsch retten.«
»… Aha? Und wieso willst du an meinen Hintern, wenn ich dir ins Gesicht schlage?«, hakte Jiro belustigt nach und zog eine Augenbraue hoch.
»Ist das nicht offensichtlich? Ungezogenes Verhalten trägt Konsequenzen mit sich«, plauderte Alexander die Dinge aus, die ihm so durch den Kopf schwirrten; doch kaum waren sie aus seinem Mund entwichen, biss er sich auf die Lippe. Jiro den Hintern zu versohlen klang in seinem Kopf besser, als ausgesprochen. Die Retouren-Klatsche ließ auch nicht lange auf sich warten.
»Ungezogen? Und was lässt dich denken, dass ich ungezogen bin? Nur, weil ich dir gebe, was du verdienst?«, murmelte Jiro streng und verengte seine Augen. In seiner Stimme bebte Empörung.
»Du hältst dich selten an die Dinge, die man dir sagt.« Alexander räusperte sich unangenehm berührt und fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare. Doch die hilflose Geste traf auf wenig Verständnis.
»Die man mir sagt… oder die du mir sagst?«
Jiro wusste selber nicht, was für ein seltsames Gespräch das werden würde, hielt es jedoch aufrecht, da er anscheinend am längeren Hebel stand und Alexander in der Hand hatte. Ein seltenes, aber ebenso gutes Gefühl der Macht.
»Ich zähle mich mal dazu«, murrte der Vampir und nahm den Augenkontakt zu Jiro wieder auf.
»Wieso sollte ich dir auch bedingungslos gehorchen? Du bist mein Freund und nicht mein Herr und Meister.«
»Sagt wer?«, kam es wie aus der Pistole aus Alexanders Mund geschossen. Und wieder hätte er sich für diesen Satz ohrfeigen können. Denn Jiro öffnete schlagartig den Mund und sah verletzt in seine Richtung. Das nachfolgende, ungläubige Lachen stimmte Alexander noch ein Stück leidmütiger.
»Du wärst also gern mein Herr und Meister?«, fragte Jiro gereizt nach, als wäre seine persönliche Freiheit etwas, was er niemals abgeben würde. Sein sarkastisches Lachen fragte Alexander indirekt, ob das alles ein schlechter Scherz sein würde. Dass er die Antworten des Vampirs dermaßen auf die Goldwaage legte, stimmte Alexander nachdenklich. Vielleicht lag es an seiner überzeugenden Art, dass Jiro diese Sätze nicht als einfachen Witz hinnahm. …Denn schließlich war es auch nicht komisch gemeint.
»Vielleicht«, brummte der Schwarzhaarige Vampir aus seinen Lippen, lächelte verlegen und hob dabei beide Augenbrauen. Der einzige Ausweg würde jetzt die sarkastische Schiene bleiben.
»Aha«, begann Jiro, erhob sich aus den weichen Federn und drehte sich auf den Bauch, um Alexander in die Augen sehen zu können. Forsch blickte er in die blauen Augen. »Und ich soll Sklave spielen, oder was? So einer bist du also…«
»Was soll das hier heißen "so einer bist du"? Du kennst mich jetzt lang genug, um zu wissen, dass ich dich niemals wie meinen Sklaven behandeln würde«, verteidigte sich Alexander zugegeben recht schwach. Denn innerlich stand er nicht zu dem, was er da sagte. Selbstverständlich hätte er den Willen und besonders das Zeug, Jiro mit nur einer Handbewegung zu seinem Sklaven zu machen. Aber ob Jiro da mitmachen würde, lag unangenehm drückend in der Luft. Denn allen Anschein nach würde der Mensch da eher nicht mitziehen.
»Ich kenne dich lang genug, um zu wissen, dass du ein sturer Bock bist. Aber ich kenne dich nicht in deinen Gewohnheiten… Und irgendwie klingt das Meister-Sklaven-Ding ziemlich nach dir.«
»Pf«, schnaubte Alexander aus und verschränkte die Arme. Eine abwehrende Geste, die Jiro zeigen sollte, dass das Thema lieber unter dem Teppich verschwinden sollte. »Du bist auch nicht gerade ein unterwürfiger Typ. Du bist ein lausiger Punk, der wahrscheinlich Anarchie frühstückt, Freiheit trinkt und Menschenrechte anzieht.«
»Richtig«, stimmte Jiro ohne weitere Worte zu. »Du sagst es so abfällig, als sei es eine Schande, dafür einzustehen. Stehst du etwa auf feste Regime, Sklaverei und Foltere?«
Alexander starrte eine Weile in Jiros Augen und wusste keine passende Antwort auf diese Frage. Der Blick seines Partners sah verkniffen und nicht mehr so liebevoll aus, wie er es heute morgen tat. Wieso stritten sie? War so viel Nähe vielleicht doch keine so gute Idee? Wo sie beiden doch wie Eis und Feuer zu sein schienen…?
»Vielleicht.«
»Vielleicht? Ich verhör mich wohl!«, platzte es aus dem Menschen raus. »Das kannst auch nur du behaupten! Was, wenn du kein Geld mehr hättest? Und du auf andere angewiesen wärst? Was dann? Sind Freiheit und Menschenrechte immer noch so blöd?«
»Weiß nicht, was das mit meinem Geld zu tun haben soll«, brummte Alexander finster vor sich hin und erhob sich ebenfalls aus den Kissen. Ihm war nicht mehr nach Kuscheln oder nach gemütlichen Momenten. Eigentlich hätte er gerne ein paar Gewichte gestämmt – der Wut ein wenig Platz geben, bevor er sie an Jiro auslassen würde.
»Weil immer nur reiche Leute auf alte Ordnungen bestehen. Denn so lange sie alles haben, was sie brauchen, können die anderen Leute ja in Folter und Hass versinken.«
»Tu nicht so, als wäre ich ein grausamer Diktator«, seufzte der Vampir traurig auf. Dass der Punk für solche Dinge eine Affinität hatte, wurde Alexander immer deutlicher. Punk war also tatsächlich nicht nur eine Modeerscheinung, sondern auch eine Lebenseinstellung: Immer dagegen sein.
Jiro erhob sich auf Alexanders Höhe und sah verkniffen in sein Gesicht, welches sich lieber unter der Decke versteckt hätte. Wieso stritten sie denn jetzt über ein so dummes Thema? Wen interessierte das? Könnten sie nicht einfach Sex haben?
»Ich kann deine Einstellung nur nicht so ganz verstehen…«, murmelte Jiro wesentlich ruhiger und versuchte den Augenkontakt wieder aufzunehmen. Alexanders traurige Antwort stimmte den Menschen nachdenklicher.
»Meine Einstellung? Ich bin auf deiner Seite Jiro, glaube mir. Das war ein Witz vorhin. Fahr nicht gleich an die Decke, sobald dir jemand auf die Füße tritt und deine Ansichten nicht zu 100 Prozent teilt.«
»Du hast gesagt, dass du mich gerne als Sklaven halten würdest… Das finde ich nicht besonders Ansichten teilend.«
Da raunte Alexander noch einmal tief auf, packte sich Jiros Gesicht, zog es grob in seine Richtung, presste ihm einen rauen Kuss auf die Lippen und stieg genervt aus dem Bett.
»Ich mag eben die Vorstellung, dich ein bisschen rumzukommandieren, während wir Sex haben. Deswegen bin ich kein Terrorist, okay?«
Schnaubend verließ Alexander fluchtartig das Schlafzimmer, ging in die Küche und ließ Jiro verloren auf dem Bett sitzen. Die Worte waren wie immer unvorbereitet aus Alexanders Mund geraten, sodass ihm nichts Besseres einfiel, als der unangenehmen Situation zu entfliehen.
Doch der Mensch blieb wie versteinert auf dem Bett sitzen, sagte und tat nichts mehr. Stattdessen starrte er auf die weiße Wand und verarbeitete Alexanders Worte.
»Darum ging's?«, flüsterte er in den stillen Raum. Es ging überhaupt nicht um allgemeine Einstellungen, sondern um Sex. Um ein paar Rollenspiele, auf die Alexander allen Anschein nach zu stehen schien.
Und sofort spürte Jiro seinen Herzschlag erhöhen, wie es im Hals pulsierte und seine Wangen schlagartig heiß wurden. Alexander wollte Jiro als Sexsklaven. Er wollte ihn dominieren, ihn nach seinem Willen rannehmen und wohlmöglich an irgendein Möbelstück fesseln.
Ein solches Geständnis ließ den Menschen weiter Zweifeln, ob er solche Dinge jemals umsetzen könnte. Ob er jemals in der Lage wäre, sich devot an ein Bett fesseln zu lassen, um von Alexander durchge –
»Was hältst du von heute Abend feiern?«, kam Alexander nach einigen Minuten Funkstille wieder ins Wohnzimmer und hielt ein Glas Blut in der Hand. »Du wolltest doch mal wieder feiern gehen, hast es aber wegen der Lernerei nicht geschafft. Jetzt lernst du nicht.«
Jiro saß noch immer wie überfahren auf dem Bett und brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass man ihm gerade eine Frage gestellt hatte. Nur langsam nickte. »J-Ja. Wieso nicht? Klar…«
»Ich sag den Zwillingen bescheid.«
Mit den Worten griff Alexander zu seinem Handy und wählte Hiros Nummer.
Ob das eine so gute Idee ist, fragte sich Jiro. Jetzt, wo die Fronten zumindest für einige Meter geklärt waren? Er wollte nicht anfangen, sich betrunken mit Alexander anzulegen. Denn mit Alkohol diskutierte Jiro sehr gerne sehr lange über solche Themen, die Alexander wohl eher am falschen als am richten Fleck trafen.
Das Telefonat mit Hiro endete recht schnell, sodass Alexander sich wieder zu Jiro aufs Bett setzte. Eine versöhnende Geste, die seinem Partner zeigen sollte, dass er keinen Streit haben möchte.
»Treffen uns heute Abend um 23 Uhr vor'm Crystals«, informierte Alexander seinen Freund zwar noch immer recht knirschend, streichelte aber über Jiros Bein.
»So spät?«
»Vorher ist da nix los.«
»Was ist das überhaupt für ein Schuppen?«
»Erinnerst du dich noch, wo wir uns zum ersten Mal getroffen haben?«, fragte Alexander, als wäre es eine romantische Szene gewesen, wie sie beide pöbelnd aufeinander losgegangen waren.
»Ja?«
»So was in der Art.«
»Oh je…«
Alexander nickte zustimmend, presste die Lippen aufeinander und rieb sich den Nasensteg.
Es würde ein furchtbarer Abend werden, das wusste er bereits. Mit den Zwillingen und Jiro ins Crystals? Da, wo ihn jeder kannte? Da, wo jeder sofort sehen würde, dass er nun einen Freund hatte? Denn so viel war sicher: er würde sich mit dem Alkohol nicht zurückhalten. Und wann immer er getrunken hatte, wurde er zum lüsternen Monster. Als würde die ganze Welt aus nur einer Sache bestehen. Wäre Jiro dann auch noch in seiner Nähe, was anzunehmen war, würde es sicherlich auf den ein oder anderen heißen Zungenkuss inmitten der Tanzfläche hinauslaufen.
Rose und Sam wären die ersten, die es auf dem Schirm haben würden. Und spätestens dann wüsste es die ganze Stadt. Aber Alexander war bereit diesen Schritt zu gehen. Es war vielleicht auch irgendwo Selbsterziehung, damit er zum letzten Mal ins Crystals gehen würde, um sich volllaufen zu lassen. Denn jetzt hatte er Jiro. Jetzt hatte er alles andere nicht mehr nötig.
»Ich muss aber vorher zu Hiro und Kiyoshi. Mein Koffer und die Sachen sind noch da«, unterbrach Jiro die Gedanken seines Freundes, der ein wenig zusammenzuckte.
»Ich fahr dich jetzt auch heim«, verkündete der Vampir und stand vom Bett auf. »Dann hast du genug Zeit, dich fertig zu machen.«
»Werde ich eigentlich aus dem Club rausgeschmissen, wenn ich mit Piercings ankomme?«, fragte Jiro zögerlich, als er ebenfalls aufstand und sein Langarmshirt richtete.
»Nicht doch. Lass sie drin. Zieh dich an, wie du dich wohlfühlst. Wir kommen auf jeden Fall rein.«
Denn Alexander war der bunte Hund, der jeden kannte und überall hineinkam. Immerhin war er derjenige, der so manchen Abend gerettet hatte, indem er halbnackt auf die Bar gesprungen war. Mit ihm machte das Crystals den meisten Umsatz. Wieso sollten sie ihn und seine Freunde dann nicht reinlassen? Wegen ein paar Piercings?
»Bist du dir sicher? Also… du weißt, wie ich mich sonst so anziehe, ja?«, warnte Jiro seinen Liebhaber und grinste ihn vielsagend an. Als Alexander nicht sofort antwortete, nutzte Jiro den Moment, um sich liebevoll an seine Brust zu schmiegen.
Nichts hatte sich geändert, es war immer noch wie im Sommer: So schnell sie sich stritten, so schnell fanden sie auch wieder Frieden.
»Ich bin mir sicher. Vielleicht nicht gerade die abgeranzte und zerfetzte Hose vom Punkkonzert. Aber ein paar Nieten oder Streifenshirts… Sind okay.«
»Du bist wirklich zu gütig zu mir… Meister«, betonte der Mensch besonders das letzte Wort, um Alexanders Reaktion zu vernehmen. Und obwohl Jiro genau dort hinein gestochert hatte, wo Alexander wenig Spaß verstand, musste der Vampir schmunzeln, packte Jiros Taille, drückte ihn an sich und küsste ihn harsch auf die Lippen.
Ein dominanter Kuss, der seinem Partner zeigen sollte, dass er es ernst meinte.
»Fang kein Spiel an, was du nicht spielen willst«, brummte Alexander schließlich gegen Jiros Lippen, ließ ihn los und streichelte zum Abschwächen seiner doch drohenden Worte über die glatten Menschenwangen.
Jiro nahm es mit Humor.
Denn von nun an wusste er woran er war. Alexander mochte Rollenspiele.
Zumindest ging der Mensch einige Zeit lang davon aus, dass es nur Spiele waren…
Als Jiro wieder bei uns eintrudelte und ein wenig durchgenudelt aussah – mit den verwuschelten Haaren und dem zerknitterten Shirt – musste ich ihn natürlich ausfragen.
Kiyoshi hatte ich in der Zwischenzeit im Studio geparkt, wo er sich ein bisschen selber beschäftigen sollte. Ich warnte ihn vor, dass es um Jiro und Alexander gehen würde; dieses eine Mal noch. Er nahm es murrend hin. Ob er sauer war oder nicht, war mir im ersten Moment egal, denn ich wollte endlich wissen, was nun Sache war.
»Und, wie war's?«, hakte ich ungeduldig nach, während ich mit Jiro in seinem Zimmer saß. Oder Kiyoshis altes Zimmer. Jedenfalls waren wir alleine und hockten auf dem Fenstersims.
»Wie? Bei Alexander?«
»Ja, natürlich. Wo warst du denn sonst noch?«
Da seufzte er auf. »Bis auf deine gemeine Aktion, mich einfach dort stehen zu lassen, war es gut. Wir haben uns nett unterhalten.«
»Unterhalten…? Oder… unterhalten?«
Durch meinen stimmlichen Unterschied wurde Jiro natürlich bewusst, worauf ich anspielen wollte.
»Hero, Alter! Nein…«
»Wie nein? Nix passiert? So gar nix?«
Jiro schüttelte den Kopf. Als ich genervt aufseufzte und die Augen verdrehte, wedelte er mit der Hand und wollte meine Aufmerksamkeit wieder erhaschen. Verwundert blickte ich wieder zu ihm.
»Also… vielleicht ein bisschen«, gab er nervös zu. »Wir… haben uns geküsst und so.«
»Aha!«, motzte ich los und hob beide Augenbrauen. »Von wegen da läuft nichts und wir brauchen keine Hilfe!«
»Wir brauchen auch keine Hilfe, ok?«, schnauzte Jiro zurück und wedelte vor meiner Nase rum. »Wir schaffen das alleine, wie du siehst!«
»Tz! Und was heißt "und so"?«
Natürlich grinste ich wie ein Honigkuchenpferd, während Jiro mir einzelne Details seines gestrigen Erlebnisses mit seiner Liebschaft schilderte. Dass sie sich allerdings nur geküsst hatten, fand ich dann doch enttäuschend.
»Also kein Sex zwischen euch? Wieso nicht?«, fragte ich direkt und öffnete das große Fenster. Kalte Luft zog sofort in das Zimmer und ließ Jiro erschaudern.
»… wir warten lieber noch ein bisschen«, antwortete er, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und reichte mir einen Glimmstängel.
»Klingt nicht so nach Alexander. Klingt mehr so nach dir.«
»Was soll'n das heißen?«, rief er empört aus, während er die Zigarette zwischen den Lippen hatte. Das Feuerzeug glimmte auf und erleuchtete den Tabak. Genüsslicher Rauch streifte dann auch meine Lunge.
Rauchen im Haus. Vater würde mich killen. Aber mit meinem Kumpel wie in alten Zeiten an einem Fenster sitzen und über unsere Beziehungen reden machte mich verdammt glücklich. Da durfte die obligatorische Zigarette einfach nicht fehlen (Wobei ich mich dabei immer schnell wie ein Waschweib fühlte).
»Du bist mehr so der "lass uns noch was warten"-Typ. Alexander ist mehr so der "lass mal ficken"-Typ.«
»Anscheinend nicht. Er hat sehr gereizt reagiert, als ich das mit einem Nebensatz erwähnt habe. Dass er "erfahren" wirkt. Fand er, glaube ich, nicht so nett von mir«, seufzte Jiro auf und drehte die Zigarette in seinen Fingern. Immer mal wieder rauchte er tiefe Züge und sah gelangweilt aus dem Fenster.
»Er will dir eben gefallen. Und ich glaube, er ist sich bewusst, dass viele Sexpartner zu haben nicht besonders von Treue zeugt.«
»Schon klar. Trotzdem wäre es mir lieber, er würde ehrlich mit mir umgehen.«
»Tut er das nicht?«
Jiro wurde mit einem Mal still und sah nachdenklich aus dem Zimmer. Es machte den Anschein, als würde er einige Situationen im Kopf durchgehen, in denen Alexander wohl hier und da doch ehrlich mit ihm war.
»Doch«, kicherte er leise auf. »Doch, eigentlich ist er ehrlich. Sehr ehrlich sogar.«
»Klingt doch gut. Und wieso willst du dann noch warten?«
Vielleicht waren meine Fragen zu direkt oder zu deutlich, aber Jiro war mein bester Kumpel. Bisher bekam ich alles aus ihm heraus – also auch das.
»Alter, man, chill. Ich find Alex echt nett, aber wir müssen nicht gleich ins Bett springen, oder? Ich hatte noch nie… einen Mann als Freund. Lass mich das erst mal austesten«, murrte Jiro los und schüttelte den Kopf. »Ich find mich noch nicht so einfach damit ab, bi zu sein.«
»Du hast doch nur Schiss vorm Sex, weil du nicht weißt, wie es enden wird«, lachte ich genüsslich auf.
Denn mir war schon bewusst, dass Alexander niemals den Unterwürfigen spielen würde. Schon drei Mal nicht nach seinem Geständnis auf S&M zu stehen – und dabei definitiv nicht für das M stand.
»… du hast leicht Reden«, murrte Jiro seinen Rauch in die kalte Luft und ließ dabei die Fensterscheiben etwas beschlagen.
»Wieso? Weil ich Kiyoshi hab? Meinen eigenen Bruder? Hast Recht, ist echt viel leichter«, scherzte ich sarkastisch, da mir nicht in den Kopf gehen wollte, was an meiner Beziehung in irgendeiner Weise leichter sein sollte.
»Nein…«, murmelte Jiro und sah auf einmal beschämt zur Seite. »Ich meine eher den Sex. Du hast kaum einen Unterschied zu einer Frau… Ich mein… Analsex kennt man ja.«
Da machte es Klick.
»Oh, verstehe«, begann ich und nickte. »Du willst Alexanders Schwanz nicht an deinen Arsch lassen.«
»Oh bitte, Hero! Hör auf, so vulgär zu sein!«, platzte es erschrocken aus Jiro raus.
Da lachte ich beherzt auf und schnipste meine aufgerauchte Zigarette gekonnt in den Wald. Würde schon klar gehen.
»Wir beide sind doch auch sonst vulgär! Wieso auf einmal nicht mehr? Schämst du dich?«, hakte ich amüsiert nach und stupste meinen Kumpel mit dem Ellebogen in die Seite.
»Ja! Das ist ein… heikles Thema für mich, okay?«
»Hm«, überlegte ich, sah dabei in die Schneelandschaft und kratzte mein Kinn. »Ich kann dir leider wenig dazu sagen. Da müsstest du dich mit Kiyoshi unterhalten.«
»Danke auch…«, murmelte Jiro los und vergrub sein Gesicht in seine Hände.
»Hey, komm schon! Was musst du denn schon machen? Da musst du nix können! Besonders bei Alexander kann ich mir vorstellen, dass er 90 Prozent des Sex selber in die Hand nehmen wird.«
Da spähten zwei Augen aus Jiros Händen hervor und sahen mich bestechend an. »Was lässt dich das denken? Hat Alexander dir da was zu erzählt? Hatte er schon einmal mit einem Mann Sex?«
Ich schluckte. Huch, zu viel geplaudert.
»Nee. Also soweit ich weiß, ist das auch für ihn eine Jungfernfahrt. Also… Männertechnisch.«
»Und das andere?« Jiro nahm seine Hände neugierig vom Gesicht und sah mich glühend an. Horchte er mich gerade ernsthaft über seinen eigenen Freund aus?
»Das Andere? Dass Alexander alles in die Hand nehmen wird? Na… er wirkt jetzt nicht unbedingt wie das Fähnchen im Wind. Mehr so wie der willensstarke Baum, der jedem Wind trotzt. Da schließe ich mal … eine dominante Ader heraus.«
Meine nicht besonders aussagekräftige Antwort ließ Jiro aufseufzen. »Das stimmt… Er ist sehr… dominant.«
»Damit wirst du schon klarkommen«, zwinkerte ich ihm zu und erinnerte mich sofort an die Aktion mit dem Koks in der Arschritze. Ich hatte damals so laut von Jiro gepöhnt und jetzt, wo ich ihn wie so ein Mäuschen vor mir sitzen sah, machte er nicht unbedingt den Anschein, als würde er eine solche Aktion zulassen. Sowieso beeinflussten sich die beiden in eine sehr seltsame Richtung. Am Anfang dachte ich, dass sie sich die Köpfe abreißen würden. Und jetzt? Saßen beide unglaublich schüchtern voreinander und keiner wusste wirklich mit der Situation umzugehen. Wie im Kindergarten.
»Jiro?«, fragte ich letztendlich in die Stille rein, in der mein Kumpel nachdenklich aus dem Fenster gestarrt hatte. »Klartext für mich: Seid ihr denn jetzt endlich zusammen? Bitte sag Ja.«
Die Wangen meines Gesprächspartners wechselten schneller ihre Farbe als ein Stimmungsring es je tun könnte, was mich breit grinsen ließ. Während er seine Augen nicht von der Schneelandschaft nehmen konnte, ein zaghaftes Lächeln folgte und er sanft seufzte, hörte ich das erlösende Wort:
»Ja.«
Kiyoshis eigentlich miese Laune hob sich schlagartig an, als wir uns 23 Uhr näherten. Er zog sich gefühlte drei Mal um, obwohl jedes Outfit gleich schwarz war. Doch die Vorfreude auf einen wieder feuchtfröhlichen Abend ließ den sonst traurig dreinschauenden Jungen aufleuchten. Der wurde 'ne richtige Partymaus, wie mir schien.
Jiro überraschte mich mit normalen schwarzen Lederschuhen, die er sich anscheinend neu gekauft hatte. Als ich ihn darauf ansprach, antwortete er nicht und wich meiner Frage aus. Wahrscheinlich hatte er sie extra für Alexander gekauft, da ich mir gut vorstellen konnte, wie sein Freund über die DocMartens hergezogen hatte. Sowieso erkannte ich ihn in einem Hemd und schwarzer Jeans kaum wieder. Das letzte Mal hatte ich ihn in solch förmlicher Kleidung gesehen, als sein Großvater vor vielen Jahren gestorben und er nach der Beerdigung zu mir gekommen war.
Mom und Dad hielten selbstverständlich Moralpredigen, dass das bitte kein Absturzabend werden würde, wir pünktlich um 2 Uhr zu Hause wären und das Handy stets dabeihätten, dass sie uns erreichen könnten. Eltern eben. In dem Punkt waren sie sich also auch nach vielen Jahren Trennung einig: die Kinder werden kurzgehalten.
Als wir nach einem wunderbaren Fußmarsch durch die Kälte endlich die Straßenbahn erreichten und wir uns Tickets kauften, seufzte Jiro nervös auf.
»Aufgeregt?«, fragte ich amüsiert, während ich Kiyoshi an der Hand hielt.
»Ein bisschen. Immerhin lerne ich jetzt mal eure Welt kennen…«
»Nein, Nein«, begann ich tadelnd und hob einen Finger. »Alexanders Welt. Nicht unsere. Kiyoshi und ich waren da selber noch nie.«
Jiros Augenbrauen hoben sich erschrocken. »Echt nicht?«
In dem Moment fuhr die relativ volle Straßenbahn ein, in die wir einstiegen. Interessant, dass die Jugendlichen auch in einem ausgestorbenen Kaff im Norden gerne mal einen Abend in der Stadt verbrachten. Und mit einer großzügigen Portion Nahrung, die Kiyoshi und ich vor unserem Aufbruch zu uns genommen hatten, war eine volle Straßenbahn auch kein wirkliches Problem.
»Bin gespannt, wie Alexander so drauf ist. Das letzte Mal hatte er uns vorgewarnt, dass er es nur betrunken mit uns im Crystals aushalten würde«, plauderte ich während der Fahrt aus dem Nähkästchen. Jiro schmunzelte amüsiert auf und nickte.
»Das kann ich mir gut vorstellen«, kicherte er und erwartete bereits einen zugedröhnten Freund.
Doch zu unserer Überraschung stand Alexander zwar rauchend, aber nüchtern und alleine an der Haltestelle und wartete auf uns. Wir begrüßten ihn herzlich, verzichteten aber auf die freundschaftliche Umarmung. Natürlich fand auch keine Umarmung zwischen Jiro und Alexander statt. Als wären Kiyoshi und ich die Eltern, in deren Anwesenheit es peinlich wäre, Zuneigung zuzugeben.
»Ist es noch weit von hier aus?«, fragte Kiyoshi und schob seine Hände in die Jackentaschen seines schwarzen Parkas. Das weiße Fell um seiner Kapuze wehte im leichten Wind der Altstadt. Als ich ihn gefragt hatte, ob die Jacke aus der Frauenabteilung war, erhielt ich einen finsteren, jedoch zustimmenden Blick.
»Ist direkt hinter dem Rathaus«, erklärte Alexander und deutete auf eine Menschentraube, welche sich lautstark am unterhalten war und anscheinend das selbe Ziel wie wir verfolgte.
Kaum näherten wir uns dem hell beleuchteten Club, sprachen mehrere Leute unseren Playboy an. Alexander verbrachte also die nächsten Minuten damit, alle möglichen Personen zu grüßen und sich zu unterhalten. Wir drei hielten währenddessen genügend Abstand, sodass Alexander uns auch ja nicht vorstellen musste.
»Der kennt ganz schön viele Leute«, seufzte Kiyoshi auf und wurde immer hibbeliger. Anscheinend wollte er endlich das Crystals von innen betrachten und losfeiern.
»Wie ein bunter Hund«, knurrte Jiro und stierte dabei einige Weiber an, die sich um Alexanders Aufmerksamkeit bemühten.
»Mach dir nichts draus«, begann ich, klopfte Jiro auf die Schulter und zwinkerte ihm zu. »Er gehört dir. Ich denke nicht, dass Alexander heute Frauen abschleppen wird. Höchstens dich.«
»Hero, stopp«, mahnte mich mein Kumpel vor weiteren Worten und schüttelte den Kopf. Auch Kiyoshi verdrehte abermals die Augen. Das ewig leidige Thema durfte also auch nicht beim Feiern angesprochen werden.
Als wir nach schier endlosen Minuten endlich den dummen Eingang erreichten, vor dem eine riesige Schlange auf den lang ersehnten Eintritt wartete, seufzten wir drei auf.
»Das wird ja ewig dauern, bis wir drin sind!« Jiro schob seine Hände in die Hosentasche und blickte sich um. Eine Menge gutaussehender Frauen mit mindestens genauso gutaussehenden Männern standen in Reih und Glied, um in den angesagten Schuppen reinzukommen. Einige unter ihnen waren Vampire, das spürte jeder von uns. Selbst Jiro.
»Natürlich nicht«, brummte Alexander, ging locker an der Schlange vorbei und sprach die Security an, die ihn sofort herzlich begrüßte.
»Boah, das ist echt fremdschämen, dass der hier jeden kennt«, murmelte ich in meinen Schal und bemerkte die vielen neidischen Blicke um uns herum.
»Vorteil für uns. Müssen wir nicht lange warten…«, murmelte Kiyoshi, der Alexander bei seiner Begrüßungsrunde genauestens beobachtete.
»Und wie es aussieht auch keinen Eintritt zahlen«, kicherte Jiro los, als Alexander uns reinwinkte.
Als wir endlich den warmen Club betraten, strömte uns sofort eine Mischung aus Alkohol und typischer Partyluft entgegen. Die laute Elektromusik hörte man ebenfalls bereits am Eingang dröhnen. Das würde ein lauter und anstrengender Abend für mich werden, so viel war klar.
Doch Alexander erleichterte uns einige Schritte zum Feiern. Erst das Reinkommen, dann die Garderobe. Wir waren die VIPS und durften das, was sonst keiner durfte: nämlich die Garderobe eigenmächtig betreten. Wir bekamen also keine Zettel oder irgendetwas anderes, sondern konnten aus freien Stücken zu den Damen hinter den Schalter springen, welche selbstverständlich mit Küsschen links, Küsschen rechts von Alexander begrüßt wurden.
»Dann gehen wir mal an die Bar, oder?«, schlug unser Sightseenführer vor, nachdem wir unsere dicken Jacken abgelegt hatten und gespannt im Vorraum des Clubs warteten.
»Kannst es wohl kaum abwarten, mal wieder was zu trinken, hm?«, bemerkte ich spitz mit einem Grinsen auf den Lippen. Zu meiner Verwunderung stimmte mir Alexander mit einem Lächeln zu.
»Oh ja!«
Der Club selber war wahnsinnig groß. Auf zwei Ebenen erstreckten sich Tanzflächen, Bars und Sitzgelegenheiten. Der DJ hatte seinen eigenen Bereich an der größten Tanzfläche mit vielen Lichtern und Boxen. Sowieso erstrahlte alles in Neonlicht und Schwarzlichtlampen. Knapp bekleidete Damen grüßten Alexander recht freundlich, ebenso stämmige Männer. Als wir an vielen Menschen vorbeigingen, entdeckte ich einen kleinen Pool, der in bunten Farben schimmerte.
»Hier gibt's nen Pool? Wie krass ist das?«, lachte Jiro, betrachtete die Wassermassen, in den man aller Wahrscheinlichkeit nach auch schwimmen konnte.
»Ja, aber da badet keiner drin«, fügte Alexander hinzu. »Es sei denn, es ist Schaumparty.«
»Ernsthaft? Schaumparty?«, hakte ich skeptisch nach und zog eine Augenbraue hoch. Irgendwie konnte ich mir Alexander ganz gut in diesem Pool vorstellen, wie er halbnackt mit einer Menge Weiber im Arm mit Schaum und anderen Dingen spielte.
Doch der Pool blieb erst einmal uninteressant, sodass wir an die volle Bar kamen. Natürlich mussten wir auch hier nicht lange auf Getränke warten. Der Barkeeper, selbstverständlich eine Frau, mixte uns sofort Cocktails mit einer Menge Alkohol und stellte sie uns auf die Theke. Seltsamerweise sah ich auch kein Geld fließen, weswegen ich das einfach mal nicht hinterfragte und an meinem stark alkoholischen Getränk schlürfte.
Zum ersten Mal standen wir gemeinsam in einem großen Club mit lauter Musik und waren uns nicht am Zoffen. Ganz im Gegenteil, Alexander legte sogar eine Hand um Jiros Hüfte, sodass die beiden wie ein Pärchen nebeneinanderstanden. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken, versuchte keinen giftigen Kommentar abzugeben und streichelte brav den Arm meines Bruders, der bereits zu Musik wippte.
Doch so eine Idylle hält ja in der Regel nicht lange an.
»Sieh an, sieh an, wer sich hier mal wieder blicken lässt«, kam die nervige Stimme von Rose auf einmal auf uns zu. Auch Sam ließ nicht lange auf sich warten und steuerte Alexander an, der Jiro zu meiner Verwunderung nicht losließ. Nein, es hatte sogar den Anschein, als würde er ihn näher an sich ran ziehen.
»Auch mal wieder hier? Wie kommt's?«, hakte Sam nach und schien bereits gut mit dem Trinken dabei zu sein.
»Ich bin mit den Zwillingen und meinem Freund hier«, erklärte Alexander recht laut, da die Musik ruhigere Gespräche irgendwie nicht zuließ.
Kiyoshi hob beide Augenbrauen und sah interessiert in die Richtung unserer beiden Freunde. Ja, richtig gehört, sein Freund. Jiro grinste stolz in die Runde, sagte aber nichts. Und genauso stolz grinste auch ich, da ich mir schon in irgendeiner Weise diesen Erfolg zuschrieb; auch wenn meine Hilfe ja "nie gefordert" war.
»Du? Mit den Kabashis? Und wem?«, hakte Rose nach, musterte schließlich den Mann in Alexanders Armen. Dass er ein Mensch und dazu noch ein Mann war, erschreckte die Schwestern enorm, sodass sie sich einen Schritt von Alexander entfernten.
»Jiro«, stellte Alexander seinen Freund vor und deutete auf den Menschen in seinem Arm. »Das sind Rose und Sam. Freunde von mir.«
Mein Kumpel nickte nur, wollte den Damen schon die Hand reichen, doch die lächelten ihn nur abwertend an. Die Piercings in Jiros Gesicht wirkten vermutlich wie ein Abschreckungsmittel. Schnell ließ mein Kumpel die Hand wieder sinken, schien aber herzlich wenig auf die abwertende Haltung der beiden Damen zu geben. Einen solchen Umgang war er bereits gewohnt, denn auch im Süden gab es genügend Leute, die sein Auftreten zwar tolerierten, aber nicht guthießen.
Nach einigen Worten, die Alexander mit den Damen wechselte, verschwanden sie schließlich, sodass Kiyoshi und ich uns wieder dem Pärchen näherten.
»Ist es also offiziell?«, schrie ich Alexander an, als hätte ich das nicht schon längst von Jiro erfahren, und bekam einen fragenden Blick zurückgeworfen.
»Was ist offiziell?«, hakte er scheinheilig in lauter Stimme nach und trank seinen Cocktail aus.
»Dass du meinen Kumpel datest!«
Doch auf diese Frage bekam ich nur ein genervtes Schnauben. Ich nahm das mal als ein Ja.
Jiro und Kiyoshi beeilten sich ebenfalls mit ihren Getränken, sodass ich etwas auf der Strecke blieb. Eigentlich war mir nicht nach besaufen, da der Alkohol widerlich nach Erde schmeckte. Aber wie das eben so mit dem Gruppenzwang war, zog ich mit und trank mein Getränk auf Ex.
So dauerte es auch nicht lange, bis ich die ersten Wirkungen des Alkohols spürte und mich mit weiteren zwei Schnäpsen intus mit meinem Bruder auf die Tanzfläche bewegte. Erst zögerlich, dann etwas enthusiastischer bewegten wir uns zur ohrenbetäubenden Musik.
Kiyoshi tanzte ausgesprochen ausgelassen, umschlang meine Taille, grinste mich an und schien die ganze Atmosphäre sehr zu genießen.
Sowieso war die Stimmung extrem gut, sodass auch weiterhin eine Menge Alkohol zwischen uns floss. Die Menschen tanzten und lachten, begrapschten sich, wo es nur ging, und schienen sich ganz der Musik hinzugeben. Gefiel mir trotzdem alles nicht so; ich war einfach nicht der Partymensch. Partyvampir. Was auch immer.
Irgendwann deutete Jiro mir mit zwei Fingern an, dass er gerne eine rauchen gehen würde. Alexander wurde wieder einmal von mehreren Leuten beschlagnahmt, sodass Jiro mehr oder weniger oft alleine mit uns rumstand. Doch es schien ihm wenig auszumachen, dass sein Freund den Leuten um uns herum mehr Aufmerksamkeit schenkte als nötig.
So bewegten wir uns durch die Menschenmassen auf eine Art Terrasse. Sie war überdacht, schön beleuchtet und mit einer Menge Raucher übersäht. Es dauerte natürlich nicht lange, bis Alexander wieder zu uns stieß. Der hatte einen eingebauten Sensor, wenn wir rauchen gehen wollten, damit er auch ja mitrauchen konnte. Keine Gelegenheit auslassen.
Doch bevor sich irgendjemand von uns eine Zigarette anstecken konnte, kramte Alexander in seiner Hosentasche.
»Lasst mal, ich habe was«, begann er zugegeben sehr erheitert zu brabbeln und zog einen Joint raus.
»Führst du so was immer mit dir rum? Für alle Fälle?«, kicherte ich los und schüttelte den Kopf. Nicht, dass ich gegen Drogen wäre. Aber Alexander überraschte mich dahingehend absolut nicht. Jiro zuckte nur mit den Schultern, steckte seine Zigarettenpackung wieder weg und gesellte sich zu seinem Freund, der ihn liebevoll in die Arme schloss, als wäre er nie fort gewesen. Etwas unkoordiniert steckte sich Alexander den dick gedrehten Joint an und zog einmal kräftig bis er weißen Rauch auspustete.
»Die Leute hier stecken mir das immer zu«, erklärte er, reichte seinem Freund das bisschen Heiterkeit und genoss den Fluss der Droge. So wie er wankte, nahm ich an, dass er weitaus mehr Alkohol intus hatte, als wir alle drei zusammen. Er wirkte auf mich sonst immer sehr trinkfest. Aber wenn man so viele Leute begrüßte und sich mit ihnen unterhielt, floss auch sicher mal die ein oder andere Runde mit.
Jiro zog ebenfalls genüsslich am Joint, schloss sogar kurz die Augen und grinste vor sich hin. Sein Verhalten erinnerte mich an alte Zeiten, wo ich mit Jiro auf irgendeiner Hausparty saß und wir uns zugedröhnt haben. Mit einem Schlag vermisste ich diese Momente, wurde jedoch in die Realität zurückgerufen, als mir das Stück brennende Zigarette gereicht wurde.
Jiro war hier. Alte Zeiten hin oder her, es hatte sich nichts geändert.
Also zog ich ebenfalls am Joint, spürte sofort das beschwipste Gefühl hochkommen und hustete den Rauch aus.
»Ganz schön stark, man«, grinste ich auf. »Will ich wissen, was da noch so drin ist?«
»Nur Hasch«, beruhigte mich Alexander, der seine Griffel zu meiner Überraschung bereits auf Jiros Hintern hatte. »Engelsstaub oder Heroin kommt mir da nicht rein.«
»Gut zu wissen«, kicherte ich weiter und bemerkte sofort die großen Augen von meinem Bruder.
Auch Alexander hob beide Augenbrauen, als er meinen schmächtigen Bruder an der Zigarette sah.
»Weißt du, was das ist?«, fragte er amüsiert über die Tatsache, dass mein Bruder noch nie Drogen zu sich genommen hatte und die Zigarette wie einen heiligen Gral zwischen den Fingern hielt.
»Natürlich weiß ich, was das ist«, giftete Kiyoshi zurück, führte den Joint an seinen Mund und zog.
Oh Gott, dachte ich abermals, wenn Dad oder Mom uns sehen würden, wären wir so was von tot. Oder ich. Immerhin verführte ich meinen braven Bruder zu Drogen.
Sofort kam in mir das Gefühl von einem Beschützer hoch. Ich sollte meinen Bruder, der seine Grenzen absolut nicht einschätzen konnte, nicht mit Drogen in Verbindung bringen. Sowieso sollte er seine Hände lieber an mir als an irgendwelchen Zigaretten oder Alkohol legen.
Denn Kiyoshi kicherte nach dem tiefen Zug sofort auf, hustete ebenfalls, als der Rauch seine Lunge verließ, und gab das Stück Hasch an Alexander zurück. »Das ist voll cool!«
Nein, Kiyoshi, das ist nicht cool. Das ist böse.
Aber ich hatte keine Chance. Die Stimmung im Club wurde so gut, dass sie sogar einzelne kleine Feuerwerkskörper zum Jubeln der Gäste zündeten. Die Musik wurde aggressiver, die Leute betrunkener und wir ziemlich high.
Ehrlich gesagt verschwamm der Abend ab diesem Zeitpunkt etwas. Ich sah alles nur noch wie in Watte gepackt, erinnerte mich an einzelne Gespräche mit Alexander, wie er mir erzählte, dass er Jiro unglaublich geil fand und ihn das nervös machte.
Kiyoshi steckte mir hier und da seine Zunge in den Rachen, tanzte völlig unkoordiniert zur Musik und schien nicht mehr Herr über seinen Körper zu sein. Auch überraschte er mich mit einem recht extrovertierten Verhalten, da er immer mal wieder Leute ansprach und sich mit ihnen unterhielt. Viele davon kannte ich nicht – Kiyoshi wahrscheinlich auch nicht. Aber mit der Lust zur guten Laune hatte er keinerlei Hemmungen nett aussehende Menschen oder Vampire anzusprechen.
Als ich dann auch noch mit Jiro wieder auf der Terrasse stand, wir eine normale Zigarette rauchten und er grinsend neben mir stand, spürte ich meine Finger vom Alkohol und den Drogen kribbeln. Doch das tat meiner Stimmung keinen Abriss; ganz im Gegenteil: ich hatte sogar recht viel Spaß.
»Hero«, begann Jiro völlig zugedröhnt und am lallen, »du bis der beste Freund den isch hab!«
»Ja, ich hab dich auch gern«, lachte ich und fühlte mich auf einmal doch nicht mehr so betrunken, wie Jiro auf mich wirkte. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung.
»Weissu«, erzählte mein Kumpel weiter, sah Kiyoshi und Alexander weiter weg auf der Terrasse rauchen und sich mit anderen Leuten aus der Schule unterhalten, »damals, als wir rumgeknutscht habn…«
Fragte mich sofort, welchen Zeitpunkt er genau meinte, da Rumknutschen mit Jiro leider schon öfter als einmal vorgekommen war.
»… hab isch kurz überlegt, ob isch misch in disch verliebt hab. Aber isch glaub so is besser, oda? Isch mein, wir sind dicke und so… aba könntest du dir Sex mit mir vorstelln?«
Ich prustete sofort vor Lachen Rauch aus meiner Lunge, hielt mir den Bauch und kriegte mich fast gar nicht mehr ein. Bei diesem überschwänglichen Geständnis spielte definitiv das Gras eine bedeutend große Rolle.
»Ehrliche Antwort?«, fragte ich Jiro und schlang einen Arm um seine Schultern, zog ihn dabei nah an mich ran.
Mein Kumpel nickte energisch.
»Hab ich auch schon dran gedacht. Nur, um es mal auszuprobieren«, gab ich zu und zwinkerte. Jiro kicherte glücklich auf, gluckste ein wenig und schüttelte den Kopf.
»Wieso habn wir dann nie?«
»Alter, weil du deinen Hintern nicht hochkriegst! Du schaffst es ja nicht mal mit Alexander zu vögeln! Und der ist jetzt dein fester Freund!«
Jiro wurde schlagartig ruhiger, biss sich auf die Lippe und sah zu Boden. Die Zigarette war bereits aufgeraucht und verglimmte noch in seinen Händen. Torkelnd löste er sich von mir und sah sehnsüchtig zu seinem Freund, der schon wieder ein Glas Alkohol in der Hand hatte. Auch Kiyoshi war schon wieder am Bechern, was mich etwas nervös werden ließ.
»Ischweiß…«, war alles, was ich noch aus Jiros Mund verstand. Im nächsten Moment sah ich ihn auf Alexander zutortkeln, wie er ihn mit beiden Händen am Gesicht packte und ihn dadurch aus dem angeregten Gespräch mit den Mitschülern riss. Im Nu zog er ihn zu sich runter und küsste ihn leidenschaftlich auf die Lippen. Kiyoshi kicherte belustigt auf, hielt sich die Hand vor den Mund und beobachtete die beiden Männer, wie sie sich einem leidenschaftlichen Zungekuss hingaben. Die Leute, mit denen sich Alexander noch unterhalten hatte, fingen an zu kreischen und zu jubeln. Wahrscheinlich war das Bild, wie der sonst so hetero wirkende Alexander einen Mann küsste, einen Applaus wert.
Auch über Jiro war ich ein wenig überrascht. Aber die übertriebene Handlung schrieb ich abermals dem Alkohol und dem Gras zu. Wahrscheinlich wollte er mir und sich selber beweisen, dass er sehr wohl den Arsch hochkriegen würde.
Tatsächlich knutschten und fummelten die beiden wie die Weltmeister, als wir wieder auf der Tanzfläche waren.
So genau konnte ich das gar nicht mitbekommen, da Kiyoshi ebenfalls seine Finger an mir legte. Er seufzte mir sogar in die Ohren, dass er jetzt gerne mit mir schlafen würde, doch ich hielt mich zurück. Sex auf dem Klo in einem komischen Club war nicht mein Gebiet – das war Alexanders Part. Und tatsächlich vermisste ich Jiro und Alexander für einen Moment, als ich mich umblickte.
Doch wie sich herausstellte, badeten die ausgelassen im hauseigenen Pool. Alexanders Hemd war aufgerissen, sämtliche Knöpfe lagen wahrscheinlich auf dem Boden. Jiro stand mit ihm und noch weiteren Menschen im Pool, während sie sich alle Wasser zuspritzten.
Kiyoshi wollte selbstverständlich auch baden gehen, zog mich samt Klamotten und Schuhen in das warme Wasser und lachte beherzt auf, als ich wie ein begossener Pudel inmitten betrunkener Menschen stand und mich offensichtlich nicht sehr wohl fühlte. Doch so missmutig, wie ich wirkte, war ich gar nicht. Es machte Spaß, mit meinen Freunden in einem ekligen Pool zu stehen und sich grauenvolle Wasserschlachten zu geben. Natürlich versuchten immer wieder ein paar Frauen sich an Alexander ranzumachen, wurden jedoch gewissenhaft zurückgewiesen.
Jiro blieb der Mittelpunkt des Geschehens. Nur ihm schob Alexander seine Zunge in den Mund. Nur ihm griff er zwischen die Beine. Und ich war stolz auf unseren sonst so mürrischen Freund. Diese Prüfung hatte er also bestanden.
Im Verlaufe des Abends, oder eher Nacht, versuchte mich Mom anzurufen. Ich rannte auf die Terrasse, telefonierte mit ihr, obwohl ich gar nichts verstand, gab ihr aber zu verstehen, dass es wohl etwas später beziehungsweise früher werden würde und man nicht auf uns warten müsste. Anzunehmen, dass ihr das gar nicht passte, aber was sollte ich denn tun? Kiyoshi schnappen und gehen? Wo er doch wie der glücklichste Junge der Welt in einem Pool badete und mit Alexander und Jiro rumalberte?
Also ließ ich mein Handy wieder in die nasse Hose gleiten und gesellte mich zu meinen Freunden, die noch ein wenig plantschten und mich Gott sei Dank nicht mehr dazu überredeten in diesen abscheulichen Pool zu steigen.
»Hiro«, kam Alexander irgendwann nach der Poolparty auf mich zu und legte einen Arm um meine Schulter. Kiyoshi und Jiro waren sich rege über Sex am unterhalten, sodass wir einen kurzen Moment für uns hatten; nachdem wir alle langsam vom Poolwasser trockneten.
»Ich bin dir sehr dankbar.«
»Freut mich. Und bitteschön«, lallte ich lautstark gegen Alexanders Ohr, da die Musik immer noch dröhnend gegen unsere Gemüter krachte. Auch die kreischenden Frauen um uns herum machten ein Gespräch nicht gerade leichter und hoben den Geräuschpegel um weitere zehn Einheiten.
»Ich war schon so oft hier«, erzählte Alexander weiter, sah sinnierend zu unseren Freunden, »aber heute habe ich echten Spaß.«
»Lüg doch nicht, du hast immer Spaß hier!«
»Nein…« Und da löste er sich von mir, lächelte mich glücklich an und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Heute bin ich das erste Mal mit Freunden hier. Und das macht weitaus mehr Spaß.«
Damit ging er.
Und ich fühlte mich für einen Moment wie überfahren. Alexander war glücklich. Wegen uns. Und das war ein echt tolles Gefühl.
Ich wusste nicht wie spät es war und wieso wir auf dem Heimweg waren, fand mich aber im nächsten Moment meiner klaren Augenblicke in Alexanders Wohnzimmer wieder. Kiyoshi saß grinsend auf dem kleinen Sofa, Jiro auf Alexanders Bett. Schon wieder tranken wir Alkohol und zogen uns irgendwas rein, bis Alexander mit einem Tütchen voll weißem Pulver aus einem der Zimmer kam.
»Oh no«, begann ich und schüttelte den Kopf. »Keine harten Drogen, man!«
»Chill, das ist doch nicht schlimm«, besänftigte mich Alexander und verteilte routiniert einige Linien auf seinem Glastisch, um den wir alle wie Hühner saßen.
»Ich wollte das schon immer mal machen«, grinste Kiyoshi und sah fasziniert auf das Kokain.
»Du hältst deine Nase gefälligst woanders hin«, schnauzte ich ihn an, packte seine Schulter und zog ihn auf meinen Schoß. Er lachte, wehrte sich und biss mir schließlich in den Arm, der sofort anfing zu bluten.
»Au! Bist du kaputt?«, begann ich, natürlich auch lachend, obwohl das überhaupt nicht witzig war. Mein Bruder leckte die kleinen Blutstropfen treuherzig ab und grinste mich versaut an. Die Wunde heilte natürlich innerhalb einer Minute ab, das unangenehme Gefühl einfach so von Kiyoshis gebissen worden zu sein blieb.
»Lass ihn doch«, summte Alexander und rollte einen Geldschein ein.
Klassisch.
»Nein?!«, gab ich als Antwort, sah dann zu Jiro, der nur erwartungsvoll an Alexanders Schulter hing und das Koks verliebt ansah.
»Mich rügst du wegen Leinen und hängst deinen Partner selber an eine!«, gab unser Gastgeber einen guten Einwand, beugte sich vor und zog eine Line in seine Nase, als hätte er in seinem Leben bisher noch nichts anderes getan. Zack, war das Kokain in Alexander, der sich ruckzuck mit geschlossenen Augen zurücklehnte und ausgesprochen entspannt seufzte.
Der Geldschein wurde Jiro gereicht, der sich ebenfalls in Position brachte.
»Jiro, du weißt, wie so was endet, ja?«, fragte ich genervt. Doch mein Kumpel zuckte nur mit den Schultern und zog ebenfalls das weiße Pulver durch seine Nase. Auch er seufzte auf, lehnte sich zurück und landete kichernd auf Alexanders nackter Brust. Moment, wieso war er überhaupt halbnackt?
Der Geldschein lag verführerisch auf dem Glastisch, sodass mein Bruder ihn in die Hände bekam und ihn gewissenhaft noch einmal zurecht rollte. Das bekam er zugegeben nicht mehr wirklich gut hin.
»Bitte, tu's nicht«, flehte ich, legte eine Hand auf Kiyoshis Schoß und sah ihn durchdringend an.
Für einen Moment hielt mein Bruder inne, sah mich mit großen Augen an, die mehr bettelten, als Einsicht zeigten.
»Ich die Hälfte, du die Hälfte?«
»Die Hälfte von der Line?«
»Ja…«
Ich raunte laut auf, schnappte Kiyoshi den Geldschein weg und lehnte mich vor. Sollte ich das wirklich tun? Lieber hatte ich meinen Bruder auf diese Weise unter Kontrolle, in dem ich ihm die Hälfte wegschniefte, als gar nicht. Aber ich hatte noch nie harte Drogen genommen. Von Jiro wusste ich, dass er schon so manchen Trip hinter sich gebracht hatte. Alexander sowieso.
Trotzdem bekam ich ein bisschen Schiss. Denn besonders betrunken mit einer Menge Gras intus sollte man eigentlich nicht mit solchen Substanzen weitermachen. Doch als Alexander mich vom Bett aus anfeuerte, Jiros Hände bereits in seinem Schritt lagen, wollte ich es einfach hinter mich bringen.
Also schnupfte ich das Zeug. Und es brannte. Es bitzelte. Es machte mich taub. Und mir wurde furchtbar schwindelig. Doch ehe ich dachte, ich würde nie wieder aus dieser Trance erwachen, fühlte ich mich fit. Elektrisch aufgeladen, fast hibbelig. Kiyoshi zog ebenfalls das Pulver vom Tisch, sodass nur noch das leere Tütchen vor uns lag.
Da saßen also vier Männer und hatten sich mit Drogen und einer Menge Alkohol zugedröhnt.
Was dann geschah, wusste ich nicht. Nur noch, wie ich Kiyoshi über die Schulter warf, ins Gästezimmer humpelte und ihn auf das dort liegende Bett schmiss. Heiße Küsse folgten. Und wahrscheinlich heißer Sex. Aber so genau wusste ich das nicht mehr…
Nachdem die Zwillinge im Gästezimmer verschwunden waren und Alexander nach dem ersten Schub des Kokains wieder einen recht klaren Gedanken fassen konnte, sah er den Punk auf ihm liegen. Er lachte, hatte Spaß und sah ausgelassen durch das Zimmer. Sein Lachen bezauberten den Vampir dermaßen, dass er immer wieder seine Lippen küsste.
»Jiro«, flüsterte er seinen Namen und begann durch die noch feuchten Haare zu streicheln. Der Mensch schlang die Arme um den Nacken von Alexander, kraulte und streichelte ihn liebevoll, zog ihn gänzlich in seinen Bann.
»Jiro«, hauchte er erneut den Namen seiner Liebschaft, drückte ihn in die Kissen seines Bettes und schnurrte gegen seinen Hals. Er roch unwiderstehlich gut, sodass Alexander es sich nicht nehmen konnte, immer und immer wieder über seine Adern zu lecken.
Doch er wollte ihn nicht beißen, so viel konnte Alexander noch denken. Zu mehr Gedankengut war er jedoch nicht im Stande. Die Drogen, der Alkohol und der Punk selber machten ihn verrückt. Wuschig und erregt türmte er sich über den Menschen auf, fuhr mit den Händen über seine Brust und spürte unter dem Hemd Piercings herausstechen.
»Du hast Nippelpiercings?«, fragte Alexander belustigt, knöpfte Jiros Hemd unkoordiniert auf und entblößte helle Haut. Jiro kicherte sogleich auf, hielt sich die Hände vor das errötete Gesicht und nickte.
»Was dachtest du denn?«, war alles, was er noch aus den Lippen pressen konnte, bevor er wieder vom Vampir geküsst wurde. Der stämmige und kalte Körper rieb gegen die weiche Haut von Jiro, sodass er angestrengt und aufgewühlt ausatmete.
Es erregte ihn, von Alexander berührt zu werden. Nach diesem Abend, wo er so offensichtlich sein Partner gewesen war und so oft in einen Kuss verwickelt wurde, wollte er mehr. Er war sich nun sicher, dass es egal war, wer oben und wer unten war. Hauptsache er würde endlich mal mit Alexander schlafen und in den Genuss der erfahrenen Hände kommen.
Ohne weitere Worte zu verlieren, ließ sich Jiro das Hemd ausziehen und wieder in die Kissen drücken. Er kicherte immer wieder auf, konnte den Ernst der Situation noch nicht ganz fassen.
Erst, als Alexander an seinem Körper runterrutschte und seine Lippen über die empfindliche Stelle von Jiro rutschten, stöhnte er auf, verlor das Lächeln im Gesicht und sah erregt an sich runter. Der Vampir grinste ihn vielsagend an, öffnete Jiros Jeans und zog sie mit einem Ruck runter.
»Und? Willst du mir jetzt sagen, wo du noch so gepierct bist?«, fragte er scheinheilig, als er die enge Röhrenjeans von Jiros spärlich behaarten Beinen zog. Der Mensch ließ alles anstandslos mit sich machen, spürte nur den Alkohol und die Drogen in sich wirken, und grinste verschmitzt auf.
»Finde es doch heraus«, ermutigte Jiro seinen Partner ihm auch die Boxershorts auszuziehen. Dessen leistete Alexander schnell Folge, hob Jiros Hüften an, zog an der Unterwäsche und entriss sie fast gewaltsam von den Beinen, um sie auf den Boden zu schmeißen.
Ein erregtes Glied kam zum Vorschein und zeigte deutlich ein Prinz Albert Piercing.
»Du bist so verrückt…«, murmelte Alexander und schüttelte den Kopf. »Bist du Masochist?«
»Vielleicht?«, stellte Jiro eine belustigte Gegenfrage, hielt sich die Hände abermals vor das Gesicht, da er sich schämte, einfach so nackt vor seinem Partner zu liegen. Doch die Drogen halfen ihm abzuschalten und sich gehen zu lassen; Mut für eine Sache zu finden, die er nüchtern niemals durchgezogen hätte.
»Wirklich? …«, murmelte Alexander, beugte sich vor und leckte ohne Hemmungen über den Schaft von Jiros Männlichkeit. »Trifft sich gut…«, waren die letzten Worte, die er aus seinen schmalen Lippen presste, bevor er Jiros Schwanz komplett in den Mund nahm. Alexander verspürte keine Scham mehr. Er würde alles, was Jiro gehörte, in den Mund nehmen. Alles, einfach alles, würde er fressen…
Der Mensch stöhnte laut auf, legte den Kopf in den Nacken und griff in Alexanders dichtes Haar. Dass er einen Blowjob erhalten würde und keinen geben müsste, verwunderte und erleichterte Jiro zugleich. Alexanders Mund war überraschenderweise ausgesprochen warm und angenehm, sodass sich der Mensch der zärtlichen Berührung hingab. Große Hände tasteten seine flache Brust ab und spielten schließlich mit den Brustwarzenpiercings. Das ließ Jiro abermals aufstöhnen, fast so laut, dass er sich schnell die Hände vor den Mund legte. Die Zwillinge waren doch noch hier, oder?
Alexander beglückte noch einige Minuten lang seinen Partner, bis er sich von ihm löste, hochrückte und genussvoll in eine Brustwarze biss. Jiro schrie vor Schmerzen auf, zuckte zusammen und griff instinktiv nach Alexanders Kopf, um ihn wegzureißen. Doch der Vampir blieb den wehrenden Bewegungen standhaft, drückte den Menschen noch weiter in die Kissen und wurde handgreiflicher. Er leckte sich die Lippen, griff nach Jiros Handgelenken und presste sie gegen das Kopfteil des Bettes. Ein harscher Kuss folgte, bei dem die Lust die Zärtlichkeit übermannte.
Jiro stöhnte zwar noch lusterfüllt auf, verzog jedoch zu jedem von Alexanders harschen Küssen schmerzverzerrt das Gesicht. Nach einigen Knutschflecken und anderen blauen Flecken, die sich langsam auf Jiros glatter Haut bildeten, erhob sich Alexander, zog sich seine eigene Jeans aus, ließ Jiro damit für einen Moment verschnaufen ehe er sich wieder zu ihm kniete und ihn gewaltsam ins Bett drückte. Er fasst nach Jiros Nacken, riss ihn an den Haaren hoch und zwang ihn sein prall erregtes Glied in den Mund zu nehmen. Verzweifeltes Stöhnen und Röcheln entfuhr dem Menschen, während er dem Reiz, sich zu übergeben, widerstand. Immer wieder rammte der Vampir seinen Schwanz in die Mundhöhle des Punks und seufzte dabei entspannt aus. Das Zungenpiercing fühlte sich unglaublich gut an, auch wenn Jiro wenig zum Blowjob beitrug, da Alexander so gut wie alles alleine regelte. Doch es war endlich so, wie der Vampir es immer haben wollte: Jiro für seine Zwecke missbrauchen. Ihm ruppig seinen Schwanz in den Rachen schieben. Ihn zu brechen. Dass Jiros Nägel sich schmerzhaft in Alexanders Beine drückten, ignorierte der Vampir gekonnt.
Erst nach Minuten erlöste er den Menschen von der unbequemen Position und ließ ihn Luft holen, doch nicht für lange. Alexander umschloss Jiros Hals mit einer Hand und drückte feste zu. Der Kopf des Menschen wurde knallrot, sogar einzelne Tränen liefen über seine Wangen, die Alexander gierig aufleckte. Wie ein Tier stürzte er sich auf den Menschen, presste seine Beine auseinander, hievte sie auf seine breiten Schultern und brachte sich in Position. Nur spärlich leckte Alexander seine Finger ab, führte sie zu Jiros Eingang und befeuchtete ihn, so gut es mit den rauen Griffen ging. Sein Partner keuchte immer wieder angestrengt aus, was sich jedoch in Alexanders Ohren wie Musik anhörte. In der Lust verloren nutzte er Jiros Speichel an seinem Glied als Gleitmittel aus, führte die Eichel zum Schlitz und drang mit einem kräftigen Stoß in die Enge Öffnung ein, ohne an ein Kondom zu denken.
Jiro schrie mit zusammengekniffenen Augen heiser auf, hielt sich krampfhaft an Alexanders Unterarm fest, welcher angestrengt auf seinem Hals lag. Alexander stöhnte erfreut auf, als er die warme Enge um seine Männlichkeit spürte, und begann sich genüsslich in Jiro zu bewegen. Sofort roch er Blut.
Wahrscheinlich war Jiro ein klein wenig bei dem ruppigen Vorgehen gerissen, sodass sich Sekret und Blut im Akt der Liebe vermischten.
Es ließ seine Fangzähne größer werden. Der Drang, zu trinken stieg fast bis ins Unermessliche, sodass Alexander sich nach vorne lehnte und mehrmals über Jiros Hals leckte. Der bekam nicht mehr viel mit, schrie und keuchte zugleich. Erst, als Alexander seine Zähne genüsslich in die weiche Haut presste und gierig das Blut schluckte, welches aus den Löchern hervorquoll, gluckste Jiro auf und griff panisch um sich. Er kratzte Alexander an den Schultern, griff so tief in seine Muskeln, dass sich die Haut ebenfalls rot färbte. Er hörte Alexander unaufhörlich trinken und erinnerte sich schlagartig an den Strand. Wie grausam es für ihn gewesen war, unter dem schweren Körper zu liegen und sich nicht wehren zu können. Und als wäre der Sand unter Jiros stechendem Körper nur durch ein Bett ausgetauscht worden, weinte er tausende Tränen. Der Schmerz, der durch den Hals des Menschen fuhr, lähmte ihn und machte ihn gefügig – obwohl ihm zum Schreien war.
Der Griff um Jiros freien Teil des Halses blieb eisern, während sich Alexander stöhnend in einem schnellen Rhythmus bewegte. Der Mensch ächzte bei jedem Stoß laut auf, vernahm nur die groben Bewegungen in ihm und sah verschwommene Einzelheiten von Haaren vor sich. Alles drehte sich, sodass er nur noch Schmerzen und Lust wahrnahm. Denn seine eigene Erregung ebbte während des grausamen Spiels nicht ab, blieb bestehen und rieb an Alexanders Bauch. Der Vampir küsste und leckte immer wieder über Jiros blutbefleckten Hals; arbeitete sich dann zu den Piercings, biss und riss an ihnen, sodass der Punk in dieser Folter Panik bekam, sie würden aufreißen. Der Akt vollzog sich brutal, gewaltsam und nicht minder unkoordiniert. Trotzdem kam kein Wort der Abneigung über Jiros Lippen, als wolle er dem ganzen die Stirn bieten, um Alexander zu zeigen, dass er aus festem Holz geschnitzt war und sich seinen Berührungen hingeben konnte, ohne mit der Wimper zu zucken.
Leidenschaftliche Küsse folgten, in denen Alexander und Jiro Speichel und Blut austauschten, welche lustvoll an ihren Mündern entlangliefen und schließlich auf das Kissen tropften. Das Klatschen der Haut und das Stöhnen von Jiro versetzte den Vampir in einen Rausch, der sich immer mehr seinem Höhepunkt näherte. Der Mensch fing an, seine Nägel in Alexanders Schultern zu drücken, ihm ebenfalls Schmerzen zuzufügen, um ihn so deutlich zu machen, dass er nicht ungeschoren davonkommen sollte. Doch waren die Schmerzen, die der Vampir in seiner Schulter spürte, nichts im Vergleich zu Jiros Qualen. Der begann zu schwitzen, rang jämmerlich nach Luft und spürte die harten Stöße in seinem tauben Umfeld nur noch ansatzweise penetrieren.
Und so ewig, wie sich der schmerzvolle Akt anfühlte, so schnell und plötzlich kam Jiro seinem Höhepunkt näher. Er stöhnte laut auf, sah Sternchen, spürte es schließlich schwarz um die Augen werden und ergoss sich zuckend zwischen Alexanders und seinem Bauch. Die warme Flüssigkeit floss sofort an seinem Körper runter und machte den Zwischenraum der beiden Männer glitschig.
Alexander nahm die Hand von Jiros Hals, an dem sich bereits tiefrote Striemen um die versenkte Bisswunde gebildet hatten, um sich am Bettgestellt festzuhalten und in den letzten Zügen noch einmal Fahrt aufnehmen zu können. Mit schnellen und ruppigen Stößen bewegte er sich im gereizten Hinterteil des Menschen. Letztendlich schloss er seine Augen, zog sich aus Jiro zurück und spritzte großzügig auf den eh schon feuchten Bauch ab.
Auch ihm wurde schwindelig. Und spürte er da Schweiß? Nein, das war sicherlich Jiros. Er konnte nicht schwitzen. Aber Alexander fühlte sich so ausgelaugt, als wäre er einen Marathon gelaufen. Erschöpft ließ er sich auf den heißen und nassen Körper unter ihm fallen, der ihn nicht gerade mit offenen Armen empfing. Zittrig und mit Wunden am ganzen Körper tastete Jiro den schweren Körper ab.
Die angeregte Stimmung erreichte schlagartig ihren Tiefpunkt. Jiro atmete flacher, spürte nichts mehr von seinem Körper. Salzige Tränen lagen auf seinen Wangen und vermischten sich mit Speichel und Schweiß.
Beide Männer sagten kein Wort, schlossen einfach nur ihre Augen und schliefen tief und fest aufeinander ein. Erschöpft vom Tanzen, vom Trinken und vom Sex.
Als der Tag bereits angebrochen war und einzelne Lichtstrahlen in das Schlafzimmer stachen, wurde Alexander wach. Er blickte sich um und fühlte sich schwer. Was war nur geschehen?
Doch ehe er sich weiter fragen konnte, was genau noch einmal letzte Nacht passiert war, sah er neben sich die Antwort. Ein schmaler Körper lag nackt und mit Blut auf der Haut und dem Kissen neben ihm, atmete flach und schien noch am schlafen zu sein. Mit einem Schlag kamen die Erinnerungen zurück.
Wie sie alle ausgiebig feiern waren. Wie Alexander seine Gäste zum Koksen überredet hatte. Wie er seinen Partner verführt und brutal durchgenommen hatte. Ihn gebissen, geschändet und… vergewaltigt hatte.
Langsam und bedacht darauf sein unschuldiges Opfer nicht zu wecken, setzte sich der Vampir auf und biss sich auf die Lippe. Verzweifelt legte er das Gesicht in seine Hände.
Das konnte nicht wahr sein. Nein, so hätte es nicht enden dürfen! Er hatte sich so fest vorgenommen, dass er genau das nicht tun würde. Jiro gewaltsam in seinen Fängen halten, ihn zu verletzen und ihn wie ein Stück Fleisch zu behandeln. Doch im Rausche des Alkohols und der Drogen konnte der Mann keinen klaren Gedanken mehr fassen und hatte sich dämlicherweise seinen alten Maschen hingegeben. Er hatte sich und Jiro vergessen. Er wollte ihn einfach rannehmen, so wie er es immer in seinen Träumen getan hatte.
Und so sehr hoffte Alexander gleich aufzuwachen und zu merken, dass auch das wieder ein Traum gewesen war. Doch je länger er im stillen Raum neben seinem Partner lag und seinem flachen Atem zuhörte, umso klarer wurde ihm, dass das kein Traum, sondern bittere Realität gewesen war.
Dass sein Aussetzer real gewesen war und er genau den Menschen verletzt hatte, den er niemals verletzen wollte.
Alexander blickte noch einmal neben sich und beobachtete den schönen Männerkörper, wie er in den weichen, blutigen Kissen schlief. Die Wunde an Jiros Hals schien soweit geschlossen zu sein, da Kruste zu sehen war und kein weiteres Blut mehr auf das Laken tropfte. Trotzdem macht es die Situation kein Stück besser.
Der Vampir hatte sich immer gewünscht, dass er eines Morgens nach dem Sex mit Jiro aufwachen würde, um ihn liebevoll in den Arm nehmen zu können. Ihn aus dem Schlaf zu küssen, sodass sie sich lächelnd in die Augen sehen könnten, um sich einen guten Morgen zu wünschen.
Doch jetzt war er sich nicht einmal mehr sicher, ob Jiro ihm jemals wieder in die Augen sehen konnte. Alexander erinnerte sich an die schmerzverzerrten Schreie, die sein Partner heiser aus den Lippen gepresst hatte, während er ihm die Luft abgedrückt und das Blut ausgesaugt hatte.
Widerlich, schoss es durch Alexanders Kopf. Diese Angewohnheit von ihm war abgrundtief widerlich. Und nichts wirkte so, wie es in seinem Traum immer gewesen war. Da war keine Erotik im Spiel gewesen. Das war einfach pure Gewalt.
Sein Handeln glich einer Vergewaltigung. Das Wort ließ den Vampir erschaudern.
Vorsichtig erhob sich Alexander aus dem Bett, schlich nackig wie er war an den am Boden liegenden Klamotten vorbei und griff nach einer Zigarettenschachtel nahe dem Balkon, den er zügig öffnete. Es war verdammt kalt. Zudem hatte es wieder geschneit. Trotzdem stellte sich der Vampir barfuß in den Schnee und zündete sich eine Zigarette an. Ihn interessierte es nicht, ob ihn jemand nackt am Balkon stehen sehen würde oder ob seine Zehen in der nassen Kälte absterben würden. Ihn beschäftigte nur die gestrige Aktion, die ihn fast dazu veranlasste, sich von der Veranda zu stürzen. Doch würde das nichts bringen – er war ein Vampir. Er würde höchstens mit dem Gesicht im Schnee landen, mehr nicht.
Nervös rauchte er eine Zigarette, zündete sich direkt danach die Zweite an und starrte Gedankenverloren in die Ferne. Nein, so hätte es nie enden sollen. Es war doch ein so wunderschöner Abend gewesen. Wieso musste er ihn zerstören? Wieso musste er seine erste Beziehung mit einem so liebenswürdigen Mann mit einer solchen Dummheit zunichte machen?
Auf einmal schob sich die Balkontür auf.
»Alex«, flüsterte eine raue Stimme und kam auf den Vampir zu. Jiro stand mit einer Decke um die Schultern bewaffnet und mit seinen Schuhen locker um die Füße geschnürt im Schnee.
Sein Gesicht war rot und fleckig. Die untere Lippe hatte Risse. Wahrscheinlich hatte Alexander ihm die dünne Haut aufgebissen. Schwarze Augenringe zierten die matten, grünen Augen, die müde in Alexanders Richtung blickten und ihn genauso weiß und blass wie den Schnee um ihn herum aussehen ließen. Sowieso wirkte Jiro erschöpft, als hätte er sich am Vorabend mal so richtig mit jemandem Geprügelt. Und das Erste, was Alexander durch den Kopf schoss, war, dass er selber Prügel verdient hätte und nicht Jiro.
»Du stehst nackt im Schnee, das weißt du?«, fragte der Mensch in einer zaghaften Stimme, als Alexander kein Wort rausbrachte, und deutete auf die nackten Füße, mit denen Alexander auf dem Balkon stand.
Der Vampir nickte, sah dabei genierend zu Boden, als wäre es eine hinzunehmende Tatsache nackt auf dem Balkon zu rauchen.
Der Schnee gab knirschend unter Jiros Schritten nach, sodass Alexander wieder aufsah. Eine zittrige, blasse Hand griff nach seiner halb aufgerauchten Zigarette, führte sie zu den aufgeplatzten Lippen und verweilte dort für einen Moment. Jiro rauchte einen tiefen Zug, pustete den Rauch aus und sah dabei müde in die Schneelandschaft. Nach noch einem zweiten Zug reichte er die Zigarette wieder an Alexander zurück.
Ein kurzer Augenkontakt blieb.
Niemand sagte etwas. Jiro sah nicht böse aus. Nicht verkniffen. Einfach nur müde. Wahrscheinlich litt er nicht nur unter den Verletzungen, sondern auch unter einem Kater.
Alexander ließ die Zigarette in seinem Schnee benetzten Aschenbecher verglimmen. Er wollte den Augenkontakt nicht brechen, musterte dabei Jiros angeschlagenes Gesicht. Und je länger sich die beiden ansahen, umso trauriger wurde der Vampir. Einzelne Salzablagerungen von den vielen Tränen lagen noch um Jiros grüne Augen, die nicht mal halb so stark strahlten, wie sie es sonst taten.
Als er eine Hand ausstreckte, Jiros Wange berührte und vorsichtig über die glatte Haut streichelte, schob er verletzt die Augenbrauen zusammen. »Es tut mir so leid…«, flüsterte er in die Kälte, die die beiden Männer umgab.
Jiro erwiderte erst nichts, schloss einfach die Augen und rührte sich nicht. Erst nach wenigen Sekunden taten sich die menschlichen Augen wieder auf und sahen nachdenklich auf den Schnee. Eine grüblerische Stille folgte, in der der Vampir nervös wurde. Würde er seine Entschuldigung abschmettern? Alexander anschreien und ihm deutlich machen, dass er zu weit gegangen war?
Doch seufzte Jiro einfach nur laut, schlug die Decke auf und legte eine Hälfte um den kalten Körper von Alexander. Sofort vereinten sich die beiden nackten Leiber; heiß auf kalt. Jiro zitterte auf, da er gefühlt einen Eisblock umarmte, blieb jedoch standhaft und rieb ein wenig mit der molligen Decke über Alexanders Rücken, um ihn zu wärmen.
So blieben die beiden Männer für einen Moment stehen und schwiegen sich erneut an. Ignorierte der Mensch ihn also? War Nichtbeachten seine Strafe?
»Jiro«, murmelte der Vampir den Namen seines Partners, erwiderte die Umarmung sehr zaghaft. »Es tut mir leid. Ich mache es nie wieder. Bitte… verzeih mir…«, flehte er schon fast wie ein dummes Kind. Alexander wollte nicht allein gelassen werden – nicht, nachdem sie erst zueinander gefunden hatten. Für Jiro würde Alexander sogar auf die Knie gehen, um sich mit mehr Nachdruck zu entschuldigen.
Der Mensch seufzte laut auf, löste sich ein Stück aus der liebevollen Umarmung und schob die Augenbrauen zusammen. »Nie wieder? …«
»Nie wieder!«, wiederholte Alexander seine eigenen Worte und nickte eifrig.
»Bist du dir da sicher?«
Jiro klang skeptisch und sah Alexander durchdringend an. Die anfängliche Unsicherheit über sein Gemüt bestätigte sich, als er die Lippen aufeinanderpresste.
»…«
Alexander war sich nicht sicher, ob er nie wieder Gewalt beim Sex anwenden könnte. Vom Willen war keine Rede – selbstverständlich wollte er seinem Partner nie wieder wehtun – aber was war mit der Wirklichkeit? Alexander müsste sich von nun an von Alkohol und Drogen fernhalten, um immer mit klarem Verstand an die Sache rangehen zu können. Sich niemals zu sehr gehen lassen, um die Kontrolle zu wahren.
Ohne eine Antwort auf Jiros Frage zu geben, schluckte Alexander einen großen Kloß runter und räusperte sich leise.
»Kannst du mir verzeihen?«, fragte der Vampir so zögerlich wie noch nie, der unangenehmen Frage ausweichend. Die Angst vor dem Alleinsein vergiftete schlagartig seinen Körper und ließ ihn wie ein Hündchen vor Jiros Körper betteln.
Und je länger Jiro überlegte, nichts sagte und nichts machte, desto nervöser wurde Alexander.
»Ich weiß es nicht…«, flüsterte der Mensch schließlich und sah weiterhin traurig auf den Schnee. Er schüttelte sanft den Kopf, ließ dabei die große Decke weiter nach unten rutschen, sodass seine Schultern der Kälte des Winters ausgesetzt waren. »Ich dachte, als du mit der Meister-Sklaven-Nummer ankamst, dass du Rollenspiele magst. Aber wenn das deine Auffassung von solchen Spielen ist… kann ich da nicht mithalten. Ich bin kein Vampir, den du beißen kannst, wann immer du willst. Den du würgen, kratzen und schlagen kannst, ohne dass es ihn in irgendeiner Weise tangiert.«
Alexander wollte schon zum Wort greifen, sich verteidigen, eben das tun, was ihm in diesem Moment noch blieb, doch Jiro sah auf einmal wütend auf, sodass jeder Satz in Alexanders Hals stecken blieb.
»Ich hatte panische Angst, du würdest mich umbringen. Einfach so, mich aussaugen, mitten beim Sex.«
Die Augen des Vampirs öffneten sich um das Doppelte. »Das würde ich niemals tun!«
»Ach ja? Wusstest du gestern überhaupt, was du da getan hast? Hast du das also alles absichtlich gemacht? Warst du bei Sinnen, dass du sagen kannst, du hättest dich unter Kontrolle gehabt?«, fauchte Jiro los, löste sich letztendlich komplett von Alexander und schüttelte den Kopf. »Ich würde dir noch zu Gute halten, dass du unter Drogen standest – wie wir alle. Denn an sich war es ein wirklich schöner Abend…«, seufzte der Mensch los und knickste bei einem Schritt nach hinten für einige Zentimeter weg. »…aber das Ende war furchtbar. Und wenn du mir jetzt auch noch sagst, dass du das alles mit vollem Bewusstsein getan hast, weiß ich nicht, was in dich gefahren ist!«
»Nein«, begann Alexander kleinlaut und räusperte sich. »Ich war nicht wirklich bei Sinnen… Ich habe mich einfach vergessen und –«, wollte sich der Vampir weiter verteidigen, als die Tür zum Balkon ein weiteres Mal aufgeschoben wurde und die Aufmerksamkeit der beiden Männer erhaschte.
»Du!«, zischte Hiro, kam in voller Bekleidung auf den Balkon geschritten und zeigte mit dem Finger auf den nackten Mann. »Du hast ihn gebissen, ich rieche noch sein Blut! Und das blutverschmierte Bett spricht Bände! Wer gibt dir das Recht, einfach meinen Kumpel zu beißen?!«, schrie er, ging auf den schwarzhaarigen Vampir los und wollte ihn an den Armen packen, als Jiro dazwischen ging und seinen weißhaarigen Freund an der Brust abhielt. In der Decke gewickelt stand der Mensch zwischen zwei Fronten und versuchte sie zu besänftigen.
»Ganz ruhig, Hiro! Alles ist gut…«, murmelte Jiro und schüttelte den Kopf. »Wir klären das gerade.«
»Was gibt's da zu klären? Er hat eine offensichtliche Grenze überschritten und - … scheiße, wie siehst du denn aus?« Erschrocken fuhr Hiro mit seinen Fingerkuppen über das demolierte Gesicht seines Freundes und musterte die blasse Haut, die von unzähligen kleinen Wunden benetzt war. Ohne weitere Sekunden zu verlieren, realisierte der Weißhaarige, was geschehen war, ballte seine Fäuste, ging an Jiro vorbei und schlug Alexander mit all seiner Kraft ins Gesicht. In dem Moment kam Kiyoshi wie von der Tarantel gestochen auf den Balkon, griff nach seinem Bruder und schleifte ihn wieder in die Wohnung.
»Hör auf, dich zu prügeln!«, rügte Kiyoshi seinen Zwilling und hielt ihn so gut es ging an seinen nach Alkohol riechenden Klamotten fest.
»Er hat Jiro gegen seinen Willen geschlagen und gebissen! Alexander, du mieses Schwein! Du bist wirklich widerlich! Das nennst du Liebe?!«, schrie Hiro durch das Wohnzimmer zum Balkon, wo die beiden Schwarzhaarigen wie versteinert standen. Alexander hatte einen Ausfallschritt nach hinten gemacht, klammerte sich mit einer Hand am Geländer fest, auf dessen weißen Schnee rotes Blut tropfte. Die Lippe des Vampirs war vom Schlag aufgeplatzt. Auch die innere Wange schien verletzt und ließ ihn Blut schmecken.
Doch er schluckte jeden Tropfen. Er hatte es verdient, richtig?
»Alex… alles in Ordnung?«, kam die zögerliche Stimme von Jiro, der sofort eine Hand nach Alexander ausstreckte, um nach ihm zu sehen.
»Geh«, murrte der Vampir aus seinen lädierten Lippen.
Jiro ließ sich nicht sofort abwimmeln, kam noch einen Schritt auf ihn zu.
Und wieder einmal fand sich Alexander in der Situation, einen Sexpartner aus seiner Wohnung zu schmeißen.
»Geh einfach!«, quetschte er mit mehr Nachdruck zittrig durch die knirschenden Zähne. Der Mensch hielt inne und sah Alexander eine Weile lang verletzt an.
»Es ist besser für dich…«, murmelte Alexander wesentlich verzweifelter in den leisen Schneefall, der vor wenigen Sekunden wiedereingesetzt hatte.
Er hörte Jiro noch Schlucken und sah wie er zu Boden blickte. Wahrscheinlich rang der Mensch mit sich, ob er Alexanders Worten Folge leisten sollte, oder nicht.
Doch so sehr sich Jiro immer gegen jede Meinung und jeden Befehl gelehnt hatte, so schnell nickte er auf einmal auf und ging mit langsamen Schritten wieder in die Wohnung.
Alexander hörte die Zwillinge noch streiten.
Er sah im Augenwinkel, wie sich Jiro anzog, die Decke wieder auf das Bett legte und einige Blicke nach draußen zum Vampir warf.
Letztendlich gingen die drei Männer, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Der Vampir stand noch für weitere Minuten auf dem Balkon und kniete sich in den kalten Schnee, wo er einzelnen Tränen freien lauf ließ. Wie ein Kind schluchzte er auf und wischte sich über die Augen. Die Zeit, in der er regelmäßig geweint hatte, sollte der Vergangenheit angehören – und nun war sie lebendiger denn je. Denn jedes Gefühl der Liebe, der Zuneigung und des Wohlbefindens, welche Alexander in den vergangenen zwei Tagen gespürt hatte, verflüchtigten sich im Nu. Jetzt waren da nur noch Einsamkeit und Verzweiflung. Ein tiefes Loch, was er sich selber zuzuschreiben hatte.
In Filmen würden sie jetzt anfangen, füreinander zu kämpfen. Doch mit dieser unbedachten Aktion, die Jiro allen Anschein nach nicht vergeben konnte, hatte er jeglichen Kampf bereits verloren. Was sollte der Vampir also noch gewinnen können?
Nachdem seine Zehen tatsächlich anfingen, in der Kälte abzusterben, kroch Alexander in seine Wohnung zurück und ließ sich ein warmes Bad ein, in dem er seine Gliedmaßen wieder zum Leben erwecken wollte. Die violette Farbe auf der Haut verschwand nur schleichend, sodass er fast eine Stunde in dem warmen Wasser hockte und nachdachte. Vielleicht sollte er noch einmal mit Hiro reden?
Würde er das überhaupt wollen?
Wahrscheinlich hatte Alexander Jiro sowieso nicht verdient. Das hatte Hiro bereits zu einem früheren Zeitpunkt einmal erwähnt, dessen Alexander Bestätigung folgen ließ. Außerdem fielen dem Vampir keine Argumente ein, die sein Verhalten in irgendeiner Weise hätten rausreißen können.
Nein, allen Anschein nach endete die Beziehung so schnell, wie sie gekommen war.
Vielleicht war es auch besser so, wenn sie ihn alle wieder wie am Anfang hassen und schneiden würden. Er schien nicht im Stande zu sein, eine Beziehung zu führen. Sein altes Leben war furchtbar gewesen, aber wenigstens stabil.
Und diese Stabilität brauchte Alexander im Moment mehr denn je.
»Glaubst du nicht, dass du etwas übertrieben hast?«, kam die fast ängstlich wirkende Stimme von der Rückbank des teuren Autos.
Mamoru hatte uns auf der Landstraße abgefangen, nachdem Kiyoshi ihm geschrieben hatte, uns abzuholen. Wie auf der Flucht sind wir einfach aus Alexanders Wohnung gerannt und im Schnee ein Stück die Landstraße entlang, wo wir letztendlich abgeholt wurden.
Während der Autofahrt herrschte bis Jiros Kommentar bedrückende Stille. Er und Kiyoshi saßen auf der Rückbank, während ich neben Mamoru noch immer meine Fäuste quetschte.
»Er hat sich entschuldigt. Es tat ihm wirklich leid«, erzählte Jiro weiter und lehnte sich ein Stück zu mir vor. »Du hättest ihn nicht gleich schlagen müssen…«
»Doch, Jiro! Und eigentlich hätte er noch sehr viel mehr Schläge verdient!«, platzte es aus mir heraus, sodass sowohl mein Bruder, als auch Jiro zusammenzuckten. »Dieser Mann hat mir so viel über sich und seine Gefühlslage erzählt, dass ich dich mit gutem Gewissen in seine Hände gegeben habe! Aber er hat mich und eigentlich jeden hier mit dieser Gewaltnummer jämmerlich enttäuscht!«
»Du hast mich in seine Hände gegeben? Hiro… du meinst es sicher nur gut, aber du bist nicht meine Mutter. Fühl dich nicht dafür verantwortlich, dass -«
»Jiro!«, schrie ich erneut laut auf, drehte mich wutentbrannt um und klammerte mich am Sitz fest, sodass mein Kumpel heftig zusammenzuckte. »Er hat dich vergewaltigt! Er hat dich geschlagen, dich gebissen und …«, dabei spähte ich kurz zu Mamoru, der finster durch die Windschutzscheibe sah, als wären meine Worte nicht für seine Ohren gedacht, »… andere Dinge getan, die nicht mit deinem Willen geschahen. Das geht einfach gar nicht! Niemand kann sich so abschießen, dass er wie blöd andere Menschen verletzt, ohne es nicht in irgendeiner Weise schon vorher geplant zu haben!«
»Du unterstellst ihm, dass er das geplant hat?«, fragte Jiro empört nach und hob beide Augenbrauen, als würde ich gegen seine eigene Person hetzen.
»Ja! Alexander hat mir gebeichtet, dass er auf so Sadomasokram steht. Aber dass er das so weit zieht, war mir nicht klar!«
Ich schnauzte wie ein Weltmeister. Jiro sah ab dem Zeitpunkt nur noch verletzt aus dem Fenster und ließ mich reden. Auch Kiyoshi schaltete sich mit keinem Wort dazwischen. Wahrscheinlich traute sich niemand, mich zu unterbrechen. Ich hätte zu dem Zeitpunkt mit jedem Streit angefangen.
Natürlich waren die Drogen nicht ganz unschuldig an der Misere. Aber auch ich hatte gekokst, wir alle waren high – und trotzdem hätte niemand von uns auch nur im Entferntesten daran gedacht, jemanden zu verletzen. Das Einzige, woran ich mich noch erinnern konnte, war, dass ich heißen Sex mit Kiyoshi hatte und wir schlussendlich nebeneinander eingeschlafen sind. Und genauso hätte es auch zwischen Jiro und Alexander laufen sollen; wenn der gute Herr sich mal unter Kontrolle gebracht hätte!
Als wir zu Hause ankamen, empfing uns Mom recht rügend.
»Wo wart ihr gestern, Himmel noch mal?«, fing sie an und wedelte mit ihren Händen. Ich brummte nur ein genervtes "weg" und ging schnurstracks nach oben. Ich wollte alleine sein. In Ruhe gelassen werden. Bevor ich noch Familienmitglieder in der Luft zerfetzen würde. Und ich wollte Alexander böse SMS schreiben, dass er zum Teufel gehen sollte. Wie konnte er es nur wagen, meinen besten Freund zu missbrauchen und ihn so zuzurichten?
Kiyoshi und Jiro blieben ratlos im Foyer stehen, um Mom zu erklären, wo wir genau waren und wieso wir so spät erst nach Hause kamen. Ich wollte von dem nichts wissen. Jiro stand ja allen Anschein nach auf Alexanders und nicht auf meiner Seite. Was sollte ich da noch meine Finger reinhalten?
*
»Ach, du meine Güte, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«, fragte die Mutter der Zwillinge besorgt den noch immer neben der Spur stehenden Menschen. Jiro kratzte sich verlegen an seinem Hemd und lächelte so gut es mit den Verletzungen ging. Ein Schal von Kiyoshi verdeckte die noch frische Wunde am Hals, um zumindest damit keine Unruhe zu stiften.
»Ich habe mich ein bisschen geprügelt… wie immer«, log er und deutete damit seine früheren Eskapaden an, die Ai durch ihren Sohn immer aus erster Hand erfahren hatte.
»Geprügelt? Oh, Jiro! Bitte… Wieso tust du das auch immer?«, seufzte sie und stemmte die Hände in die Hüfte. »Kiyoshi, weißt du, wo Verbandszeug steht? Der arme Junge braucht ein paar Pflaster.«
Kiyoshi nickte sofort und nahm Jiro am Arm. »Komm, steht im Bad.«
Jiro ließ sich ohne weitere Worte und Entschuldigungen in das obere Stockwerk ziehen, wo er mit dem weißhaarigen Mann das Bad betrat. Eine drückende Stimmung machte sich sofort breit.
Erst, als Kiyoshi den Verbandskoffer herausholte, einzelne Pflaster bereitlegte und einen Waschlappen nass machte, seufzte er sehnsüchtig auf und brach die Stille.
»Es fühlt sich an, als wäre eine Ewigkeit vergangen, dabei ist nicht einmal ein halbes Jahr verstrichen, seitdem ich das letzte Mal diesen Verbandskasten angefasst habe.«
»Was meinst du?«, fragte Jiro zögerlich nach und zog sein schwarzes Hemd aus, um sich die einzelnen Wunden anzusehen. Viele blaue Flecke und einige Kratzer waren zu sehen. Als der Mensch auch noch sein Gesicht im Spiegel betrachtete, musste er schlucken. Er sah wirklich sehr demoliert aus…
»Na ja«, begann Kiyoshi, wrang den Waschlappen aus und grinste zufrieden, »das letzte Mal habe ich Hiro verarztet. Nach meinem Biss. Genau hier.«
»Echt?«
Jiros Augen weiteten sich. Hier hatte also alles seinen Ursprung?
»Ja«, hauchte Kiyoshi. »Hier habe ich ihn auch geküsst. Ich dementiere es bis heute, aber eigentlich war ich derjenige, der es inszeniert hat. Irgendwie war mir danach…«
Das Lächeln des Vampirs war so aufrichtig, dass Jiro einfach mitlächeln musste. Diese Erinnerungen waren Kiyoshi heilig, denn es waren die ersten Stunden, die er mit seinem Zwilling verbringen durfte. Der Beginn einer großen Leidenschaft.
»Ihr beiden«, kicherte Jiro, nahm den warmen Waschlappen entgegen und begann vorsichtig über die Kratzer zu fahren. »Ihr meint es echt ernst, oder? Ich finde es mittlerweile nicht mehr ganz so krass, dass ihr als Brüder eine Beziehung führt. Aber am Anfang, als Hiro mir das Ganze gestand… Ich dachte, ich fall vom Hocker.«
Kiyoshi lachte leise auf, sah genierend zu Boden und zog die spitzen Schultern hoch. »Ich kann es selber nicht so ganz fassen, wie das passieren konnte. Mir wäre lieber, er wäre nicht mein Bruder… Dann könnten wir auch eine normale, öffentliche Beziehung führen.«
»Dann würde es aber vielleicht nicht so gut passen«, bemerkte Jiro und knibbelte ein wenig an seiner Kruste. Die am Hals war besonders nervig und verbreitete ein stechendes Gefühl in Schulter und Nacken.
»Da hast du Recht. Hiro und ich sind eben sehr selbstverliebt, deswegen klappt das so gut mit dem eigenen Zwilling.«
»Ach, darüber hast du also auch schon nachgedacht? Dass ihr im Grunde euch selber liebt?«
»Haha, ja… Und doch sind wir von Grund auf verschieden…«, murmelte Kiyoshi nachdenklich, blickte noch einige Sekunden auf den Boden, bis er Jiro dabei zusah, wie er die Hose öffnete. »Soll ich gehen?«
»Nein, schon okay… Vielleicht… kannst du mir sogar etwas helfen? Ich glaube, am Rücken sind auch Schrammen…«, seufzte Jiro und sah Kiyoshi mit großen Augen an. »Hiro scheint im Moment nicht so gut drauf zu sein, sonst würde ich ihn fragen.«
»Klar…«, nickte der Vampir, nahm Jiro den Waschlappen ab und sah zu, wie sich der Mensch bis auf die Unterhose auszog. Mehrere Blessuren wurden sichtbar; sogar an den Beinen. Kiyoshi schüttelte nur den Kopf, konnte selber nicht fassen, wie das alles passieren konnte. Als sich Jiro dann auch noch umdrehte, sah er grüne, rote und blaue Flecken über dem Rückgrad verteilt.
»Der hat dich ganz schön in die Mangel genommen… Wieso hast du nichts gemacht? Wir haben nur euer… Stöhnen vernommen, sonst hätten wir dir doch geholfen!«, fragte Kiyoshi zögerlich, da er absolut keine Vorstellung von der Situation bekam, in der sich Jiro so hat zurichten lassen.
Der Mensch seufzte benommen.
»Ich wollte nicht aufhören. Irgendwo war es schon okay. Es war einfach nur zu viel von allem. Im Nachhinein hätte ich vielleicht was tun sollen, aber ich war ja selber total high«, murmelte Jiro und ließ sich mit dem Waschlappen über den Rücken fahren. Es tat an einigen Stellen ganz schön weh, sodass er zusammenzuckte.
»Du fandest es also gut?« Kiyoshi hob überrascht die Augenbrauen.
»Nein«, lachte der Mensch heiser auf. »Gut fand ich das nicht. Aber es war auch nicht furchtbar. Jedenfalls habe ich eh kaum was mitbekommen. Den Wunden nach zu urteilen war es wohl doch ein bisschen heftiger, als ich in Erinnerung habe… Mein Hintern schmerzt auch ganz schön, wenn ich mal so ehrlich sein darf.«
Doch Jiro war gelassen. Es war nicht so, wie Hiro es darstellte. Er wurde nicht vergewaltigt. Er hatte dem Sex zugestimmt; er wollte stark sein. Er hat alles über sich ergehen lassen, ohne Alexander wegzustoßen, ihn zu verletzen oder um Hilfe zu schreien. Natürlich hatte er sich an einigen Stellen gewehrt, um seinen Partner von vielleicht noch verletzenderen Handlungen abzuhalten, doch letztendlich hatte er sich ihm hingegeben.
Ja, er war ja sogar gekommen. Während Alexander in ihm drin war. Und es war ein erschauderndes, magenverdrehendes Gefühl, was sich in Jiro breit machte, während er an den Sex zurückdachte. Noch nie hatte er mit einem Mann geschlafen, noch nie war er mit solchen Blessuren aus einer Bettgeschichte gegangen und noch nie sehnte er sich so stark nach zerstörerischen Händen, wie nach dieser verrückten Nacht.
»Wirst du ihm also verzeihen?«, fragte Kiyoshi leise, als er den Waschlappen im Becken auswrang.
Der Mensch sah zu Boden, überlegte für einige Sekunden und zog die Schultern hoch. Ein leichtes Seufzen fuhr über seine Lippen.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Auf der einen Seite hat Hiro schon Recht. Alexander hat fahrlässig gehandelt und das hätte nicht passieren dürfen. Egal wie zugedröhnt man ist; man schlägt seinen Partner einfach nicht. Alles andere wäre keine gesunde Beziehung…«, erzählte Jiro ebenso leise, als müssten sich die beiden anflüstern. Das Thema lag ihm tief in den Knochen und der Mensch war dankbar über die Anteilnahme von Hiros Zwilling.
»Aber?«, hakte Kiyoshi nach und lächelte, bereits wissend, wohin die Argumentation führen würde.
Auch Jiro begann zu schmunzeln. »…Aber es ist immer noch Alexander. Er ist derjenige, der mir so oft das Leben gerettet hat. Der sich um mich sorgte, obwohl er schlimmer dran war, als ich. So jemand… kann doch eigentlich kein schlechtes Wesen sein, oder?«
Kiyoshi packte Pflaster aus dem Kasten und schnitt sie zurecht. Dabei seufzte er leise auf. »Aber Jiro… Es sind doch hoffentlich nicht nur Schuldgefühle – oder nein, eher Pflichtgefühle in dir, die dich zu Alexander ziehen, oder? Ich denke, so etwas kann auch keine gesunde Beziehung schüren.«
Vorsichtig klebte Kiyoshi ein Pflaster auf Jiros Schulter. Darauf ein Zweites, da der Kratzer beachtlich groß war. Der Mensch nahm sich selber ein zugeschnittenes Pflaster und klebte es vorsichtig auf sein geschwollenes Brustwarzenpiercing. Hier hatte Alexander reingebissen. Und dran gezogen. Ein Wunder, dass es nicht gerissen war.
»Natürlich nicht nur, aber auch. Noch nie hat ein Mann sich so aufopfernd für mich aufgegeben. Da kann ich jetzt eigentlich nicht wegen einer solchen Aktion böse sein, zu der er sich ja sogar bekannt und entschuldigt hat.«
Nach und nach verklebten und verarzteten die Männer Jiros Wunden, bis nur noch blaue Flecke und eine Menge Pflaster zu sehen waren. Ein seichtes Seufzen entfuhr abermals Kiyoshis Lippen.
»Du musst es wissen, Jiro. Ich kann dir da keinen Rat geben. Mein Hiro würde so etwas nie tun. Aber ich würde das auch nie mit mir machen lassen«, begann der Weißhaarige, zuckte mit den Schultern und lächelte aufrichtig. »Vielleicht redest du noch einmal mit ihm. Wenn er Einsicht zeigt, könnt ihr euch ja auf ein gesundes Mittelmaß einigen.«
Da lachte Jiro auf. »Genau das hatte ich auch vor. Alexander und ich verstehen uns eigentlich ganz gut. Bis auf ein, zwei Sachen vielleicht…«
»Wohl eher ein- bis zweihundert Sachen. So oft wie ihr euch in der Wolle habt?«, bemerkte Kiyoshi amüsiert und verschloss den Arztkoffer. Ordentlich stellte er ihn wieder in einen der weißen Schränke und schloss die Tür.
»Das gehört dazu«, hauchte Jiro und fuhr sich durch die etwas fettigen Haare. »Wir streiten uns, weil wir beide sture Köpfe sind. Aber das sind nur belanglose Sachen… Und Versöhnungssex ist ja bekanntlich der Schönste.«
»… Findest du?«, fragte der Zwilling auf einmal recht skeptisch. »Wenn Hiro und ich uns gestritten haben, habe ich keinen Bock mit ihm zu schlafen. Dann bin ich böse und will meine Ruhe.«
Jiro zuckte mit den Schultern und lächelte. »Da ist jeder anders, denke ich.«
Von Hiro wusste Jiro natürlich, dass auch Kiyoshi sich nach spätestens ein paar Stunden wieder rannehmen ließ. Und zwar sehr ausgiebig; als hätten sie nie gestritten.
So war sich Jiro sicher, dass auch Alexander das schaffen könnte. Dass es nicht immer auf einen solch brutalen Sex hinauslaufen würde. Obwohl er das Gefühl von Alexanders Fangzähnen in seinem Hals wirklich erregend beim Sex fand. So weh es auch tat, so erschaudernd war es, wenn sein Partner sich von seinem Blut bediente und ihn Sternchen sehen ließ. Dieses Gefühl, kurz vor der Ohnmacht zu stehen, schien wie der Katalysator des Orgasmus zu sein. Und trotzdem Jiro dem Schlagen und Beißen nicht wirklich etwas abgewinnen konnte, musste er sich eingestehen, ziemlich befriedigend gekommen zu sein. Vielleicht lag es an den Drogen, vielleicht aber auch an seinem Partner. Und solange er Alexander seine Tat vorhalten und nicht zurückkommen würde, konnte er nicht herausfinden, ob es an dem einen oder an dem anderen lag. Es blieb an Jiro sich weiter auf den gefährlichen Vampir einzulassen und zu schauen, was dabei rumkommen würde. Denn trotz Wunden und Schmerzen war die Neugierde, Alexander weiter kennen zu lernen, nicht am sinken.
»Danke, Kiyoshi«, lächelte der Mensch dem Weißhaarigen entgegen. »Das Gespräch hat gutgetan.«
»Freut mich«, grinste auch der Vampir und setzte zum Gehen an. »Und was wirst du jetzt tun? Wirst du Alexander noch ein bisschen schmoren lassen?«
»Darauf kannst du Gift nehmen. Ich bin zwar nicht mehr sauer, aber das muss er ja nicht wissen«, lachte Jiro finster auf und folgte Kiyoshi auf den Gang, um sich frische Klamotten aus seinem Zimmer zu holen. »Er soll noch ein bisschen leiden… nur, um sicher zu gehen, dass er so etwas auch wirklich nie wieder macht.«
*
Alexander hatte sich für einen Moment in der Badewanne vergessen, sodass er vor Erschöpfung eingeschlafen war. Erst, als er Wasser in seine Lungen fließen spürte, schreckte er hoch und klammerte sich am Badewannenrand fest, um laut zu husten. Gott sei Dank musste er nicht atmen, sonst hätte er sich gerade ertränkt.
Verwirrt blickte er um sich und raunte laut auf, als er wieder in der Realität angekommen war; wo er doch gehofft hatte, dass die Sache mit Jiro ein Traum gewesen wäre. Alles tat ihm weh, dabei hatte er keine offensichtlichen Wunden erlitten, denn selbst die kleine Platzwunde an der Lippe war bereits verheilt. Es war das Herz, was ihn nur beschwerlich aus der Badewanne stiegen ließ. Sowieso fühlten sich alle Bewegungen lähmend an. Abtrocknen, Haare föhnen und Anziehen – es wurde so mühevoll, als könnte Alexander jeden Moment umkippen. Als er durch sein Wohnzimmer ging, um Reste des Abends zu vernichten, hielt er sein aufgerissenes Hemd in der Hand. Jiro hatte es ihm vom Leib gerissen, als sie in den Pool gestiegen sind. Ab diesem Zeitpunkt wollte er seinen Partner endgültig ins Bett kriegen. Die sexuelle Stimmung weiter ausbauen. Die Liebe, die er für ihn empfand, endgültig ausleben.
Als Alexander einen großen Müllsack im Flur stehen hatte und überlegte, ob er nicht gleich einen kompletten Großputz starten sollte, schielte er auf das blinkende Telefon im Wohnzimmer. Es zeigte abermals die Nummer seiner Eltern, die versucht hatten, ihn anzurufen. Doch wie immer drückte er die Nachricht auf dem Anrufbeantworter weg und ignorierte die Kontaktversuche seiner Eltern. Er wusste genau, welche Fragen er erhalten würde: Was macht die Schule? Was macht die Wohnung? Hast du dich schon für die Universität vorbereitet? Wie geht es Rose und Sam? Hast du endlich mal eine Freundin? Denk dran, der Abschlussball ist bald, du brauchst noch –
Alexander stoppte die Gedanken, bevor er von sich selber genervt war. Mit schnellen Schritten lief er ins Bad und zog aus allen möglichen Nischen kleine Tütchen mit Pillen und Pulver. Die Drogen, so dachte Alexander, waren zumindest ein Anfang. Wenn er diese Sucht los werden würde, könnte er einen Neuanfang beginnen.
Denn so oft, wie sich der Vampir klar machte, dass die Beziehung zu Jiro vorbei war, so oft stieß in ihm die Hoffnung auf wie Magensäure. Noch nie hatte es eine Person, noch dazu ein Mann, geschafft, Alexander in seinen Bann zu ziehen. Noch dazu so stark, dass er Monate lang an nichts anderes denken konnte.
Aufgeben war nie eine Option gewesen, aber wie sehr muss man sich anstrengen, um einen bereits verlorenen Kampf zu gewinnen?
Tütchen für Tütchen landeten in der Mülltüte. Alexander war selber überrascht, wie viele Drogen er in seiner Wohnung gebunkert hatte. Er konnte nur den Kopf schütteln. Über sich, über sein Verhalten und über die Tatsache, dass er Jiro nicht aufgeben konnte.
Nach einigen Minuten kam Kiyoshi in unser Zimmer und schloss leise die Tür. Ich saß auf dem Bett und spielte mit dem Gedanken, Alexander anzurufen und ihn anzuschnauzen. Ihm vielleicht die Chance geben, sich zu erklären, nur, um ihn wieder fertig zu machen.
Doch als sich mein Bruder nur schweigend neben mich setzte und eine Hand auf mein Bein legte, sah ich vom Handy auf und blickte in müde Augen.
»Was ist los…?«, fragte ich vorsichtig, fast so leise, dass ich kurz davon ausging, er hätte mich nicht verstehen können. Doch Kiyoshi zog die Schultern hoch und sah auf den Boden.
»Jiro will zurück zu ihm.«
»Ernsthaft?!«, raunte ich genervt auf, vergaß die ruhige Stimmung im Nu und verdrehte die Augen. »Der hat doch wohl einen Knall! Läuft zu seinem Vergewaltiger zurück!«
»Sag es bitte nicht so«, fing dann auch Kiyoshi an, sich gegen mich zu stellen. »Alexander stand unter Drogen und wusste nicht, was er tat. Jiro war ebenfalls ziemlich neben der Rolle, sonst hätte er sich schon gewehrt.«
»Das glaubst du doch wohl selber nicht. Wir haben auch geraucht, getrunken und gekokst. Trotzdem habe ich nicht angefangen, dir sämtliche Knochen rauzuschlagen!«
»Alexander ist da eben anders«, seufzte mein Bruder und nahm seine Hand von meinem Bein. »Ich finde es auch nicht gut. Aber Jiro scheint ihn immer noch anzuhimmeln.«
»Schön für ihn, aber Alexander wird brav seine Pfoten von ihm lassen und vice versa!«
»Vorher warst du so erpicht darauf, die beiden zusammen zu bringen und jetzt willst du sie auseinanderreißen?«
»Ich muss wohl nicht erklären, wieso!«, knurrte ich gereizt und verschränkte die Arme. Kaum zu glauben, dass mein Bruder nach einem solchen Ereignis die Seiten gewechselt hatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, es ging ihm nur darum, einfach gegen mich zu sein.
»Was ist denn mit Verzeihen? Jiro wäre bereit, Alexander noch eine Chance zu geben. Wieso denn jetzt du nicht?«
»Jiro ist viel zu lieb, was das angeht! Alexander hat fahrlässig gehandelt, ihn verletzt und… ich will eigentlich gar nicht wissen, was noch alles passiert ist. Aber allein die Aussaugnummer war zu viel.«
Da fing Kiyoshi an, die Lippen aufeinander zu pressen und traurig auf den Boden zu schauen. Als ich weiterhin auf einen Gegenkommentar wartete, knibbelte er an seinen Fingern. Sah ich da etwa Reste von Nagellack?
»Du hast mir doch auch verziehen…«, murmelte er auf einmal los und sah mich wie ein scheues Reh an. »Ich habe auch fahrlässig gehandelt, dir wehgetan und dir Angst gemacht. Und ich stand nicht mal unter Drogen. Ich war bei Bewusstsein. Ja – ich habe dich sogar getötet, wenn man es genau nimmt.«
Kiyoshis Augen glänzten schlagartig im faden Licht des Raumes, sodass ich mich nicht traute, sein Argument zu dementieren.
»Trotz allem, was ich getan habe, hast du mir verziehen… Weil du mich liebst, richtig? Weil Fehler mal passieren können, das aber nichts daran ändert, wie sehr man sich gernhat. Und ist das nicht das Wichtigste? Wenn Alexander jetzt keine Einsicht zeigen würde, sich nicht entschuldigt hätte und sich auch sonst wie ein Arschloch verhalten würde, wie wir es von ihm kennen, würde ich die beiden auch nicht mehr zusammen sehen wollen. Aber hast du gesehen, wie gebrochen er auf dem Balkon stand? Wie traurig er war, als wir gegangen sind und Jiro mitgenommen haben?«
Kiyoshi nahm auf einmal meine Hand, streichelte sie angeregt und wechselte energische Blickkontakte mit mir und der Einrichtung im Zimmer.
»Ich habe mich all die Zeit nicht mit den beiden beschäftigt, aber nur ein halbstündiges Gespräch mit Jiro hat mir gerade gezeigt, dass es ihm ernst ist. Dass er ihn liebt und zwar sehr. Dass er Alexander dankbar für das ist, was er in der Vergangenheit für ihn getan hat und dass er gewillt ist, ihm eine zweite Chance zu geben, weil er davon überzeugt ist, dass Alexander kein schlechter Kerl sein kann, wenn er flehend um Vergebung bettelt und damit sein riesiges Ego vergraben hat. Sei fair zu ihm… so wie du es auch zu mir warst. Damals… im Bad. Nach dem Biss…«
Als mein Bruder mir noch einmal liebevoll in die Augen sah und mich um meinen Segen für die beiden bat, seufzte ich laut auf und musste grinsen. Das Argument mit Kiyoshis Biss saß ziemlich gut. Denn im Grunde hatte er Recht: Ich würde Kiyoshi alles verzeihen. Allen Anschein nach hielt Jiro genau dieselbe Einstellung inne.
»Dass sich unsere Positionen einmal so vertauschen würden und du anfängst, um die Liebe der beiden zu kämpfen, hätte ich im Leben nicht gedacht«, murmelte ich und kratzte mich im Nacken.
»Eigentlich geht es mich nichts an. Eigentlich geht es keinen von uns beiden was an. Aber so sehr, wie die beiden Hilfe abschlagen, so sehr brauchen sie sie. Und…«, auf einmal wurde Kiyoshi ganz leise, »…gestern im Club waren die beiden so gut drauf, dass es gleich viel harmonischer um uns geworden ist. Auf einmal stand niemand mehr außen vor, denn jeder war mit seinem Partner da. Und glücklich. Keiner von uns hat sich mit einem gestritten. Wir haben einfach eine schöne Zeit gehabt. Wollen wir das nicht immer haben?«
Ich sah, wie sehr Kiyoshi diesen Abend genossen hat und wie sehr er bemüht war, dass jeder ein positives Gefühl daraus in Erinnerung hielt. Also ließ ich meine Mimik erweichen, lächelte und streichelte die glatten Wangen meines Bruders.
»Na schön… dann sollen die beiden ihr Glück eben beieinander finden. Ich hoffe nur für Alexander, dass er sich danach im Griff hat und Jiro kein zweites Mal verletzen wird.«
»Ich denke nicht, dass das noch einmal passieren wird. Alexander wird nun vorsichtiger denn je mit Jiro umgehen«, kicherte Kiyoshi amüsiert auf und lehnte sich zufrieden gegen meine Schulter.
»Hoffentlich. Ich will keine Bissspuren mehr an Jiro sehen!«
»Hm«, begann Kiyoshi leise und streichelte mein Bein. »Und wenn Jiro ihm das erlaubt? Ich glaube, er sieht das mit dem Beißen nicht so eng. Denn irgendwie… hat er das mit keinem Wort erwähnt, als wäre es eine hinzunehmende Tatsache, dass sein Freund hier und da mal an ihm knabbern wird.«
»Oh bitte, nicht…«, brummte ich leise aus meinen Lippen und schloss entnervt die Augen. Wenn Jiro jetzt auch noch anfing, sich à la Stockholmsyndrom Alexander anzubieten, könnte ich mich gleich vor Sorgen begraben. Schlimm genug, dass er ein Mensch und Alexander ein Vampir war… So was ging in der Regel nicht lange gut.
Nachdem Kiyoshi und ich ein bisschen auf dem Bett lagen und zusammen kuschelten, rappelte ich mich auf und klopfte zaghaft an Jiros Zimmer an. Es kam ein zögerliches "Ja?", sodass ich eintrat.
»Hallo Hero…«, begrüßte mich mein Kumpel sehr leise, während er am Schreibtisch saß. Sein Laptop war geöffnet.
»Hallo Jiro. Entschuldige wegen vorhin. Ich war einfach echt sauer… Wollte das nicht an dir auslassen«, erklärte ich mich schon beim Reinkommen und schloss die Tür. Jiros Lippen formten sofort ein Lächeln, dessen ich direkt einstimmte.
»Schon okay. Es gab ja auch genug Gründe dazu.«
»Allerdings!«, hob ich mahnend meine Stimme und setzte mich ihm gegenüber aufs Bett. Jiro drehte sich mit dem Stuhl zu mir und sah mich eine Weile lang an.
»Kiyoshi hat mir erzählt, dass du dem Penner 'ne zweite Chance geben willst«, begann ich das Thema direkt und ohne Einleitung anzusprechen.
Jiros Wangen färbten sich leicht rosa. »Ja. Er hat es verdient, nicht gleich abserviert zu werden.«
»Na ja«, brummte ich und sah genervt zur Seite. Eigentlich hatte er genau eine solche Abfuhr verdient, wo er doch so ein Arschloch zu ungefähr jedem war. Aber Jiro war dahingehend schon immer ein verzeihendes Mäuschen gewesen. Selbstverständlich auch oft genug zu meinem eigenen Vorteil, wenn ich mich mal mit ihm gestritten hatte.
Als ich auf Jiros Bildschirm starrte und ein Skype Fenster offen sah, nickte ich mit dem Kinn auf den Laptop.
»Schreibt ihr schon? Was sagt er?«
Mein Kumpel drehte sich ebenfalls zum Laptop, schüttelte dann enttäuscht den Kopf. »Nein… er ist nicht online.«
»Ach so… Na ja. Wahrscheinlich trainiert er sich wieder die Finger wund, um ein bisschen Wut abzulassen.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Jiro und sah nachdenklich auf sein Handy, welches neben dem Laptop lag. »Er geht auch nicht ans Handy. Er schreibt nicht zurück… Eigentlich mach ich mir ein bisschen Sorgen.«
»Er geht nicht ran? Wie oft hast du es schon versucht? Vielleicht ist er im Bad?«, hakte ich nach und beugte mich ein wenig zu meinem besorgten Kumpel vor.
»Jetzt schon das vierte Mal. Schon auf der Fahrt hierher habe ich ihm eine SMS geschrieben, dass wir da noch einmal drüber reden sollten. Aber auf die hat er auch nicht geantwortet… Vielleicht will er ja gar keine zweite Chance mehr.«
»Alexander ist ein sturer Bock. Könnte mir denken, dass er dich jetzt ignoriert, weil er Angst hat, er könnte dich noch einmal verletzen. Also geht er dir mit dieser Art komplett aus dem Weg, sodass du irgendwann das Interesse verlierst.«
»Ach, Alex«, seufzte Jiro wehmütig auf und fasste sich an ein Pflaster am Arm. »Ruf du ihn doch dann mal an. Vielleicht geht er ja an deine Nummer…«
Ich nickte, kramte mein Handy aus der Tasche und reicht es Jiro. Etwas verwirrt nahm er es an, tippte dann aber ohne weitere Worte Alexanders Nummer (zu meiner Verwunderung bereits auswendig) und hielt sich mein Smartphone ans Ohr.
Ein Freizeichen war zu hören. Jiro und ich warteten. Und warteten. Bis sich schließlich die Mailbox einschaltete und ihren typischen Satz runterrasselte, dass man eine Nachricht hinterlassen könnte, wenn man wollte.
Damit legte Jiro wieder auf. »Immer noch nicht…«
»Hast du ihm auch schon aufs Band gequatscht?«
»Ja, direkt beim ersten Mal. Dass ich doch gerne wenigstens kurz mit ihm Telefonieren möchte. Dann beim vierten Mal, dass ich mir Sorgen machen. Aber nichts… Meinst du, er ist sauer?«
»Niemals! Wieso sollte er sauer sein?«, pöhnte ich lautstark und schüttelte den Kopf.
Als ich mein Handy wieder an mich nahm und eine böse SMS an ihn verfasste, in der ich ihn anscheißte, er soll doch gefälligst seinen Liebhaber zurückrufen, kamen in mir einige Zweifel hoch.
Alexander tendierte sehr schnell in für ihn extremen Situationen auch extrem zu handeln. An Selbstmord wollte ich nicht unbedingt denken, aber vielleicht an Drogen? Anscheinend hortete er eine Menge Zeug bei sich in der Bude, sodass es mich nicht wundern würde, wenn er mit einer Überdosis in der Badewanne lag.
Ein Blick auf die Handyuhr verriet mir, dass wir ihn seit 2 Stunden allein gelassen hatten. Wenn er sich also direkt nach unserer Abreise einen goldenen Schuss gesetzt haben sollte, könnten wir höchstens noch rund 20% seines Gehirns retten. Denn so viel hatte ich in der spießigen Schule gelernt: Neuronen im Gehirn leben höchstens 3 bis 5 Stunden ohne Sauerstoff. Und bei einer Überdosis von Opiaten käme es zum Atemstillstand und zum Koma. Und selbst wenn Vampire eben kaum Atmen mussten, so würde das Opiat sicherlich auch für weiteren Stillstand in der Sauerstoffverarbeitung mit sich ziehen. Das Gehirn würde sofort Schäden nehmen.
Alexander müsste danach eine Menge Blut konsumieren, um sich wieder fit zu kriegen.
Jiro bemerkte meine nervösen Blicke auf die Uhr und wie ich anfing die Zeit zu rechnen, die wir bräuchten, um ihn vom Tod zu bewahren, und beugte sich zu mir vor.
»Hiro, lass uns zu ihm fahren!«
Als ich aufblickte und mich große, grüne Augen flehend anstarrten, seufzte ich leise auf.
»Okay. Dann soll uns Mamoru noch einmal fahren…«, murmelte ich und stand vom Bett auf. Mit schnellen Schritten hechtete ich auf den Flur, stolperte im Nu die Treppe runter und lief fast in Mom rein.
»Vorsicht junger Mann«, mahnte sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen und hielt einigen Papierkram in der Hand. Las ich da etwa das Wappen der Academy? »Wohin so eilig?«
»Wo ist Mamoru? Er muss uns zu Alexander fahren.«
»Mamoru? Der ist mit deinem Vater unterwegs. Wir wollen doch heute Abend Raclette machen. Aber dein Vater hat natürlich weder ein Raclette noch Zutaten dafür.« Da seufzte sie spielerisch auf. »Hätte ich das gewusst, hätte ich unser Gerät mitgebracht…«
»Aber… Wir müssen jetzt zu Alexander!«, begann ich verzweifelt zu jammern. »Fährst du uns dann?!«
»Wieso müsst ihr denn jetzt unbedingt wieder zu ihm? Ihr kommt doch gerade erst da her!«
»Bitte, Ai!«, schaltete sich Jiro von der Treppe aus zu. »Er geht weder ans Telefon, noch antwortete er auf irgendwelche SMS. Wir machen uns Sorgen!«
Da fingen die Augen meiner Mutter an sich um das Doppelte zu weiten. »Vielleicht hat er einen guten Grund…?«
»Wir haben uns gestritten. Und haben ihn dann allein gelassen. Wir vermuten…, dass er sich vielleicht mit Drogen zupumpt«, erklärte ich leise, sodass Jiro nichts mitbekommen würde. Doch Mom musste natürlich meinen Satz in einer hohen Lautstärke noch einmal wiederholen. »Drogen?!«
Jiro wurde schlagartig nervöser, knibbelte an seinem Pulli, den er frisch gewaschen angezogen hatte und kam die Treppe runtergelaufen. Mit schnellen Handbewegungen zog er sich seine dicken Stiefel an. »Dann laufe ich! So weit ist es ja nicht!«
»Mit dem Schneefall ist es viel zu weit!«, entgegnete ich ihm, sah dann auch Kiyoshi an der Treppe stehen.
»Ist was passiert?«, fragte er scheinheilig und kam zu uns ins Foyer.
»Alexander ist wie vom Erdboden verschluckt. Wir machen uns Sorgen und wollen zu ihm«, seufzte ich zum zweiten Mal und zog mir ebenfalls Schuhe an.
»Hero, Schatz… ihr könnt nicht dahinlaufen. Aber mit dem Wagen ist es zu gefährlich. Ich habe Allwetterreifen, der Wagen rutscht mir bei dem Wetter doch weg… Die Hinfahrt war schlimm genug!«, jammerte sie und zerknitterte fast ihre Blätter im Arm. Dass sie Angst hatte zu fahren, war mir klar.
»Dann lass mich fahren!«, schlug ich vor und hielt ihr fordernd meine offene Handfläche hin, sodass sie mir den Autoschlüssel aushändigen konnte.
Doch sie schnauzte mich nur an. »Auf gar keinen Fall!«
»Bitte, Mutter! Hiro fährt wirklich gut!«, besänftigte Kiyoshi unsere Mom und lächelte sie lieb an. »Ich pass mit auf, dass er ordentlich fährt.«
Während mein Bruder also Mom umgarnte, uns den Autoschlüssel zu geben, wurde Jiro immer nervöser. Bereits nach wenigen Minuten stand er in voller Montur für die kalten Temperaturen an der Haustür.
»Was machen wir, wenn er wirklich… da liegt und… Hero, was habe ich getan?«, fing er an hysterisch zu werden und fasste sich panisch an die Stirn.
»Jiro, du hast überhaupt nichts getan! Jetzt mal nicht den Teufel an die Wand… Wird schon einen guten Grund haben, wieso er nicht ans Handy geht!«
Wobei mir keiner einfiel.
»Wenn ihr euch solche Sorgen macht, holt doch die Polizei. Der Chief aus dem Ort kennt die von Hofstätts doch. Sicher auch Alexander«, versuchte Mom uns weiter zu beruhigen. Besonders Jiro horchte interessiert auf. Dass die Polizei aus dem Ort mit Vampiren gemeinsame Sache machte, wunderte ihn merklich.
»Mom, wenn Alex wirklich Drogen genommen haben sollte, wird die Polizei ihn deswegen einbuchten! Das ist genau das, was nicht passieren soll!«, seufzte ich energisch auf und verdrehte dabei die Augen.
»Aber sterben soll er doch auch nicht, oder?«, keifte Mom und fuchtelte mit den Armen, bis die ersten Blätter aus ihrem Arm fielen. Es waren tatsächlich Unterlagen der Academy.
Kiyoshi kam langsam die Treppe runter und stellte sich neben mich. Stattdessen mich oder Mom anzuschauen, blickte er angestrengt zur Haustür. Als sein starrer Blick nicht endete, folgte ich neugierig und bemerkte die offene Haustür.
»Wo ist Jiro?«, fragte ich fast tonlos und unterbrach damit das Gezeter von Mom.
»Auf dem Weg«, murmelte Kiyoshi. »Er ist einfach losgerannt.«
Mom starrte entsetzt zur offenen Tür, aus der ein bisschen Schnee ins Foyer fiel. »Meine Güte, Jiro ist ja immer noch so ein Sturkopf wie damals!« Sie hob mit hektischen Bewegungen ihre Unterlagen auf und hastete ins Wohnzimmer. Ich hörte sie das Telefon abheben.
»Keine Polizei, Mom!«, rief ich ihr hinterher. Kiyoshi fing an, sich seine Boots anzuziehen.
»Ich rufe euren Vater an!«, keifte sie zurück und wählte eine Nummer.
Was zum Geier war nur los? Ich musste Kiyoshi Recht geben: Weihnachten hatte ich mir definitiv anders vorgestellt!
*
Der junge Mann hechtete so schnell er konnte durch den Schnee. Kleine, kalte Flocken peitschten gegen sein Gesicht, als würde er durch Hagel laufen. Jiro fühlte sich albern, dass er so überreagierte, doch sein Gemüt würde erst Ruhe finden, wenn er Alexander in Sicherheit wüsste. Es war nicht seine Art, jemandem hinterher zu laufen, doch was blieb ihm anderes übrig? Nach den Ereignissen mit Vincent glaubte er sowieso stetig an das Schlimmste.
Tief in seinem Inneren hatte Jiro gehofft, die Zwillinge würden ihm folgen, damit er nicht alleine durch den Schnee stapfen musste. Doch niemand folgte ihm – er war völlig alleine. Die Landstraße nach dem Anwesen der Kabashis war sehr viel länger, als er sie in Erinnerung hatte. Der Wind tat sein Bestes, den Weg weitaus beschwerlicher zu gestalten.
Nach schier unendlichen Minuten, in denen Jiro durch den tiefen Schnee stapfte, erkannte er Alexanders kleine Wohnsiedlung am Horizont. Immer wieder checkte der Mensch sein Handy, ob er nicht doch eine Nachricht von Alexander erhalten hatte. Doch es erreichte ihn nichts. Stattdessen sah er Alexanders Auto brav auf dem Parkplatz stehen. Er war also nicht weggefahren. So viel war sicher.
Völlig außer Atem, musste Jiro eine kurze Pause vor Alexanders Eingang einlegen. Die Sonne neigte sich bereits zum Sonnenuntergang. Die Tage waren im Norden wesentlich kürzer, als Jiro sie aus dem Süden in Erinnerung hatte. Noch bevor die Lichter der Gartenanlage ansprangen, drückte Jiro Alexanders Klingel.
Er bemerkte gar nicht, dass er vor Aufregung die Luft angehalten hatte, bis ihm Schwarz vor Augen wurde. Jiro klingelte erneut, dieses Mal etwas länger. Aggressiver.
Als wieder nichts geschah, schlug er vor Wut gegen die weiße Haustür. »Verdammt noch mal, Alexander! Mach die scheiß Tür auf!«, brüllte er los. »Wenn du mich nicht mehr willst, dann sag es mir ins Gesicht!«
Wieder herrschte eine bedrückende Stille, in der nur der Wind leise wehte.
Jiro suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit in den Wohnkomplex zu kommen, ohne dabei von jemandem erwischt zu werden, wie er versuchte ein Schloss zu knacken. Schließlich beschloss er, das Haus weiter zu inspizieren. Vielleicht würde er es auf den Balkon schaffen und von dort aus in die Wohnung kommen.
Mit großen Schritten stampfte der Mensch durch den hohen Schnee und ging den Wohnkomplex mit den Augen ab, bis er schließlich den großen Balkon von Alexander entdeckte. Ein kalter Schauer durchlief ihn, als er daran dachte, wie zerstört sein Freund dort stand – nackt, angreifbar und enttäuscht von sich selber.
Der Balkon war leider viel zu hoch, als dass Jiro ihn mit ein paar akrobatischen Einlagen hätte erreichen können. Vom Boden aus konnte er leider nur den oberen Teil der Fenster sehen, der Rest blieb vom Balkon verdeckt. Also fackelte Jiro nicht lange, griff nach einem kleinen Stein und schmiss ihn gegen die Scheibe.
»Mach schon«, murmelte der Schwarzhaarige nervös und knabberte an seinem Lippenpiercing. »Geh ans Fenster.«
Er wurde ungeduldig mit jeder Sekunde, in der nichts geschah. Also griff er erneut nach einem kleinen Stein und pfefferte ihn zur Scheibe. Tränen schossen in seine Augen. Das Horrorszenario, dass Alexander bewusstlos oder gar tot auf dem Boden liegen würde, ließ sein Herz schneller schlagen. Panik stieg in ihm auf und er griff gleich zu mehreren Steinen, die er einen nach dem anderen wütend und vielleicht etwas zu feste gegen die Scheibe des Appartements warf.
Auf einmal schob sich die Glastür auf und ein schwarzer Schopf trat hervor. Jiro registrierte zu spät, dass das Ziel nun keine Scheibe, sondern ein Kopf war, und sah den letzten geworfenen Stein gegen die Schläfe von Alexander knallen.
»Fuck!«, fluchte der Vampir, rieb sich die rote Stirn und kam an das Geländer des Balkons gehechtet. Dabei riss er sich die Kopfhörer vom Kopf. »Was zur Hölle?! Wer wirft hier Steine an mein Fens-«
Noch ehe er den Satz beenden konnte, sah er den Menschen im tiefen Steh stehen mit der Hand voller Steine. Völlig aufgelöst und mit Tränen in den Augen stierte er hoch.
Erschrocken blickte Alexander runter und öffnete panisch den Mund. Jiro war hier. Er war tatsächlich hier! Trotz allem, was passiert war. Hieße das also, er würde ihm verzeihen? Wieder zu ihm kommen?
Doch als nach einigen Sekunden Blickkontakt nichts weiter geschah, warf Jiro die restlichen Steine wutentbrannt in den Schnee zurück. »Wieso, verdammt nochmal, antwortest du nicht auf meine SMS? Oder Anrufe? Spielst du toter Mann? Aus Spaß? Weißt du, was ich mir für Gedanken gemacht habe!«, fing Jiro an zu plärren und hörte dabei seine eigene Stimme durch den Wohnkomplex hallen.
Alexander sah verwirrt runter, strich sich dabei einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich«, begann er, wurde jedoch sofort wieder vom Menschen unterbrochen.
»Scheiße, Alexander, ich bin so durch mit dir!«, fluchte er, brach dabei mit der Stimme ein und wischte sich über das nasse, kalte Gesicht. Wann hatte er denn angefangen zu weinen? Der ganze Stress wegen nichts!
Wütend stampfte Jiro durch den Schnee, weg vom Balkon. Alexander blieben die Worte im Hals stecken, als er den Menschen gehen sah.
Schnell sprintete er rein, schlüpfte notdürftig in seine Boots und rannte aus der Wohnung. Mit fast fliegenden Schritten hechtete er zum Eingang des Wohnkomplexes, riss ihn auf und sah erneut Jiros Rücken, wie er sich weiter entfernte.
»Komm zurück, Jiro«, rief er dem Mann hinterher. »Ich hab geputzt! Alles weggeschmissen, dabei Musik gehört! Ich weiß nicht mal, wo mein Handy ist!«
Die Worte klangen in seinem eigenen Mund wie Ausreden, die er sich schnell hat einfallen lassen, um seinen ehemaligen Lover nicht zu verlieren. Mit nur einem T-Shirt und Stoffhose bekleidet ging Alexander ein paar Schritte vom Eingang weg und hoffte, Jiro hätte ihn gehört.
Tatsächlich blieb der Mensch stehen und verharrte einen Moment lang in seiner Starre, bis er sich schließlich umdrehte und verkniffen zum Vampir sah. »Aha?«, war alles, was er aus den Lippen presste.
Alexander nahm das als Chance, weiter zu reden. »Komm rein, ich erkläre dir alles. Es … es tut mir Leid?«, entschuldigte er sich unsicher. Für einen Moment lang überlegte er, ob das ein guter Zeitpunkt war, sich zu entschuldigen. Man entschuldigte sich doch bei solchen Sachen, oder? Auch wenn man sie nicht absichtlich gemacht hat?
Jiro presste die Lippen aufeinander und schnaubte aus. Er war jetzt nicht den ganzen scheiß Weg hierhergelaufen, um jetzt einen auf Diva zu machen und wieder zu gehen. Na gut, dachte er sich, gebe ich dem Mann noch eine Chance. Das war ja von vornherein der Plan gewesen.
Also stampfte er wütend auf Alexander zu, der ihn mit großen Augen ansah und beide Augenbrauen hob. Überrascht beobachtete er den Menschen, wie er an ihm vorbeizischte und in den Wohnkomplex ging; ohne ein Wort zu sagen.
Der Vampir zog scharf die Luft ein, massierte kurz seinen Nasensteg und folgte dem Menschen schließlich in die warme Wohnung.
Oben angekommen, sah er zu, wie Jiro anfing, sich die Schuhe auszuziehen. Ob aus Höflichkeit oder mit der Aussicht, doch länger zu bleiben und nicht gleich wieder rauszustürmen, wusste Alexander nicht. Er ließ es wortlos geschehen. Erst, als die Wohnungstür ins Schloss einrastete und Alexander seine Schuhe an den Rand des Flurs stellte, drehte sich Jiro um. Sein Blick war noch immer verkniffen und deutete wenig Versöhnung an.
»Wo ist dein Handy?«, fragte er fordernd und streckte dabei sogar seine Hand aus, als würde er das Gerät einziehen wollen.
Alexander zog nur die Schultern hoch. »Ich habe keine Ahnung. Vorhin war es noch hier.«
»Du hast keine Ahnung, wo dein Handy ist? Erzähl doch keinen Müll!«, giftete Jiro, zog sein eigenes aus der Tasche und begann Alexanders Nummer zu wählen. Im Augenwinkel sah er eine Nachricht von Hiro, der fragte, ob alles in Ordnung sei oder ob sie nachkommen sollten. Er ignorierte sie und tippte weiter Alexanders Nummer.
Ein Freizeichen war zu hören, als Jiro sein Handy noch in der Hand hielt, ohne es ans Ohr zu legen. Alexander sah verkniffen in seine Richtung.
Passierte das gerade wirklich? Spielte Jiro – nach der ganzen Sex-Nummer – den Helikopter-Freund? Weil er mal für 2 Stunden Ruhe haben wollte?
Auf einmal hörte man etwas vibrieren. Es kam aus dem Wohnzimmer. Jiro ging schnurstracks den Flur entlang und betrat den Raum. Überall standen schwarze Säcke, als würde Alexander ausziehen wollen. »Was… was ist denn hier passiert?«, fragte er verblüfft und sah sich entsetzt um. »Willst du etwa umziehen?«
»Nein«, brummte der Vampir und zog sich schließlich die Kopfhörer vom Hals, die noch mit seinem iPod in der Hosentasche verbunden waren. »Ich habe ausgemistet. Frühjahrsputz… sozusagen. Im Winter. Es musste sein.«
Der Mensch drehte sich zu Alexander um und musterte ihn für einige Sekunden. Die Kopfhörer… laute Musik… viel Rumgeräume… und ein Vibrieren, das aus einem der schwarzen Säcke kam. »Dein Handy«, begann er wie überfahren, »ist in einem der Säcke.«
Alexander zog die Augenbrauen zusammen. »Anscheinend«, murmelte er und ging seufzend auf einen der Säcke zu. Er öffnete ihn, kramte wild drin rum, bis er sein Handy in der Hand hielt. Gerade ging die Mailbox an, die er wegdrückte.
Jiro stand noch immer wie bestellt und nicht abgeholt am Türrahmen und stierte in die Richtung des stämmigen Mannes, der müde und etwas genervt den Sack wieder zuschnürte.
»… Mach das nie wieder«, flüsterte der Mensch und blinzelte einige Male über seine wieder feuchtwerdenden Augen. »Ich habe mit dem Schlimmsten gerechnet.«
Ein bitteres Schnauben ertönte aus der Nase des Vampirs. »Ein großes Missverständnis also? Dann weißt du ja jetzt, was los ist. Ich putze.«
»Schön für dich, ja«, murmelte Jiro und fühlte sich auf einmal dumm. Dabei war er derjenige, der im Recht war! Er hatte sich nur Sorgen gemacht! Zwar völlig unbegründet, aber wen interessierte das? Wieso fühlte er sich jetzt dumm? Dieser Mann holte wirklich das Schlimmste aus ihm raus.
»War’s das dann?«, begann Alexander schroff zu werden. Nach allem, was passiert war, hatte er nicht erwartet, den Menschen so schnell wieder zu sehen. Ganz zu schweigen so besorgt um ihn. Und so sehr wie der Vampir den Menschen wieder in die Arme schließen wollte, so genau wusste er auch, dass er das lieber nicht tun sollte. Da war immer noch Zuneigung, aber auch Lust. Eine gewaltige Menge an Lust, die Alexander lieber für sich behalten wollte, als sie an Jiro auszulassen. Aus Angst, es würde wieder so enden, wie die Nacht zuvor. Und dass der Mensch hier bei ihm war… Ließ das Verlangen nur steigen.
»Bitte was? Du willst mich loswerden?«
»Was würdest du sonst hier wollen?«, fragte der Vampir und zuckte mit den Schultern, als wäre es das normalste der Welt anzunehmen, dass Jiro wieder gehen wollte.
Das Statement ließ den Menschen scharf die Luft einziehen. »Ich hatte eigentlich vor, mich mit dir zu vertragen. Aber du scheinst ja keine solchen Ambitionen zu haben.«
Alexander lachte bitter auf. »Weißt du…«, begann er und sah dabei sinnierend zu Boden, »Ich habe echt Mist gebaut. Und dessen bin ich mir bewusst. Ich will, dass es dir gut geht und das wird es nicht in meiner Anwesenheit. Glaube mir.«
Mit einem Mal wurde die Stimmung im Raum unerträglich drückend. Jiro hörte bereits, was kommen würde. Eine Abfuhr. Und wie zur Hölle schaffte dieser Mann das? Jiro sollte ihm eine Abfuhr erteilen und nicht andersrum!
»Wage es nicht, mit mir Schluss zu machen«, bebte Jiros Stimme auf einmal los, ehe Alexander den nächsten Satz formulieren konnte. Der Vampir sah überrascht auf und hielt inne. »Du bist nicht in der Position mir jetzt einen Korb zu geben! Nach allem, was du getan hast, solltest du auf den Knien rutschen und mich um Vergebung bitten. Stattdessen willst du mit mir Schluss machen? Vergiss es! Dieses Privileg räume ich dir nicht ein!«
»Jiro, du kannst mir nicht verbieten, mit dir -«
»Und ob ich das kann!«, giftete Jiro und spürte sein Herz wie wild in seiner Brust pumpen. Gott, war er aufgeregt. Stritt er gerade wirklich mit Alexander, dem hochnäsigen Vampir, der ihn mit nur einer Handbewegung auf den Boden drücken könnte, darüber, dass sie beide ein Paar bleiben sollten?
»Ich lass viel mit mir machen, aber das geht zu weit«, keifte der Mensch und begann seine dicke Jacke auszuziehen, um sie achtlos auf den Boden zwischen die Säcke zu werfen. »Du machst nicht Schluss mit mir. Egal, mit welchen moralischen Einwänden du mir jetzt kommst. Wir werfen das nicht hin!«
»Was tust du da?«, begann Alexander nervös zu fragen, als er Jiro auf sich zukommen sah. Er fing an sich die Ärmel hochzukrempeln.
»Wir haben uns kennen gelernt, wir hassten uns, dann haben wir uns besser kennen gelernt und jetzt lieben wir uns. Klare Sache, oder?«, spuckte Jiro die Worte wie Gift aus seinen Lippen. »Du hast mich hart rangenommen, ich war dir böse deswegen, aber ich verzeihe dir. So macht man das in einer Beziehung. Also sag brav danke und alles ist wieder gut.«
Da musste Alexander bitter auflachen. Schließlich verschränkte er die Arme vor der Brust, als Jiro vor ihm Halt machte. »Nein, so läuft das nicht. Ich bin immer noch ein Vampir, du ein Mensch. Das ist viel zu gefährlich für dich.«
»Tja, das hättest du dir vorher überlegen müssen. Jetzt ist es zu spät dafür.« Jiros Blick wurde von Sekunde zu Sekunde eiserner.
»Wovon redest du? Raffst du es nicht? Ich… Ich kann mich kaum beherrschen, wenn ich dich sehe. Ganz zu schweigen, wenn du hier – alleine – in meiner Wohnung bist! Du glaubst gar nicht, wie sehr ich an mich halten muss, um -«
Da flog die erste Faust. Jiro holte aus, traf Alexander mitten ins Gesicht und sah zu, wie der Vampir einige Schritte nach hinten taumelte.
Es dauerte einige Sekunden, bis Alexander realisieren konnte, was gerade geschehen war. Selbst Jiro sah überrascht zum Vampire.
Doch binnen einer Sekunde, verhärtete sich das menschliche Gesicht.
»Du behandelst mich, als wäre ich aus Porzellan. Und es widert mich an. Kannst du dich noch daran erinnern, wo wir uns vorm Club geprügelt haben? Hast du da auch gedacht „Oh nein, er ist so schwach und zerbrechlich, ich darf ihm nicht wehtun, sonst weint er noch“? Sicher nicht! Deine Schläge waren erste Sahne und ich dachte wirklich, ich hätte in dir jemanden gefunden, der mal standhaft ist.«
Mit diesen Worten richtete sich Jiro auf und drückte die Brust heraus. »Aber da habe ich mich wohl geirrt.«
Alexander wusste nicht, was er sagen sollte, als er die vorwurfsvollen Worte vernahm. »Hast du… vergessen, was gestern Nacht passiert ist? Habe ich dir dein Gehirn gleich mit ausgesaugt? Du hättest sterben können!«
»Das hätte ich auch bei Vincent. Und? Ich steh noch hier! Ich habe mehr auf dem Kasten, als du denkst. Du magst es also hart? Dann sei kein Weichei und zeig, dass du Eier hast. Wenn du glaubst, ich lass mich einfach so unterbuttern, hast du dich geschnitten!«
Der Vampire begann seine Ärmel ebenfalls hochzukrempeln, ohne dabei Jiro aus den Augen zu lassen. Langsam verstand er, was passierte. Der Mensch forderte ihn heraus, indem er ihm einen Spiegel hinhielt. Alexander war weich geworden – viel zu weich. Hiro hatte Recht gehabt: Er hatte tatsächlich angefangen, Jiro wie seine Prinzessin zu behandeln. Einfach aus dem Grund, weil er dachte, dass der Mensch es verdient hätte; nach all dem Schmerz und Leid, welches er im Sommer erleben musste. Er wollte Jiro in Watte packen und auf ihn aufpassen.
Aber Jiro war keine Jungfer in Nöten. Jedenfalls jetzt nicht mehr, wo Vincent tot war und der Alltag zurückgekehrt war. Alexander war übervorsichtig geworden und das schien Jiro zu stinken. Woher er allerdings die Leichtigkeit nahm, den nicht ganz einvernehmlichen Sex so schnell zu vergessen, wusste er nicht. Vielleicht war es ein Ausdruck von Stärke, der Alexander zeigen sollte, dass der Mensch einiges abkonnte und ein solcher Zwischenfall ihn nicht gleich in die Flucht schlug. Trotzdem …
»Du weißt nicht, was du da gerade provozierst …«, zischte Alexander dem Menschen zu, der sich wieder kampfbereit hinstellte, als Alexander auf ihn zukam.
»Ich denke schon. Eine ordentliche Prügelei. So wie wir sie bereits vor Monaten geplant hatten.« Ein Grinsen huschte über Jiros Lippen. Ein freches Grinsen. So dämlich, dass Alexander es ihm aus dem Gesicht schlagen wollte.
»Ich tröste dich nicht, wenn du weinst«, verspottete der Vampir den Menschen und wusste, dass er genug Widerstand geleistet hatte. Würde Jiro mit Blessuren zurückkehren und Hiro davon erfahren… Hätte er zumindest die Ausrede, dass Jiro unbedingt wollte. Ob er das glauben würde, wäre die nächste Frage gewesen.
Doch in dem Moment, wo Alexander anfing, über Dinge zu grübeln, die vielleicht gar nicht eintreten würden, spürte er bereits den zweiten Schlag im Gesicht. Gefolgt von einem dritten in die Magengegend.
Ohne zu zögern, griff er nach Jiros Arm, riss ihn nach vorne und trat ihm mit Kraft gegen den Torso. Der Mensch wankte zur Seite, hielt sich die Brust und hustete kräftig.
»Was? Nach einem Treffer schon unfähig?«, lachte der Vampir und schwang seine langen Haare nach hinten.
»Nicht mal ansatzweise«, brummte Jiro und rappelte sich wieder auf. Dass Alexander mit wesentlich mehr Kraft kämpfte, ließ Jiro unsicher werden, ob seine Stichelei nicht doch wieder etwas zu weit gegangen war. Aber ihm war nach Abreibung. Alexander mal wieder so richtig einen reinzudrücken.
Denn er war der einzige, den Jiro liebte und gleichzeitig hasste. Der einzige, der ihm die Stirn bot. Und es war ein gutes Gefühl.
Erneut ging er auf den Vampir los und schlug auf ihn ein. Alexander konterte, bekam trotzdem hier und da Kratzer und Schläge ab. Es fielen Säcke zur Seite, ein Regal wurde verschoben, CDs fielen raus und lagen verstreut über dem Boden. Die beiden Männer griffen immer wieder nacheinander und verteidigten sich, so gut es ging.
Nachdem sie sich einmal durch das komplette Zimmer geprügelt hatten, fing Jiros Ausdauer an nachzulassen. Er atmete kräftig und sah bereits kleine Sternchen vor den Augen. Sein Gesicht und sein Brustkorb taten ihm weh. Das würde ordentlich blaue Flecken geben – noch mehr als er eh schon hatte. Die Wunde an seinem Hals brannte zudem immens, sodass er glaubte, sie sei wieder aufgegangen.
Doch Alexanders Augen bebten zwar vor Aufregung, aber nicht vor Gefahr. Jedenfalls deutete der Mensch das Funkeln in der blauen Iris nicht als Blutlust.
Erneut griff er den Vampir an und pfefferte ihn gegen die Sofalehne. Alexander konnte sich nur wage auf den Beinen halten. Stattdessen grinste er amüsiert auf.
»Da geht dir wohl die Puste aus, hm?«, spottete er und fuhr sich über seine trockenen Lippen. Erst, als Jiro anfing sich gegen eine Kommode zu lehnen, bemerkte der Vampir das feine glitzern auf Jiros Haut.
Schweiß.
Der feine, leicht säuerliche Geruch stieg sofort in Alexanders Nase.
Ablecken, dachte Alexander. Ich will es ablecken. Seine Haut anfassen, glitschig und rutschig wie sie ist. Seine Hose wurde im Nu enger und er spürte die Lust in sich hochsteigen, je länger er den schwer atmenden Jiro vor sich sah.
Der Mensch nutzte Alexanders gedankliche Abwesenheit aus und attackierte ihn aufs Neue. Mit Schwung klatschte er gegen Alexanders Hals, griff sofort danach die Schultern und wirbelte ihn zur Seite.
Doch die verteidigenden Griffe des Vampirs wurden auf einmal stärker und weniger aggressiv. Stattdessen fingen seine großen Hände an, Jiros schmalen Körper gegen die Kommode zu drücken.
»Ah«, entwich es Jiro vielleicht zu laut, als er das harte, weiß lackierte Holz an seiner Hüfte spürte. Alexander begann sich wortlos zwischen seine Beine zu zwängen und ihn auf die Kommode zu heben. Mit einer schnellen Handbewegung saß der Mensch auf der länglichen Fläche der fast leergeräumten Kommode.
Jiro spürte die Hitze in ihm aufsteigen, als er Alexanders flinke Finger um sein Langarmshirt spürte. Nein, dachte er, so schnell gebe ich nicht nach!
Also begann der Mensch die weißen Hände wegzudrücken und schob Alexander von sich. Fast gewaltsam presste er sein Knie gegen Alexanders Bauch, um ihn aus der Mitte seines Schritts zu kriegen. Der Vampir verstand die abwehrende Haltung natürlich sofort als Einwand und nahm in Bruchteilen einer Sekunde Abstand.
Große blaue Augen trafen auf verwirrte Grüne.
»Sorry«, murmelte Alexander und hielt die Hände in die Höhe. Als Zeichen, dass er sich bewusst war, erneut übertrieben zu haben.
»Sorry?«, hakte Jiro nach und atmete noch immer beschwerlich, während er halb ausgezogen auf der Kommode saß. »Ein bisschen Konter und du gibst sofort auf? Beweg deinen Arsch hierher und bring zu Ende, was du angefangen hast.«
Der Vampir verstand nicht ganz, was er genau zu Ende bringen sollte, immerhin hatte Jiro ihm deutlich gemacht, dass er nicht wollte. Als einige Sekunden lang nichts geschah, raunte Jiro auf und packte Alexander beim Kragen. Gewaltsam zog er ihn wieder zu sich, umschlang seine Hüfte mit den Beinen und küsste ihn feste auf die Lippen.
Ja, dachte Jiro. Ich habe die Zügel in der Hand. Nicht du.
Alexander ließ sich für einen Moment lang wild auf die Lippen küssen, bis er aus seinem Stupor erwachte und den Menschen schließlich fest an der Hüfte packte, um ihn näher an sich zu drücken. Seine Erregung bebte erneut auf und presste sehnsüchtig gegen die enge Jeans. Wenn Jiro Sex wollte – dann sollte er ihn auch bekommen!
Kalte Hände fuhren unter Jiros Langarmshirt, zogen es hoch und zerrten es schließlich über den schwarzen Schopf. Das eine Nippelpiercing war mit einem Pflaster überklebt. Alexander musste stocken und stierte auf Jiros Brust.
»Ist es… etwa abgegangen?«, fragte er tonlos und strich über die wunde Stelle. Jiro zuckte zusammen und schloss kurz die Augen. Schließlich schüttelte er den Kopf, als er nach Alexanders Arm griff.
»Es ist noch dran. Pass das nächste Mal besser auf«, zischte er ihm zu und begann ihn erneut energisch zu küssen. Seine Finger fuhren durch das dichte, schwarze Haar und zogen an einzelnen Strähnen.
Alexander nahm die Warnung hin und begann mit der Fingerkuppe über Jiros noch heile Brustwarze zu streichen. Er spielte mit dem Stück Metall und drehte den Stab ein wenig. Jiro seufzte sehnsüchtig in den Kuss und ließ sich dabei gegen Alexander sacken.
Wild entkleidete er auch Alexander, griff dann nach der strammen Brust und knetete sie ein wenig. Der Vampir musste grinsen.
»Gefällt’s dir?«
»Sei nicht so selbstgefällig«, murmelte Jiro und verdrehte die Augen, als er an Alexanders Brustwarzen zog. Ein überraschtes Schnauben Seitens des Vampirs folgte, was der Mensch mit einem Grinsen erwiderte. »Ich bewundere nur, was mir gehört.«
»Wow«, begann Alexander empört zu lachen, »was dir gehört?«
»Ja«, bestätigte Jiro trocken und grinste schließlich zweideutig in Alexanders Gesicht. »Du stehst auf S&M? Dann fang mal an damit zu leben, dass nicht alle gleich devot in dein Bett springen.«
Es dauerte einen Moment lang, bis der Vampir das Grinsen erwiderte. »Du bist einfach nur schwer zu knacken.«
»Ich bin eben eine harte Nuss.«
Da verschlug es Alexander die Sprache. »Hast du gerade…?«
»Fick mich doch endlich, Herrgott nochmal«, rief Jiro in die sonst stille Wohnung und begann furios Alexanders Hose zu öffnen. Fast aggressiv zog er dem Vampir die Hose runter und entblößte dabei das erigierte Glied. Es drückte bereits feucht gegen Jiros eigene Beule in der Hose.
Der Mensch war aufgeregt. Er zitterte sogar. So cool und selbstbewusst wie er tat, war er gar nicht. Sex mit einem Mann – einem Vampir noch dazu – war noch immer Neuland. Letzte Nacht zählte einfach nicht, er konnte sich ja kaum an irgendetwas erinnern. Aber er spürte deutlich, dass sobald er weich werden würde, Alexander es ebenfalls wurde. Und ein weicher Alexander war ein ganz seltsamer Alexander, den Jiro nicht so sehr liebte, wie den harten, unbarmherzigen, schnöseligen und eingebildeten Vampir.
Alexander ließ sich anstandslos ausziehen und versuchte in Jiro zu lesen, ob der Sex gerade eine Verzweiflungstat, ein Versöhnungsversuch oder eine zweite Chance sein sollte. Vermutlich, so schlussfolgerte er anhand der etwas zittrigen Hände von Jiro, waren es alle drei Optionen zusammen.
Ohne weitere Worte fallen zu lassen, drückte er den Menschen mit großen Händen auf die Kommode, entriss ihm seiner engen Röhrenjeans und zog die Unterhose gleich mit. Achtlos ließ er alles auf den Boden neben dem Sofa fallen und fuhr bewundernd über Jiros glatte Haut. Nackt wie er da so auf seiner Kommode lag, überkam den Vampir erneut die innere Hitze und sein Schwanz bebte förmlich gegen das nun ebenfalls entblößte Glied von Jiro.
Ein hitziger Augenkontakt folgte, dem sich beide Männer für viele Sekunden hingaben, bis sich ihre Lippen schließlich wieder sehnsüchtig vereinten.
Alexanders Hände glitten über Jiros glitschigen Körper, bis sie schließlich nach dem menschlichen Geschlecht griffen und es einige Male feste pumpten. Der Mensch seufzte erleichtert in den Kuss und schloss sinnlich die Augen. Fast automatisch spreizte er weiter die Beine auseinander, um Alexander besseren Zugang zu geben. Nach schier endlosen Minuten, in denen Jiro sein Inneres kribbeln spürte und dem Höhepunkt gefährlich nah kam, hörte Alexander abrupt auf und entfernte sich von Jiro. Der plötzliche Verlust an körperlicher Nähe ließ ihn aufraunen. »Hey! Was tust du?«
Der Vampir grinste verschmitzt, als er zum Nachttisch ging und eine Tube samt Kondomen rausholte. »Dieses Mal machen wir es anständig«, verkündete er und kam mit den Utensilien auf den Menschen zu, der ihn perplex ansah.
Kondome und Gleitgel machten Jiro dann für einen Moment doch nervös, sodass er sich wieder aufsetzte.
»Können wir es nicht einfach tun?«, seufzte der Mensch sehnsüchtig und spielte immer wieder im Kopf ab, wie gut es sich angefühlt hatte, als der stämmige Mann ihn hart und erbarmungslos rangenommen hatte, bis er blutete. Der Gedanke allein ließ sein Glied zucken.
»Du stehst also doch auf Schmerzen?«, grinste Alexander, als hätte er Jiros Gedanken gehört, und drückte etwas Gel aus der Tube, um es kurz darauf zwischen den Fingerkuppen anzuwärmen.
Jiro zog die Augenbrauen zusammen, als Alexanders Finger sich vorsichtig an seinen Eingang herantasteten. Die blauen Augen stachen förmlich in seine, als der erste Finger in ihn rutschte.
Es tat nicht weh, ganz im Gegenteil. Es war ein seltsames Gefühl gepaart mit Verlangen nach mehr. Also konnte sich der Mensch einen fiesen Kommentar nicht nehmen lassen.
»Vielleicht«, flüsterte er schließlich leise und biss sich auf die Unterlippe, um nicht lachen zu müssen. Vanilla Sex. Auf Alexanders Kommode. Mit Alexander. Während ein Finger in ihm steckte.
Alexander sah die Mundwinkel von Jiro zucken und entzog ihm missmutig den Finger. »Ich will dir nicht wehtun.«
»Seit wann?«
»Seit… Jiro, warst du gestern Nacht überhaupt hier? Oder habe ich wen anders gevögelt?«
Der Mensch spürte die Stimmung wieder sinken. Die beiden hatten ohne Alkohol wirklich kein Feingefühl. Weder Jiro, noch Alexander.
»Doch ich war da«, seufzte Jiro entnervt und schlang liebevoll die Beine um Alexanders Hüften. Seine Hände wanderten um die breiten Schultern. »Und es war zu viel. Aber wieso gibt es denn nichts dazwischen?«
»Gibt es. Aber was, wenn das auch zu viel ist? Wann ist es zu viel? Wann muss ich stoppen?« Alexander wirkte auf einmal wieder aufgebracht und ebenso genervt, dass sie – nackt wie sie waren – ein solches Gespräch führen mussten.
»Wenn ich sage, dass du aufhören sollst. Dann sollst du aufhören!« Der Mensch verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Code-Wort: Vanilla.«
Der Vampir zog die Augenbrauen zusammen. »Wieso Vanilla?«
»Weil es genau das ist, was ich dann in so einer Situation brauche.« Damit zog er den schwarzhaarigen Mann wieder zu sich. »Aber nicht jetzt«, hauchte er gegen die kalten Lippen seines Liebhabers.
Alexander spannte den Kiefer an und musterte Jiros Gesicht eindringlich. Sie hatten ein Code-Wort – okay. Sobald es fiel, musste Alexander aufhören. Das würde er hinkriegen, oder?
»Gut, auf dein Wort«, brummte der Vampire, schnappte sich Jiros Hüften und zog ihn von der Kommode. Rittlings trug er ihn zum Sofa, wo er ihn achtlos auf den Rücken fallen ließ. Ein überraschtes Seufzen fuhr aus den Lippen des Menschen, der noch immer mit gespreizten Beinen unter seinem Freund lag.
Ein hitziger, heißer Kuss folgte, in dem Alexander immer wieder an Jiros Lippen saugte. Die leichte Platzwunde weichte auf und ließ den Vampir gierig nach dem Blut lecken. Jiro schmeckte ebenfalls etwas Metallisches und schauderte auf. Es erinnerte ihn sofort an den Biss in seinen Nacken.
Der Vampir löste sich nach mehreren Minuten von Jiros Lippen und küsste seine Schultern. Der Duft, den er dabei einsog, machte seinen Kopf nebelig. Mit leichten Bewegungen rieb er sein strammes Glied an Jiros Eingang und verteilte etwas Gleitgel über seine Eichel.
Der Mensch seufzte gelassen auf, als er Alexanders Glied zwischen seinen Pobacken spürte. Er hätte es nie zugegeben: Aber es fühlte sich gut an. Sehr gut sogar.
Ohne Vorwarnung glitt Alexander in Jiro ein. Der krallte sich an Alexanders Schultern fest und kniff die Augen zusammen, als ihm ein lautes Stöhnen aus den Lippen glitt.
»Alex!«, raunte er auf und legte den Kopf in den Nacken. Er fühlte sich ausgefüllt und warm. Oh, es war so gut!
Der Vampir wartete nicht lange und fing an sich ruppig in Jiro zu bewegen. Das Gleitgel machte alles etwas rutschiger und ließ den Akt weiteraus angenehmer von statten gehen, als die Nacht davor. So genoss auch der Mensch die feste Penetration. Immer wieder klatschte die Haut der beiden Männer aufeinander, während leises Stöhnen durch den Raum glitt.
Alexander krallte sich am Leder des Sofas fest und stieß so feste er konnte in den Menschen rein. Dabei musterte er das von Piercings übersäte Gesicht genau. Wie die Augen geschlossen waren, leichte Tränen sich am Rand bildeten und der sinnlichen Lippen von Speichel benetzt offen standen und das Zungenpiercing deutlich durchscheinen ließen.
Ja, dachte der Vampir, genau so wollte er ihn immer sehen. Unter sich, in völliger Ekstase.
In dem Moment, wo Alexander langsam seine große Hand um Jiros Hals legen wollte, hörte er ein Handy auf dem Boden vibrieren. Er stoppte in seinen Bewegungen, als Jiros Augen aufschlugen.
»Wer«, begann er heiser und völlig außer Atem, »Wer ist es?«
Alexander lehnte sich vom Sofa und kramte in Jiros Hose, bis er das vibrierende Handy herausfischte. Er starrte aufs Display und grinste.
»Hiro.«
Jiro raunte auf, während er sich über die schwitzige Stirn fuhr. »Hab vergessen ihm zu schreiben …«
»Na, dann«, begann Alexander, nahm das Gespräch an und drückte das Handy in Jiros Hände.
Der wusste nicht, wie ihm geschah, nahm wackelig das Telefon an und starrte auf das Display. Erst als Hiros Stimme durch den Lautsprecher kam, riss er seine Augen auf.
»H-Hiro«, begann er mit zittriger Stimme und räusperte sich. »H-Hi!«
Alexander verstand nicht viel, was Hiro sagte, begann aber wieder nach Jiros Hüften zu greifen und sich langsam in ihm zu bewegen. Der Mensch entließ heiße Luft aus seiner Nase und stierte mit finsterem Blick zum Vampir hoch. »Lass es« stand ihm groß ins Gesicht geschrieben.
Doch der Vampir machte ungeniert weiter. Er bewegte sich ausgiebig im Menschen, bis er seinen alten Rhythmus wiederfand. Jiro strengte sich immens an, nicht ins Telefon zu stöhnen.
»Jiro? Alles klar bei dir?«, fragte Hiro am anderen Ende. »Geht es Alexander gut?«
»Mhm«, bestätigte Jiro mit geschlossenen Lippen und kniff die Augen zusammen, während Alexander sich leidenschaftlich in ihm bewegte.
»Ja? Geht es… dir gut?« Hiros besorgte Stimme hallte in Jiros Kopf wider.
»Ja …«, seufzte er schließlich ins Telefon und atmete schwer aus.
Alexander grinste, als er Hiro doch kurz durch den Lautsprecher verstand: »Du hast gerade Sex, oder?«
Der Mensch kniff erneut die Augen zu und murmelte irgendetwas von »Ich ruf dich zurück«, nur um dann das Handy auf den Boden gleiten zu lassen.
Benebelte grüne Augen öffnete sich und sahen Alexander rügend, gleichzeitig lustvoll an. Der Vampir konnte es sich nicht nehmen und hämisch grinsen.
Ohne weitere Worte zu verlieren, gaben sie sich dem Sex hin, während Jiro keuchend und stöhnend unter Alexander lag. Schließlich spürte er seinen Höhepunkt kommen und hielt die Luft an, während der Vampir erbarmungslos in ihn hinein rammte. Das leichte Schwindelgefühl, welches in dem Moment eintrat, wo der Orgasmus ihn überkam, ließ ihn auch danach kaum los. Alexander bewegte sich weiter angeregt in Jiro, griff immer wieder nach seiner Hüfte, stieß heftig zu und fixierte dabei das noch angespannte Gesicht.
Nach wenigen Minuten, in denen Alexander dachte, er könnte noch Stunden so weitermachen, spürte er seinen eigenen Höhepunkt kommen und kam schließlich in Jiro.
Völlig außer Atem begrüßte der Mensch den Vampir in seinen Armen und umschlang ihn feste. Nach gefühlten Minuten, streichelte Jiro über den breiten Rücken.
»Du hast es nicht so mit Kondomen, oder?«, murmelte Jiro belustigt und starrte dabei an die weiße Decke. Sie hatten es getan. Ein zweites Mal. Zwar mit Anlaufschwierigkeiten, aber ohne Schmerzen.
»Du warst so ungeduldig…«, brummte Alexander und richtete sich ein kleines Stück auf, um in Jiros Augen zu sehen. »Ich wollte die Stimmung nicht noch weiter damit killen.«
»Ich gehe also mal davon aus… dass es auch in Zukunft nicht nötig sein wird, ein Kondom zu benutzen?«
Die eigentliche Frage, die hinter Jiros Vermutung stand, ließ Alexander aufschnauben. »Du denkst also, ich übertrage hier Krankheiten?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt.« Damit verdrehte der Mensch die Augen. »Ich will es lediglich angesprochen haben. Denn ich bin clean, das weiß ich, weil ich Blut spenden gehe. Könnte ich ja nicht, wenn ich was hätte.«
»Blutspenden?«, hakte Alexander neugierig nach.
»Etwas Nettes für Menschen tun, ja«, seufzte Jiro und ließ die Arme wie Pudding auf das Sofa gleiten.
»Spende dein Blut lieber an mich, ich brauche es auch«, säuselte der Vampir und kicherte dunkel gegen Jiros Hals.
»Mal schauen«, kam es aus schmalen Lippen. Nach einigen Sekunden der Stille, griff der Mensch das vorherige Thema noch einmal auf. »Ich vertraue dir Alex«, kam sanft aus seinen Lippen, während er Alexanders Haare vorsichtig aus dem Nacken strich.
»Das kannst du auch. Ich rieche, wenn jemand krank ist. Und bisher habe ich es nur mit Kondomen getan.«
Das ließ Jiro eine Augenbraue hochziehe. »Ach?«
Alexander nickte stumm und sah beschämt zur Seite. »Dass ich mich gestern so hab gehen lassen, ist mir vorher noch nie passiert. Kannst du mir glauben.«
Jiro grinste. »Irgendwie glaube ich es dir tatsächlich.« Vorsichtig strich er über die glatt rasierte Wange. »Und irgendwie macht es mich stolz, dass ich so einen Einfluss auf dich habe.«
»Alter, das war echt eklig«, spottete Hiro, als sie gemeinsam im Wohnzimmer saßen. Kiyoshi verkniff sich ein Lachen, während Jiro mit blutroten Wangen auf dem Sofa saß; die Hände im Schoß.
Alexander hatte ihn nach ihrem heißen Sex auf der Kommode und dem Sofa wieder nach Hause gefahren. Er wollte seine Wohnung noch weiter aufräumen und machte sehr deutlich, dass Jiro dabei nur stören würde – da Alex vermutlich alle halbe Stunde ihn anfallen und damit nichts schaffen würde. Also trennten sich die beiden wieder.
»Sorry, Hero, echt.« Die Entschuldigung kam aus tiefster Seele. Vermutlich hätte Jiro, wäre es umgekehrt gewesen, genauso reagiert. »Alex hat das Gespräch ohne mein Wissen angenommen.«
Sein bester Kumpel verdrehte die Augen und sah schließlich kopfschüttelnd aus dem dunklen Fenster. Es war bereits Abend geworden und das Essen wurde gerade von Mamoru aufgetischt.
»Ihr habt euch also wieder vertragen?«, hakte Hiro nach, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen.
»Ja«, bestätigte Jiro knapp und presste die Lippen aufeinander. Kiyoshi grinste ihn einfach nur an, während er neben seinem Bruder saß.
»Und – wie ist der Sex so? Wenn er dich mal nicht vergewaltigt?«
Das ließ nicht nur Jiro seufzen. »Hiro …«, säuselte Kiyoshi neben ihm und drückte mit der blassen Hand sein Knie. »Fang nicht so an. Es war ein Unfall.«
Hiro knurrte nur, verschränkte schließlich die Arme und schnaubte aus. Als Jiro nichts antwortete, sah er ihn eindringlich an. »Also?«
Der Mensch zuckte zusammen und hob die Schultern, als wüsste er nicht, was er darauf antworten sollte. »Gut?«
»Klingt ja nicht so«, bemerkte Hiro spitz.
Jiros Wangen färbten sich abermals rosa. »Ich habe keinen Vergleich. Aber es gefällt mir. Und Alex auch. Ich denke, wir haben unser Mittelding gefunden.« So in der Art jedenfalls, korrigierte Jiro in seinem Kopf und seufzte leise. Die anfänglichen Schwierigkeiten, das ständige Gezeter und der stetige Kampf um die Oberhand ließen den Menschen noch nicht ganz so rosig in die Zukunft sehen. Doch er schöpfte Hoffnung. Besonders ihr Abschied machte den Menschen glücklich. »Wir gehen morgen essen. Toll, nicht?«
Sowohl Kiyoshi, als auch Hiro sahen ihn überrascht an. »Essen? In ein Restaurant?«, hakte dein bester Freund nach.
»Ja, Alex will mich einladen. Er meinte zwar als Widergutmachung, aber er murmelte auch etwas von „Paarsachen“ machen.« Da kicherte Jiro auf. »Das war irgendwie süß. Also wieso nicht? Zum Essen lasse ich mich gerne einladen.«
»Dir ist schon klar, dass Alex dich in keine Burger Bude schleppen wird? Sondern in ein nobles Vampir-Restaurant?« Hiros Worte ließen Kiyoshi zusammenzucken.
»Es gibt eigentlich nur ein Restaurant, in das sowohl Menschen, als auch Vampire gehen. Und das gehört der Academy.«
»Also eigentlich unserem Dad«, seufzte Hiro und knetete seine Schläfen. »Viel Spaß, Jiro. Mach’s Beste draus.«
Der Mensch wusste darauf nichts zu antworten. Schließlich wurden alle zu Tisch gebeten, wo eigentlich nur er und Ai etwas Nahrung zu sich nahmen.
Später am Abend, kurz bevor Jiro ins Bett wollte, stand er vor dem großen Spiegel im Badezimmer und musterte sein Gesicht. Wenn es so ein nobles Restaurant werden würde – auch noch im Besitz der Academy, wovon er mittlerweile wusste, dass es die Instanz schlechthin zwischen Vampiren und Menschen war, sollte er sich dann wirklich so präsentieren?
Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er an seinem Aussehen. Bisher kannte er solche Situationen nicht. Er mied Festivitäten, zu denen man schick gekleidet kommen sollte. Er mied Menschen, die nur Designerkleidung kannten. Er mied generell Situationen, in denen er mit seinen Piercings und Nieten auf absolute Ablehnung stoßen würde. Auf der Straße war es ihm egal – er kannte die Menschen nicht. Aber Alexander kannte er.
Er kannte die Academy.
Er kannte die Zwillinge und ihre Familie.
Er stand also mitten drin.
Drauf scheißen war keine Option. Er musste sich biegen. Für diesen einen Abend. Zum Wohle von Alexander und seinen Freunden.
So leicht, wie sich Jiro die Beziehung vorgestellt hat, war es nun doch nicht. Hätte Alexander den totalen Nachtrhythmus oder würde sich alle paar Stunden mal in eine Fledermaus verwandeln; ja, das wären Sachen, mit denen würde Jiro leichtfertig umgehen. Selbst das Blutsaugen war in Ordnung. Er hatte sich an die Blutkonserven gewöhnt. Oder an die Tabletten.
Aber an den noblen, schicken und hochgestochenen Umgang zwischen Vampiren, würde Jiro noch lange zu knabbern haben.
Am nächsten Morgen spürte Jiro seine Aufregung steigen. Er frühstückte kaum und saß im Grunde für mehrere Stunden einfach nur am Tisch und scrollte durch sein Handy, bis keine Social Media App ihm mehr was bieten konnte.
»Na? Aufgeregt?«, spottete Hiro belustigt und setzte sich zu seinem Kumpel.
»Frag nicht«, murmelte Jiro als Antwort und schob sein Handy in die Hosentasche. »Ich bin froh, dass ich mir neue Schuhe gekauft habe.«
Sein bester Kumpel schmunzelte amüsiert. »Hast du denn auch ein Hemd? Also ein zweites? Oder sollen wir dir das vom Feiern waschen?«
»Ich habe noch eins dabei… «
»Auch eine Stoffhose?«
»Wir gehen auf keine Hochzeit! Eine schwarze Jeans wird ja wohl in Ordnung sein!«
Da zuckte Hiro die Schultern. »Keine Ahnung, ich war da auch noch nie. Vielleicht geht Alex ja doch mit dir eine Burgerbude.«
»Nein«, seufzte Jiro und schüttelte den Kopf, »Hab ihn gestern Abend noch gefragt. Es ist das Restaurant in der Altstadt. Hab den Namen schon wieder vergessen.«
»Vermutlich ist es das, ja. Schade, Jiro! Sieht so aus, würde Alex dich ja doch noch dazu bringen, brav zu werden!« Da lachte der Weißhaarige finster auf und kugelte sich förmlich auf dem Stuhl. »Erst die Augenbraue, bald alles andere.«
»Auf keinen Fall«, brummte Jiro. »Dafür mag Alex meine Piercings zu sehr.«
Da verstummte der Vampir. »Ach, echt? Er mag sie?«
Ein Grinsen machte sich auf Jiros Lippen breit. »Sehr sogar.«
»Okay, ich hör auf zu fragen.« Damit erhob sich Hiro und wedelte Jiro zu. »Wenn du heute Abend weg bist, machen Kiyoshi und ich was mit den anderen aus der Academy. Schreib mir, wenn wir dich irgendwo abholen sollen.«
»Danke«, nickte der Mensch und lächelte. »Alex wird mich bestimmt fahren.«
»Hmh«, nickte Hiro und ging schließlich aus dem Zimmer. Man verstand nur noch ein undeutliches »Hoffentlich benimmt er sich.«
Nachdem er bereits um 16 Uhr anfing, sich fertig zu machen, stand er kurz vor 18 Uhr wieder vor dem großen Spiegel und betrachtete sein Gesicht.
Seufzend und mit einem Stechen in der Magengegend begann er seine Piercings aufzuschrauben. Jedes einzelne wurde aus der Haut gezogen.
Lippen, Nase, selbst Zunge. Er würde essen – also den Mund aufmachen. Sollte jemand genauer hinschauen, würde er das Piercings sehen.
Auf einmal wurde Jiro sogar so unsicher, dass er überlegte, ob er auch die anderen rausnehmen sollte. Die, die eigentlich unter der Kleidung lagen und niemanden stören sollten.
Doch ehe er sich für oder gegen die Piercings entscheiden konnte, klingelte es bereits an der Haustür. Schnell öffnete Jiro die Tür und hörte bereits Mamoru den jungen Vampir begrüßen.
»Guten Abend Junger Herr von Hofstätt«, begrüßte der Butler den schwarzhaarigen Vampir in einem Singsang.
Alexander schien nur genickt zu haben, da Jiro ihn nichts sagen hörte. Stattdessen schnappte er sich schnell sein Handy und sein Portemonnaie, steckte beides in die Hosentasche seiner schwarzen Jeans und hechtete nach unten.
Dort stand er an der Tür und wartete legere am Türrahmen. Ein schwarzer Trenchcoat, vermutlich tausende Yen teuer, lag absolut maßgeschneidert über dem ebenfalls maßgeschneiderten Anzug. Er ist viel zu schön für diese Welt, dachte Jiro und blieb für einen Moment im Empfangsraum stehen, um Alexander weiter zu betrachten. Ein so schöner und reicher Mann wartete hier auf ihn und wollte ihn zum Essen einladen. Jiro fühlte sich auf einmal wie eine Prinzessin.
Eine Prinzessin, die des Prinzen nicht ganz würdig war.
Der Mensch fühlte sich komplett underdressed und kam genierend auf den Vampir zu, der ihn mit großen Augen anstarrte.
»Hi, Alex«, rang sich Jiro zu einem Lächeln und sah schließlich in die eisblauen Augen.
Alexander hingegen starrte ihn an, als hätte er sich an der Tür geirrt.
»Jiro«, begann er leise und streckte seine weiße Hand aus. »Wo sind deine Piercings?«
»Hab sie rausgenommen. Da, wo wir hingehen, ist das bestimmt nicht so gerne gesehen.« Der Blick des Menschen trübte sich schlagartig, sodass er gen Boden sah. »Außerdem will ich dir keinen schlechten Ruf bescheren. Dass du mit so jemandem wie mir rumläufst.«
Alexanders Ohren fingen bei den Worten an zu klingeln. »Mein Ruf? Wir gehen essen, Jiro. Wer auch immer dort sein wird, kann meinen Arsch lecken, wenn er meint, sich ein Urteil über uns bilden zu wollen.« Da seufzte der Vampir langatmig auf. »Meine Familie und ich genießen einen Status, den du vielleicht nicht zu fassen verstehst. Aber dann zeige ich ihn dir heute. Und das nächste Mal gehst du bitte wieder so, wie ich dich kenne.«
Schließlich schnappte der Vampir seinen Freund und schleifte ihn zum Auto. Jiro sah Hiro und Kiyoshi noch am Fenster winken, welches er schnell erwiderte.
Der Schnee hatte nachgelassen und die Straßen waren wieder frei. Jiro hätte nicht dankbarer sein können – denn er fühlte sich weitaus sicherer, wenn weder Glatteis noch Schneesturmgefahr herrschte.
Doch als er vor Alexanders Wagen stand, war er sich um seiner Sicherheit nicht mehr so sicher.
»Was ist das«, bekam er tonlos aus den Lippen.
Der Vampir hingegen öffnete wie selbstverständlich die Tür und wartete, dass Jiro einstieg. »Ein Auto?«, fragte er scheinheilig.
»Wo ist dein altes? Dein BMW?«
»Den fahre ich nur, wenn es schlechtes Wetter ist oder ich nur eben was einkaufen gehen muss. Den hier fahre ich, wenn das Wetter besser ist und etwas Besonderes ansteht. Und du wirst mir wohl Recht geben, dass wir heute Abend nicht einkaufen gehen.«
Jiros Blick wanderte skeptisch über den schwarz-glitzernden Lack des Sportwagens. Er hatte keine Ahnung von Autos, aber der Wagen sah teuer aus. Enorm teuer.
»Es ist ein Lamborghini Aventador, falls dich das interessiert«, erklärte der Vampir und hielt noch immer die Tür auf. »Schau ihn dir doch mal von innen an. Er wird dir gefallen.«
Missmutig und sich immer kleiner fühlend, stieg Jiro schließlich ein und setzte sich in den engen, roten Ledersitz. Modernste Technik strahlte ihn an. Darunter ein riesiger Bildschirm.
Alexander stieg mit schnellen Schritten neben ihm ein und startete den Motor. Ein dunkles Knurren kam aus dem Auto, bis es sich schließlich unter Alexanders Führung bewegte.
»Ein… gewaltiges Auto«, stimmte Jiro zu und fuhr bewundernd über die Armatur. »Hast du noch mehr Autos?«
»Kann man so sagen. Einige gehören meinen Eltern, aber den hier habe ich mir selber gekauft«, verkündete er Stolz und nahm die Kurven etwas zu sportlich für Jiros Geschmack. Aber dafür war das Auto vermutlich gedacht. Für sportliches Fahren.
Der Mensch verkniff sich jeglichen Kommentar und sah mit hochgezogener Augenbraue aus dem Fenster.
Sicher wollte der Vampir nur einen auf dicke Hose machen. Wieso sollte er sonst mit so einer Karre vorfahren? Um Jiro zu beeindrucken? Da musste Alexander aber noch einiges lernen. Denn mit so etwas würde man Jiro nicht kriegen. Ganz im Gegenteil. Ihm war nach Fliehen zumute.
Alexander fuhr mit dem Auto wie ein Rennprofi und zischte auf der Landstraße an allen vorbei. Der Mensch hielt sich krampfartig an der Tür fest.
Als sie schließlich in der Altstadt ankamen, parkte er einfach vor dem Restaurant.
»Darfst du hier stehen?«, fragte Jiro unsicher nach, da sie mitten auf einem gepflasterten Platz in der Altstadt standen. Offensichtlich kein Parkplatz.
»Selbstverständlich«, kicherte Alexander dunkel auf und stieg aus dem Wagen. Schnell ging er um die Karosserie und öffnete Jiro die Tür, der sie bereits schon halb offen hatte. Mit großen Augen blickte der Mensch hoch.
»Ich bin keine Frau«, murmelte der Mensch spitzzüngig und kniff die Augen zusammen.
»Glaube mir, das weiß ich mittlerweile.« Alexander konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. »Obwohl deine Schläge nah an einer Frau dran sind.«
»Ach? Soll ich dir nochmal eine Kostprobe geben?«, raunte Jiro auf, als er schließlich neben Alexander stand, der die Autotür passiv-aggressiv zuknallte.
»Nur zu«, hauchte der Vampir sinnlich gegen Jiros Lippen und presste ihn gegen die Autotür.
Nervös rutschte Jiro zur Seite. Doch ehe er etwas sagen konnte, hörte er einen Mann vom Restaurant aus rufen.
»Herr von Hofstätt! Schön, dass Sie uns beehren!« Der Mann, der offensichtlich Kellner oder Bediensteter im Restaurant war, verbeugte sich tief und lächelte enorm höflich.
Alexander ließ süffisant grinsend von Jiro ab und ging selbstbewusst zum Eingang. Mit einer leichten Handbewegung warf er dem Mann seinen Schlüssel zu. »Kümmern Sie sich drum.«
Der harsche Ton ließ Jiro zusammenzucken. Es war, als würde Alexander hier öfter verkehren. Als würde ihm der Laden gehöre, nicht dem Vater der Zwillinge.
Jiro folgte recht missmutig und sah sich verstohlen um, als er im großen Empfangssaal stand, wo mehrere Kellner wartende Pärchen abholten und zu ihren Tischen führten. Ein riesiger Kronleuchter hing in der Mitte des Raumes. Alles war aus hellem Marmor. Es roch süßlich, wie in einer Bäckerei. Und die Menschen, vielleicht auch viele Vampire, sahen allesamt schön und gepflegt aus. Teure Kleidung hing an ihren perfekten Körpern. Alexander unterhielt sich kurz mit einer Empfangsdame und lächelte sie charmant an. Er fügte sich dem Bild perfekt ein.
Nur Jiro nicht.
Der stand inmitten des Raumes, sah sich argwöhnisch um und bekam Gänsehaut, wann immer ihn ein missbilligender Blick streifte. Einzelne Nackenhaare stellen sich ihm auf, wenn er das teure Ambiente um sich herum sah. Wie gut, dass er die Piercings rausgenommen hatte. Wie gut, dass er Lederschuhe trug. Wie gut, dass er generell aussah wie jeder andere normale Teenager. Alexander war verrückt zu glauben, sie hätten ihn nicht gleich wieder hochkant rausgeschmissen, wäre er so erschienen, wie er auch sonst rumgelaufen wäre.
Der schwarzhaarige Vampir gab seinen Trenchcoat ab und kam auf Jiro zu. Vorsichtig streifte er die Daunenjacke von seinen Schultern. »Die geht zur Garderobe. Dann gehen wir in unser Séparée«, verkündete er mit noch immer einem Lächeln auf den Lippen und reichte der Empfangsdame Jiros Jacke. Es war, als wäre er endlich mal wieder in dem Umfeld, welches er gewohnt war.
»Séparée? Wir sind dann also für uns?«, fragte er leise und stellte sich dicht an seinen Freund.
»Ja. Ist das nicht gut?«, hakte Alexander nach und hob eine Augenbraue. »Gefällt es dir hier nicht? Dann gehen wir wieder.«
Die direkte Art von Alexander stieß in Jiro auf einen weichen Kern. Doch der Mensch schüttelte nur den Kopf und lächelte so gut es ging. »Nein, wir bleiben. Ich will dich besser kennen lernen. Dazu gehört dann auch diese Welt.«
Der Vampir schwieg. Seine Miene wurde schlagartig ernst und er musterte das ebene Gesicht des Menschen. Bis auf einige Kratzer und die kleine Wunde an der Lippe, war die Haut makellos. Dass der Mensch jedoch auf einmal so zahm wurde, passte ihm weniger.
Noch ehe er Jiro einen intensiven Kuss auf die Lippen drücken konnte, wurde er von der Empfangsdame ins Séparée geleitet. Der Mensch folgte nur langsam.
Sie wurden durch den großen Speisesaal geführt, wo runde Tische mit viel Abstand zueinander standen. Alle mit weißen Tischdecken und Weingläsern bestückt. Viele Gäste unterhielten sich amüsiert, lachten und aßen das teure Essen. Vermutlich kostete ein Menü so viel wie Jiro in einem Monat beim Zeitungsaustragen verdient hatte.
Schließlich erreichten sie einen Gang, wo viele Schiebetüren zu Wintergärten führten. Einer davon gehörte wohl ihnen. Die Frau schob die milchige Tür auf und ließ sowohl Alexander als auch Jiro eintreten. Ein großer, runder Tisch mit schön gefalteten Servietten stand inmitten eines geräumigen Raumes, dessen Dach und Fensterfront aus Glas bestanden. Man konnte den Sternenhimmel und die Schneelandschaft sehen, während man einen teuren Wein genießen konnte.
»Wow«, entfuhr es Jiro und sah sich bewundernd um. Er war kein Freund von noblen und nutzlosen Dingen, aber das Ambiente – so musste er gestehen – war atemberaubend schön.
»Unsere Speisen entnehmen sie bitte Ihren elektronischen Karten am Tisch. Sollten Sie gewählt oder einen Wunsch haben, drücken Sie einfach auf den Knopf an der Seite des Tisches«, erklärte die Dame höflich und verschwand schließlich wieder aus der Tür. Stattdessen kamen zwei Butler rein und schoben die Stühle zur Seite, damit Alexander und Jiro sich setzen konnte.
Das killt wieder alles, dachte Jiro und zog scharf die Luft ein. Der Vampir hingegen nickte den beiden Männern höflich zu, knöpfte sich das Jackett auf und setzte sich auf die üppig gepolsterten Stühle. Jiro zögerte für einen Moment, tat es seinem Freund dann ohne einen spitzen Kommentar loszuwerden gleich. Die Butler waren freundlich, schoben die Stühle an, reichten ihnen sogar die Tablets in die Hand und schenkten Wasser ein.
Erst, als Alexander beiden zunickte, verschwanden sie aus dem Raum und schlossen die Tür.
Jiro legte sofort das Tablet weg und ließ sich im Stuhl sinken. »Wie hältst du das aus? Das ist ja so unfassbar steif! Mir tun die Knochen nur vom Zusehen weh.«
Der Vampir hob erstaunt beide Augenbrauen. »Versteift?«, hakte er nach und ging die letzten 10 Minuten gedanklich durch.
Er empfand nichts versteift. Das Personal war höflich und freundlich, so wie er es in einem noblen Restaurant erwarten würde. Was wäre es denn für ein Laden, wenn man sich wie die Schweine am Trog fühlen würde?
Als Jiro keine weitere Antwort auf seine indirekte Beschwerde bekam, verdreht er die Augen und nahm das Tablet wieder in die Hand, um in der Speisekarte zu wischen. »Vermutlich putzen sie dir auch noch den Hintern ab, wenn man fragt.«
»Für Geld machen sie sicher vieles«, grinste Alexander vertieft in der Speisekarte. »Genieß es, bedient zu werden.«
»Ich möchte aber nicht bedient werden. Jedenfalls nicht so. Ich kann mir den Stuhl selber herausziehen und ein Tablet in die Hand nehmen«, spottete der Mensch und erspähte sehr viele Sternchen neben den Gerichten. Auf der letzten Seite wurde dann erklärt, was das Sternchen bedeutet: »Wählbar mit zusätzlichem Inhalt«, las er leise vor und zog die Augenbrauen zusammen.
Ja, dachte Jiro, da muss man nicht lange überlegen, mit welchem Inhalt.
Schließlich legte er die elektronische Speisekarte wieder zur Seite und sah aus dem großen Fenster. Die Schneelandschaft wirkte beruhigend. Und erst jetzt bemerkte er die leise Musik aus den Lautsprechern. Sein Blick wanderte über Alexander, der immer noch vertieft in der Speisekarte war.
»Bedient zu werden ist Teil des Service hier. Wenn es dir zu viel ist, sag es dem Personal. Es wird dann dementsprechend handeln«, murmelte der Vampir und kratzte sich gedankenverloren am Kinn.
»Hast du etwa auch Personal zu Hause? Bei deinen Eltern?«, hakte Jiro nach und stierte in die Richtung seines Freundes. Blaue Augen sahen überrascht auf.
»Selbstverständlich.«
»Selbstverständlich«, wiederholte Jiro amüsiert und konnte sich ein fassungsloses Lachen nicht unterdrücken. »Natürlich, wie vermessen von mir zu denken, du hättest keine Leibeigenen.«
»Hey, was glaubst du ist Mamoru bei den Zwillingen? Der Nachbar?«
»Ja, ja, schon verstanden. Personal eben…«
Alexander hatte Recht. Hiro hatte auch einen Butler, der den Haushalt erledigte. Und wahrscheinlich gab es auch noch einen Gärtner. Einen Innenarchitekten. Persönliche Friseure und Handwerker. Das Leben der Reichen war in der Tat ein völlig anderes. Wie Hiro es wohl schaffte, damit umzugehen? Er wirkte nicht unglücklich. Ganz im Gegenteil: So wie er Mamoru manchmal rumschickte, schien er sich bereits sehr gut daran gewöhnt zu haben.
Ob Jiro auch irgendwann mal so werden würde? Wie die Leute im großen Speisesaal? Hochwertig angezogen mit Alexander am Arm? Wie sie beide aus ihrer Luxus-Karre steigen und dann schick essen gehen, während sie ihren Chardonnay genießen?
Als ein Butler ungefragt wieder in den Raum trat und beiden Männern einen Wagen präsentierte, auf dem etliche Wein- und Schnapssorten standen, musste Jiro resigniert auf die große Flasche Chardonnay schauen.
Bis auf die hochwertige Kleidung, dachte Jiro, bin ich bereits wie die anderen.
Alexander bemerkte Jiros Blick auf die große Flasche. Mit einer Handbewegung deutete er dem Kellner an, dass er die Flasche auf den Tisch stellen und gehen sollte.
Der Butler tat wie ihm befohlen – öffnete die Flasche und stellte sie in ein kühlendes Gefäß – und verschwand, ohne ein Wort gesprochen zu haben, wieder aus dem Raum.
Jiro musterte die Flasche eindringlich. »Wolltest du den Wein?«
»Nein, aber du hast ihn so angestarrt. Ich dachte, du willst ihn vielleicht.«
Der Mensch wägte ab, gestikulierte schließlich zu Alexander und schob ihm sein Glas entgegen. »Dann gib mir was von dem teuren Wein. Er schmeckt bestimmt gut.«
Das ließ den Vampir auflachen. Seine längeren Schneidezähne blitzten dabei im faden Licht des Séparées. »Ich dachte, du lässt dich nicht gerne bedienen?«
»Oh«, grinste Jiro und schob das Glas noch ein Stück mehr zu Alexander, »von dir schon.«
Ohne weitere Worte zu verlieren, stand Alexander auf, nahm sich eine Stoffserviette vom Tisch und wickelte sie um die Flasche. Er stellte sich mit einem breiten Grinsen neben Jiro und begann in das Glas zu schütten. Gekonnt behielt er eine Hand hinter seinem Rücken. Schließlich stoppte er, obwohl das Glas nicht einmal zur Hälfte gefüllt war.
Erwartungsvoll beobachtete er seinen Freund, der verwundert zum Glas schaute.
»Mehr nicht?«, fragte er leise und sah zu Alexander hoch. Der grinste noch breiter und schüttelte sanft den Kopf, sodass seine schwarzen Wellen von der Schulter glitten.
»Man bekommt immer erst nur einen Schluck zum Probieren. Dann trinkt der Gast. Wenn es ihm mundet, schenkt der Kellner nach und man bekommt das Glas gefüllt – in einer sozial angesehenen Höhe. Also nicht bis zum Rand. Die Flasche wird dann gekühlt zurückgestellt«, erklärte Alexander hochnäsig und tat so, als würde er das Regelbuch in Persona sein.
»Tolle Etikette«, brummte Jiro, nahm das Weinglas und nippte an der hellen Flüssigkeit. Wie kann man Weintrinken zu einem solchen Ereignis machen? Für ihn war Wein immer in billigen Flaschen am See geflossen. Oder vor einer Kneipe. Oder vor einem Supermarkt. Oder bei Hiro zu Hause. Da stand nie die Frage im Raum, ob der Wein auch tatsächlich schmecken würde.
Doch Alexander wie einen Kellner neben sich stehen zu sehen, mit der Flasche Chardonnay in der Hand und der höflich gebeugten Körperhaltung gefiel ihm weitaus mehr als einer der beiden Butler. Also spielte der Mensch das kleine Spielchen mit.
Als Jiro das Glas wieder absetzte und sich der süßlich, herbe Geschmack von Weißwein im Mund breit machte, lächelte Alexander ihn wissend an. »Darf ich also nachschenken?«
Der Mensch räusperte sich, nickte vielsagend und schob Alexander sein Glas hin. Gekonnt schüttete er ihm dieses Mal mehr ein und stellte die Flasche schließlich wieder zurück in den Kühler. Noch bevor er wieder zurück zu seinem Platz gegenüber von Jiro gehen konnte, beugte er sich vor und küsste die zarten und vom Wein feuchten Lippen.
Jiro schloss die Augen und ließ es geschehen. Sie waren alleine, richtig? Wenn nicht wieder irgendein dummer Kellner reingeplatzt käme, könnten sie es theoretisch auf dem runden Tisch treiben. Hemmungslos.
Als der Kuss zu enden drohte, zog Jiro an Alexanders Hemdkragen und drückte ihn wieder feste an sich.
Seit wann war er so erpicht auf Sex? Sex mit einem Mann noch dazu?
Alexander hatte etwas Magisches an sich. Etwas, was man unbedingt haben wollte. Was man einnehmen und in sich führen wollte. Etwas Großes, Breites und –
»Jiro«, murmelte Alex schließlich und löste sich vom Menschen. »Bestellen wir, okay?«
Mit diesen Worten ging er zurück zu seinem Platz und drückte den Knopf am Rande des Tisches. Der Mensch sah überfahren auf die weiße Tischdecke, bis er grüne Punkte sah. Was war nur in ihn gefahren? War es Alexanders vampirische Aura, die ihn so verrückt werden ließ? So extrem hatte er es gar nicht in Erinnerung gehabt…
Es dauerte nicht lange, da kamen wieder ein Butler herein und wartete wortlos auf die Bestellung. Alexander ergriff das Wort und deutete auf sein Tablet. »Mit Zusatz bitte.«
Jiro sah noch immer auf die Tischdecke. Ein Gefühl der Scham machte sich breit, als er sowohl Alexanders Augen, als auch die des Butlers auf seinem Gesicht spürte. Die Hitze stieg ihm sofort in die Wangen.
»Für ihn das Steak mit Kartoffeln«, murmelte Alexander schließlich, nachdem auch nach mehreren Sekunden nichts um Jiro geschah. »Ohne Zusatz.«
Der Butler nickte, verbeugte sich und ging leise aus dem Raum. Als die Schiebetür sich schloss, musste Alexander grinsen.
»Was ist los? Keinen Hunger?«
Der Mensch sah vorsichtig hoch und traf die eisblauen Augen, die ihn neugierig anstierten.
»Doch«, hauchte Jiro und lehnte sich etwas über den Tisch, um nähe an Alexander dran zu sein. »Aber nicht auf Steak mit Kartoffeln.«
Der Vampir beobachtete die grünen Augen, wie sie langsam über seine Figur wanderten und schließlich an seinen Lippen hängen blieben. Tat Jiro gerade wirklich das, was er vermutete? Was er sich immer gewünscht hatte?
Flirtete er mit ihm?
Noch bevor Alexander die Hand ausstrecken und den Menschen über den Tisch ziehen konnte, erschienen erneut zwei Butler und servierten den Gruß aus der Küche.
Der intensive Augenkontakt wurde durch Jiros Aufschrecken unterbrochen. Schnell lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und ließ den Kellner den kleinen Teller mit einem Parfait servieren.
Als sich erneut die Tür schloss und die beiden Männer alleine waren, musste Jiro leise auflachen.
»Hier werden wir vermutlich keine Ruhe haben«, seufzte er leise, als er mit dem kleinen Löffel anfing in der weichen Masse zu stochern. Alexander begutachtete dies mit leichtem Augenzucken.
»Vermutlich«, raunte er, griff vor sich und entzog Jiro den Löffel.
Erschrocken blickte der Mensch auf, hoffte schon, die raue Ader von Alexander erneut kennen zu lernen und endlich über diesen Tisch gelegt zu werden. Doch alles, was kam, waren rügende Worte.
»Das ist der falsche Löffel, der ist für dein Dessert. Das ist der Gruß aus der Küche, eine Art Vorgang. Dafür benutzt du diesen Löffel dort«, knurrte der Vampir und begann Jiro Tischmanieren beizubringen. »Die Serviette legst du über deinen Schoß, setz dich anständig hin. Und das Parfait isst du -«
Jiro schaltete ab.
Er ließ den großkotzigen Mann reden und verdrehte entnervt die Augen. Während Alexander anfing, Jiro zu zeigen, wie man den Löffel richtig hielt und welches Besteck zu welchem Gang gehörte, betrachtete der Mensch erneut die Schneelandschaft.
Wieso musste alles in einem Desaster enden? Hatte Hiro Recht? Würden sie entweder das Mobiliar zerstören oder hemmungslosen Sex haben? Gab es da denn nichts dazwischen?
Alexander verstummte schließlich und aß sein rotes Parfait.
»Ist da etwa auch etwas drin?«, hakte Jiro lustlos nach und beäugelte die Masse auf dem kleinen Teller.
»Natürlich. Sonst wäre es für mich ungenießbar.«
»Schmeckt doch sowieso alles gleich, oder nicht?«
»Ein bisschen, ja.«
»Wieso dann die Mühe?«
»Das Auge isst mit, okay?«, giftete Alexander zurück und schob die Augenbrauen zusammen. »Vielleicht sollten wir doch gehen. Deine Laune scheint auf dem Tiefpunkt zu sein.«
»Es ist einfach nicht meine Welt«, entgegnete Jiro und verschränkte die Arme. »Nicht alle haben den Hintern vergoldet.«
»Ich dachte, du willst meine Welt kennen lernen? Nun, das ist sie!« Alexanders Stimme bebte. Es war ein Ton, den selbst Jiro fürchten sollte. Doch ganz im Gegensatz zu den einfachen, ängstlichen Mädchen vom Lande, begann Jiro erst warm zu werden.
»Das bedeutet nicht, ein Teil dieser Welt zu werden. Mir geht das hier alles ziemlich gegen den Strich.«
»Das merkt man sehr deutlich.« Die Augen des Vampirs begannen zu Schlitzen zu werden. Eine unheimliche Aura umstreifte ihn, während er den Menschen im Visier hatte.
»Tut mir Leid, dass ich mich nicht hinter einer Maske der unendlichen Freude verstecke!«
Jiro raunte abermals auf und gestikulierte durch die Luft.
»Du könntest dich aber wenigstens mal zusammenreißen und mir zur Liebe die Arschbacken zusammenkneifen. Nicht jeder muss hier wissen, dass du von der Straße kommst.«
»Mal schön langsam«, raunte Jiro auf, schob seinen Stuhl einige Zentimeter nach hinten. »Ich komme von der Straße? Willst du mir gerade unterschwellig sagen, dass du so gütig bist, mir einen Teil deines ach so tollen Lebens abzugeben, damit ich auch mal sehe, wie es jenseits des Teiches so ist?«
»Was ist falsch daran? Woher sollte ich denn wissen, dass du es lieber einfach und dreckig hast?«
»Einfach und dreckig?!«, rief Jiro auf einmal empört auf und stand abrupt auf. Die Hände zu Fäusten geballt.
Alexander konnte daraufhin nur mit den Schultern zucken. »Na, du magst es hier nicht. Also gehe ich davon aus, magst du das Gegenteil. Denn – ganz ehrlich – wie verblendet muss man sein, einen solchen Service auszuschlagen? Du bist einfach nur dumm, das hier nicht zu schätzen zu wissen. Andere würden dafür -«
Doch weiter kam der Vampir nicht, als er Jiro zur Schiebetür gehen sah.
»Wo willst du hin?«, rief Alexander auf einmal. Panik machte sich in ihm breit. Hatte er Jiro zu sehr verärgert? Hatte er es wieder einmal übertrieben?
»Nach Hause«, giftete der Mensch und wollte schon die Tür beiseite schieben, als sich Alexander wie aus dem Nichts vor ihn stellte.
Einige Sekunden verstrichen, in denen sich die Männer einfach nur finster in die Augen sahen.
»Bleib«, war alles, was Alexander aus den Lippen pressen konnte.
»Wieso sollte ich?«, spottete Jiro und spürte seinen Ärger verfliegen. Stattdessen machte sich Trauer breit. Er fühlte sich verletzt. Wieder einmal ging die gemeinsame Zeit für Streiten drauf. Konnte es denn nicht harmonisch sein? Wenigstens für ein paar Minuten?
»Das Essen kommt gleich«, war alles, was Jiro dann noch verstand.
Für einen Moment hielt der Mensch die Luft an, bis er sie verzweifelt ausstieß. »Im Ernst? Das Essen?«
Alexander hielt noch immer verkrampft die Schiebetür zu, damit Jiro nicht abhauen konnte. Ohne etwas zu sagen, beobachtete er seinen Partner, wie er anfing leise zu lachen.
»Ich soll bleiben wegen dem Essen?«
Grüne Augen starrten hoch in die verwirrten Blauen. »Weswegen sonst?«, hakte der Vampir genervt nach und sah noch einmal nervös zum Tisch. Sie hatten noch nicht einmal das Parfait gegessen, was langsam auf dem Teller zerfloss.
»Ich sehe schon«, murmelte Jiro, ging langsam an Alexander vorbei und setzte sich resigniert auf seinen Stuhl zurück. »Du musst mir beibringen, welches Besteck man verwendet und ich bringe dir bei, wie man eine Beziehung führt.«
»Das habe ich nicht nötig«, kam wie aus der Pistole geschossen aus Alexanders Mund.
»Genauso wenig habe ich es nötig, Tischmanieren zu lernen. Und trotzdem habe ich das Gefühl, haben wir beide das Bedürfnis, es dem jeweils anderen beizubringen.«
Nun war es Alexander, der empört auflachte. »Na dann, Romeo, sag mir, was ich besser machen kann, als dich schick zum Essen auszuführen, dich in einem teuren Auto rumzufahren und dir auch sonst jeden Wunsch zu erfüllen.«
Als der Vampir sich ebenfalls wieder gegenüber von Jiro gesetzt hatte, als wäre nie etwas passiert, begann der Mensch zu seufzen. Er starrte auf die Tischdecke, dann wieder in die blaue Iris.
»Es geht nicht darum, mir teure Dinge zu kaufen. Es geht darum, mir das zu geben, was ich brauche.« Der Mensch zuckte bei seinen eigenen Worten zusammen. Er fühlte sich auf einmal wie eine seiner Exfreundinnen, die ihm auch immer wieder genau das vorgebetet hatte. Nun verstand er endlich, was es bedeutete. »Du weißt, dass ich mit so etwas nicht viel anfangen kann. Mir machst du viel eher eine Freude, wenn du mir zu Hause was kochst. Oder wenn wir gemeinsam in ein normales Restaurant gehen.«
Da schwieg der Mensch für einige Sekunden und blinzelte in die noch immer eisigen Augen. »Ich verstehe, dass das mit dem Essen nicht so einfach ist. Dass wir nicht in irgendeine Burgerbude gehen können. Aber das hier« und damit gestikulierte er durch den Raum »ist viel zu viel für mich. Das bin ich nicht. Und das werde ich nie sein.«
»Aber es ist ein Teil von mir«, fügte sich Alexander schließlich wieder ein. Der raue Ton war aus den Worten verschwunden, stattdessen klangen sie gereizt. »Wenn du mit dieser für mich einfachen Seite meines Lebens nicht klar kommst, weiß ich nicht, wie du mit meiner komplizierten Seite umgehen willst.«
Auf einmal lächelte der Mensch warmherzig auf. »Ich komme mit deiner komplizierten Seite wesentlich besser klar, als mit dieser hier. Wenn du Stress machst, weiß ich, was ich tun kann.«
»Mir eine aufs Maul hauen?«, fragte Alexander gereizt. Fast gewaltsam stieß er den kleinen Teller mit dem mittlerweile flüssigen Parfait von sich. Ihm war der Appetit vergangen.
»Auch«, grinste Jiro frech und stand vom Stuhl auf. Schließlich setzte er sich vorsichtig auf Alexanders Schoß. Er spürte, wie sich der muskulöse Körper anspannte und die plötzliche Nähe nicht einzuschätzen wusste. »Aber auch das hier.«
Vorsichtig presste Jiro seine Lippen auf die Kalten, Trockenen des Vampirs. Er schloss die Augen und schlang die Arme um den Nacken, während er Alexanders Duft einzog.
In den ersten Sekunden geschah nichts weiter, sodass Jiro sich auf einmal unsicher war, ob er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Da er aber weder vom Schoß gestoßen, noch anderweitig von seinem Vorhaben gehindert wurde, machte der Mensch einfach weiter und intensivierte den Kuss, in dem er seine Zunge vorsichtig über Alexanders Lippen fahren ließ. Der Vampir ließ es geschehen. Nur langsam, fast zögerlich, begann er über Jiros schmale Beine zu fahren. Während die Männer im Kuss versunken waren, begannen Alexanders große Hände die Oberschenkel von Jiro zu kneten.
Eine Hitze machte sich schlagartig im Brustkorb des Menschen breit. Er spürte, wie gierig er Alexanders Mund erkundete und sich immer näher an ihn presste.
Für einen kurzen Moment dachte er an die Butler, die jeden Moment hereinkommen würde. Sie würden sie sehen. Wie sie energisch übereinander herfallen würden. Wie sie es auf dem Tisch tun würden.
Jiros Hose begann eng zu werden. Er wechselte kurzerhand die Position und setzte sich rittlings auf Alexanders Schoß, um sich noch näher an ihn heran zu pressen. Mit rhythmischen Hüftbewegungen begann er sich gegen den Schritt seines Liebhabers zu bewegen. Dort spürte er ebenfalls die wachsende Erregung durch die enge Stoffhose.
Als der Mensch anfing, Alexanders Hemd aufzuknöpfen, spürte er kalte Finger um sein Handgelenk.
Abrupt endete der Kuss und blaue Augen sahen ihn eindringlich an. »Wenn du das tust, ficke ich dich auf dem Tisch.«
Da lachte Jiro auf. »Du sagst es, als wäre es eine Drohung.«
»Du solltest sie auch ernst nehmen. Denn du weißt, dass ich es tue.«
Der Mensch begann die ersten Knöpfe wortlos aufzuknöpfen. Als Alexander nichts tat, Jiro einfach nur ins Gesicht starrte und seine Hände noch immer um die Handgelenke verkrampft hielt, fügte er flüsternd hinzu: »Dann tu es.«
Mit einem großen Ausfallschritt stand Alexander auf, packte Jiro am Hintern, hievte ihn auf den Tisch und ließ dabei den Stuhl nach hinten fallen. Ohne weitere Worte zu verlieren, schob er Teller und Gläser beiseite – achtete dabei nicht darauf, dass einige davon umfielen und Besteck auf dem Boden landete – und küsste seinen Partner hart auf die Lippen.
Jiro spürte die Leidenschaft und die etwas aggressive Ader, die Alexander in jeder seiner Handlungen umgab, noch sehr viel stärker als zuvor. Der kleine Streit schien noch immer in ihm zu stecken.
Der Mensch ließ sich anstandslos auf die Tischplatte drücken und schlang seine Beine um die schmale Hüfte von Alexander. Doch nachdem er gerade eine angenehme Position unter den forschen Händen gefunden hatte, entfernte sich sein Partner schlagartig aus der innigen Umarmung.
»Umdrehen«, knurrte Alexander erregt und deutete mit einem Kopfnicken an, dass Jiro sich auf den Bauch legen sollte. Der Mensch schnaubte aus, wollte schon zum Kontern anlegen, da packte der Vampir ihn und wirbelte ihn herum. Ein heißer Atem traf seinen Nacken. »Es muss schnell gehen.«
Oh, dachte Jiro, eine schnelle Nummer also? Hatte Alexander Angst, sie würden gesehen werden? Würde das sein Ansehen schwärzen? Mit einem Menschen, noch dazu einem Mann, vögelnd auf dem teuren Tisch erwischt zu werden?
Nun, Jiro war selber nicht so erpicht darauf, von gaffenden Butlern umgeben zu sein, daher fügte er sich dem Willen Alexanders und ließ sich anstandslos die Hose runterziehen.
Der Vampir küsste die weißen Backen und knetete sie einige Zeit in seinen Händen. Seine feuchte Zunge fand schnell den Eingang und befeuchtete ihn, so gut es ging.
Jiro seufzte sehnsüchtig auf und lehnte sich weiter auf den Tisch, sodass sein Hintern mehr in die Höhe gestreckt wurde. Alexander fackelte auch nicht lange rum und griff nach vorne, um Jiros Männlichkeit zu umfassen. Mit einigen schnellen, fast rauen Bewegungen pumpte er das etwas feuchte Geschlecht. Der Mensch stöhnte leise auf und drückte weiter den Rücken durch. Leise sein, dachte Jiro und presste seine Handinnenflächen gegen seinen Mund.
Der Vampir küsste erneut Jiros Nacken, leckte und knabberte an der weichen Haut. Dafür, dass es schnell gehen sollte, ließ sich Alexander viel Zeit an seinem Hals.
»Wenn du mich beißt«, murmelte Jiro in leichter Ekstase, »stehen hier gleich 10 weitere Vampire und wollen einmal an mir knabbern. Also tu es nicht…«
Der Vampir antwortete nicht mit Worten, sondern schnaubte nur einmal kurz aus und öffnete schließlich seinen Gürtel. Mit flinken Fingern holte er sein pulsierendes Glied heraus und befeuchtete es etwas mit Spucke. Zwar schmierte Alexander den Speichel großzügig um Jiros Eingang, doch ihm war klar, dass es so nicht funktionieren würde. Also führte er erneut einen Finger in ihn ein.
»Was tust du? Hör auf«, raunte der Mensch und wand sich unter Alexanders hartem Griff um seine Hüfte. »Tu es doch einfach!«
»Was hast du nur gegen Vorbereitung? So werde ich niemals reinkommen! Entweder Gleitmittel oder Finger oder beides, aber nicht keins von beidem!«, giftete Alexander zurück und entzog seinem Liebhaber wieder den Finger. Was auch immer Jiro nicht am Vorspiel gefiel, es machte Analsex um einiges schwieriger.
»Von mir aus«, seufzte der Mensch, griff instinktiv nach einer kleinen Flasche am Rand des Tisches und reichte sie seinem Liebhaber. »Nimm das.«
»Das ist Essig. Vielleicht nehme ich lieber Olivenöl«, bemerkte der Schwarzhaarige, stellte die kleine Flasche Essig zurück und fischte nach dem Olivenöl. Jiro seufzte genervt, Alexander verdrehte die Augen.
Ohne weitere Worte zu verlieren, träufelte der Vampir großzügig das Öl über Jiros Hintern und seinem Schwanz. Achtlos warf er die Flasche zurück auf den Fisch, griff nach Jiros Hintern und stieß einmal komplett in ihn rein. Das Öl machte alles enorm rutschig, sodass selbst Alexander laut stöhnen musste. Jiro schrie erschrocken auf und krallte sich an der Tischdecke fest. Zu schnell, zu intensiv und definitiv etwas zu schmerzhaft!
Doch Alexander wartete nicht lange und begann mit festen Schlägen in Jiro hineinzurammen. Es dauerte einige Momente, bis der Mensch sich mit den rauen Bewegungen arrangieren konnte.
Das war also ein Quickie, dachte der Mensch und krallte sich weiterhin an der Tischdecke fest. Das Klatschen der Haut übertönte die leise Musik aus den Lautsprechern. Jiro konnte nur beten, dass sie nicht gehört wurden. Aber vermutlich standen die Butler vor der Tür oder haben bereits reingeschaut, um das Parfait mitzunehmen. Der Mensch traute sich nicht, die Augen zu öffnen und gen Tür zu schauen. Sollte dort jemand stehen – Herrgott noch mal, dann sollte es so sein!
Abermals stieß Alexander ihn hart gegen die Tischplatte. Leichter Schweiß bildete sich bereits in Jiros Nacken. Das Stöhnen des Vampirs machte ihn dusselig. Wie in Trance fasste er sich selber zwischen die Beine und umschloss sein tropfendes Glied. Er wollte kommen und zwar bald. Die ganze Spannung des ganzen Abends wollte endlich raus.
Alexander sah, wie sich Jiro zu seinen Stößen selber befriedigte und musste grinsen.
Egal, wie oft sie sich streiten würden. Egal, wie unterschiedlicher Meinung sie waren. Sie fanden ja doch wieder zueinander. Und wie schlimm konnte der Streit schon gewesen sein, wenn sich Jiro extrem willig auf dem Tisch nehmen ließ? In genau dem Restaurant, welches er so zu verfluchen schien. Neben dem Parfait, welches er nicht essen wollte. Von seinem Freund, von dem er behauptete, er wusste nichts von Beziehung.
Nun, da hatte er nicht ganz Unrecht, aber was Alexander konnte, war Sex. Und den hatten sie gerade. Und wieder einmal was für welchen!
Es dauerte nicht lange, da spürte er seinen Höhenpunkt näher kommen. Jiro zuckte auf einmal zusammen, ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen und stöhnte beherzt auf, als er sich in seiner eigenen Hand ergoss. Sein Eingang wurde für einige Sekunden enger, als gedacht, sodass auch Alexander schnell seinen eigenen Orgasmus zuließ. Doch dieses Mal zog er sich vorher heraus und spritzte in seine Handfläche.
Für einige Minuten herrschte Stille im Raum. Nur Jiros erschöpftes Keuchen war zu vernehmen. Alexander griff wortlos nach einer Serviette, wischte sich die Hand ab und reichte seinem Freund eine andere Serviette, damit er sich ebenfalls die Hand abwischen konnte.
Jiros Atem beruhigte sich nach einigen Minuten. Schließlich krabbelte er vom Tisch und versuchte sich gerade hinzustellen. Sein Hintern schmerzte etwas. Es fühlte sich so an, als würde etwas fehlen. Er fühlte sich offen. Ein seltsames Gefühl, musste Jiro gestehen.
Doch kein unangenehmes.
Der Vampir zog mit unergründlicher Miene seine Hose hoch. Fast aggressiv schloss er seine Gürtelschnalle. Jiro tat es ihm gleich, musterte das Gesicht seines Freundes jedoch misstrauisch.
»Was ist los? War es so schlecht?«, hakte Jiro spöttisch nach; ganz genau wissend, dass es nicht so schlecht gewesen sein konnte, wenn Alexander so schnell gekommen war.
Ohne Blickkontakt aufzunehmen, stierte Alexander auf den ruinierten Tisch. »Ich werde hier nie wieder mit meinen Eltern etwas essen gehen können.«
Da lachte Jiro beherzt auf. »Kannst du schon. Du wirst nur an mich denken müssen.«
»Ja«, knurrte Alexander und sah Jiro schließlich böse an. »Genau das ist der Punkt.«
Noch bevor der Mensch etwas erwidern konnte, packte ihn Alexander am Arm. »Wir gehen.«
Und so schnell wie die beiden den Raum verließen, so schnell griffen sie auch ihre Jacken ab und stiegen in das teure Auto. Alexander konnte gar nicht schnell genug verschwinden.
»Hätten wir nicht zahlen müssen? Auch, wenn wir nichts gegessen haben?«, fragte Jiro leise, als sie wieder auf der Landstraße waren. Das schlechte Gewissen knabberte nun doch etwas an ihm. Immerhin haben sie dem Personal eine ruinierte Tischdecke, eine halb gegessene Vorspeise und spermabefleckte Servietten hinterlassen.
»Sie schicken die Rechnung zu mir nach Hause… hoffe ich.«
»Hoffst du?«, hakte Jiro nach und zog die Augenbrauen zusammen.
»Ich hoffe nicht, zu meinen Eltern …«, seufzte Alexander schließlich und bog mit erhöhter Geschwindigkeit auf das Anwesen der Zwillinge.
»Meinst du der Tag wird kommen, an dem ich deine Eltern kennen lernen werde?«
Alexander schwieg. Erst, als er das Auto in der Einfahrt der Villa parkte, den Motor ausschaltete und sich im Sitz nach hinten lehnte, fand er seine Stimme wieder. »Ich hoffe nicht.«
»Beleidigt das jetzt mich oder deine Eltern?«
»Euch beide, befürchte ich«, lachte Alexander verzweifelt auf. »Du wirst ihnen nicht gefallen und sie werden dir nicht gefallen. Deshalb ist es vielleicht besser, ihr werdet euch nie kennen lernen.«
»Und wie willst du ihnen erklären, dass du jetzt einen Freund hast?«
»Gar nicht«, raunte Alexander.
Jiro ließ das einfach mal so stehen. Er hatte seine Ma auch noch nicht erzählt, dass er nun einen Freund hatte. Die ganze Beziehungskiste hatte sich ja auch erst vor ein paar Tagen ergeben. Da musste man nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
Beide Männer saßen noch einige Sekunden schweigend im Auto, als Jiro das Anwesen der Zwillinge genauer musterte. »Kommst du noch mit rein?«
»Nein«, kam die knappe Antwort von Alexander.
»Dann schlafe ich heute nicht bei dir?«
»Ja.«
Der Mensch seufzte leise aus und sah zum Fahrer. »Wieso bist du so schlecht drauf? Wir hatten gerade guten Sex in deinem Lieblingsrestaurant. War das jetzt wirklich so schlimm?«
Der Vampir stierte nachdenklich aus der Windschutzscheibe. Als würde er in der Ferne die Antwort finden, antwortete er recht monoton. »Nein. Ich bin mir nur noch nicht so sicher, ob das, was wir haben, so richtig ist. Wir sind uns nur am streiten. Über völlig unnötige Dinge.«
»Das tun wir, ja«, stimmte Jiro zu und sah ebenfalls aus der Windschutzscheibe. »Belastet es dich denn so sehr, dass du an uns zweifelst?«
»Es belastet mich kein Stück.«
Die trockene Antwort ließ den Menschen die Luft anhalten. Mit großen Augen sah er zu Alexander, der weiterhin in die Ferne starrte.
Und als hätte er Jiros Reaktion vorausgesehen, musste er grinsen. »Genau. Es belastet mich nicht. Ist das nicht besorgniserregend? Sollte man nicht das Beste für den Partner wünschen?«
»Nicht immer«, hauchte Jiro. »Ich mag es, mich mit dir in der Wolle zu haben.« Da stockte er für einen Moment. »Na ja, zumindest meistens. Wir haben anscheinend nach jedem Streit sehr guten Sex. Da bezahle ich gerne den Preis, mich kurz mit dir zu streiten.«
Alexander verkrampfte das Gesicht und sah zum ersten Mal seit Minuten zu Jiro. »Du bist also nicht böse vom Abend?«
»Absolut nicht«, lachte der Mensch und neigte den Kopf etwas zur Seite. »Ich wäre böse, wenn du mich jetzt einfach so ins Bett schicken würdest.«
»Du musst ja auch noch nicht ins Bett gehen. Wir schreiben«, konterte Alexander müde und rieb sich den Nasensteg. »Ich muss nachdenken.«
Entnervt riss Jiro die Tür auf und schüttelte den Kopf. »Solange du nicht wieder alles hinschmeißen willst, denk so viel du willst.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg der Mensch aus, knallte die Tür zu und stapfte durch den Restschnee zur Villa, wo er nur die Reifen wegfahren hörte.
»Lief also nicht so?«, fragte Hiro am nächsten Morgen, als er Jiro in Kiyoshis altem Zimmer sitzen und betrübt eine Zigarette nach der anderen drehen sah. »Ich hatte dich nicht so früh zurück erwartet. Eigentlich…«, dabei schielte er gespielt auf die Uhr, »warst du nach Mamorus Aussage gerade einmal eine Stunde weg.«
»War okay«, brummte der Mensch und begann eine neue Zigarette zu drehen.
Hiro seufzte, schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch. Er konnte sich denken, was gestern Abend passiert war. »Lass mich raten: Ihr habt euch mal wieder gestritten.«
»Natürlich«, raunte Jiro erneut auf und legte schließlich den Tabak weg. »Und mich würde das ganze auch gar nicht stören, wenn Alex da nicht immer so ein großes Drama draus machen würde!«
Das ließ Hiros Augenbrauen in die Höhe schießen. »Alex macht da ne große Sache draus? Echt? Versteh mich nicht falsch, aber ich dachte eher, es wäre der umgekehrte Fall.«
»Hey«, giftete Jiro los und sprang von der Fensterbank, um den Tabak in seinen Koffer zu werfen. »Mir ist es egal, was Alex mir zu sagen hat, solange er dabei ehrlich ist und es mir ins Gesicht sagt. Mit so etwas kann ich umgehen. Und mit dem Versöhnungssex.«
»Zu viel Info«, winkte Hiro ab und räusperte sich.
»Aber«, führte der Mensch weiter aus und ließ sich resigniert aufs Bett fallen. »Es ist als würde er etwas in sich hineinfressen seit der Party-Aktion. Er ist nicht mehr so offen. Ganz im Gegenteil, er scheint es tunlichst zu vermeiden, mit mir darüber zu reden.«
»Ich habe Alex auch nie als wirklich den Typ Mann eingeschätzt, der viel und gerne über Gefühle redet.«
»Das erwarte ich auch nicht. Aber er trägt das in unsere Beziehung. Und das nervt«, meckerte Jiro und seufzte laut auf. »Es ist, als würde er sich zu viele Gedanken über die Beziehung machen. Es war einfacher, als wir noch nicht zusammen waren.«
Der weißhaarige Vampir stockte und hielt den Atem an. »Du willst Schluss machen?«
»Nein!«
»Wollte gerade sagen! Wer lief ihm denn erst vorgestern hinterher, obwohl er vergewaltigt wurde!«
»Nenn es nicht so, Hiro, verdammt«, zischte Jiro seinem Freund zu und verschränkte die Arme. »Ich krieg das schon noch aus Alex raus.«
»Der Gute will’s doch nur richtig machen. Die typische Beziehung führen.«
Hiros Worte ließen Jiro aufhorchen. »Was ist denn die typische Beziehung?«, fragte er spitz, während er noch immer die Arme verschränkt hielt.
»Äh«, begann der Vampir und kratzte sich im Nacken, »Na, füreinander da sein, sich gern haben, schöne Dinge tun, miteinander Zeit verbringen, Spaß haben – so was eben. Du weißt schon, den anderen verwöhnen, sicher stellen, dass es ihm gut geht…«
Mit jedem weiteren Wort verdunkelte sich Jiros Miene, was Hiro nach Worten suchen ließ.
»Sag mir bitte nicht, dass du ihm genau das eingeredet hast«, mahnte der Schwarzhaarige und presste die Lippen zu einer geraden Linie.
Hiro entließ einen lauten Seufzer. »Na ja, eingeredet… würde ich das nicht nennen…«
»Hiro!«, schrie Jiro auf und klatschte seine Handflächen auf die Matratze, »Alex denkt doch jetzt, dass alles andere keine gesunde Beziehung ist!«
»Na hör mal, er ist ein erwachsener, gebildeter Mann! Er wird da schon selber drauf kommen!«, verteidigte sich Hiro und hob beide Hände in die Höhe.
»Ja, doch nur wann? Nachdem er mit mir Schluss gemacht hat oder nachdem ich mit ihm Schluss gemacht habe, weil ich seine Unsicherheit nicht mehr aushalte? Du weißt, er ist in solchen Sachen nicht sehr gut! So etwas darfst du ihm nicht einreden!«
Der Weißhaarige musste trotz der angeheizten Diskussion etwas grinsen. »Denk dran, Jiro, du bist nicht seine Ma, alles gut… lass den armen Kerl mal seine Sache machen… du wolltest dich drauf einlassen, also zieh’s auch durch.«
»Tu ich ja«, schnaubte Jiro und stand schließlich auf. »Aber ich muss ihn in die richtige Richtung schubsen. Sonst wird das nie was.«
»Dann schubs ihn mal. Sofern er sich überhaupt in irgendeine Richtung bewegen lässt. Meiner Erfahrung nach -«
»Erfahrung? Okay, Hiro, deine Chance: Was hast du ihm noch alles für Flausen in den Kopf gesetzt?«
Die stechenden grünen Augen ließen Hiro auf seinem Stuhl rutschen.
»Streiten wir uns gerade… wegen Alex?«, fragte der Vampir kleinlaut nach. »Ich wollte euch nur helfen, ehrlich!«
»Und ich habe dir tausendmal gesagt, dass wir keine Hilfe brauchen!« Jiros Augen wurden zu Schlitzen. »Mach’s mir einfach nicht kaputt, Hiro… Ich krieg das selber hin. Alex ist jetzt mein Freund, wir sind zusammen, das war es doch, was du wolltest?«
»Ja, schon«, murmelte Hiro, sah dabei zu Boden und schluckte einen Kloß runter. »Aber ich wollte euch glücklich machen. Dachte, ein bisschen Infos vom jeweils anderen helfen euch da…?«
»Nein«, kam die spitze Antwort. »Was denkt er noch? Dass ich zerbreche, wenn er mich etwas fester anfasst? Dass ich Regenbogen kotze, wenn er mir Blumen schenkt?«
Der Weißhaarige legte seine Hände unter die Oberschenkel und sah mit großen Augen zu Jiro hoch. »Du willst jetzt also alles hören?«
»Ja«, kam abermals eine monotone Antwort. Jiro setzte sich zurück auf die Fensterbank und überschlug die Beine. Der auffordernde Blick in Hiros Richtung ließ den Vampir unsicher Grinsen.
»Okay?«, räusperte er sich und begann zu erzählen. Von der depressiven Zeit, in der er versuchte Alex aufzuheitern und ihm eingeredet hatte, dass Jiro ihn sehr vermisste, bis hin zum klärenden Gespräch, wo er seinen besten Kumpel als Drogenkönig dargestellt hatte. Hiro beichtete, dass er um die S&M Geschichte Bescheid wusste und Jiro bewusst nichts gesagt hatte, in der Hoffnung, Alex würde sich benehmen können. Alexanders Ängste, er könnte Jiro verletzen – physisch als auch psychisch – kamen nur schwermütig aus Hiros Lippen.
»Er hat Angst mich zu verletzen?«, wiederholte Jiro mit hochgezogenen Augenbrauen und sah entsetzt in die Richtung seines besten Freundes.
»Er ist ein Vampir, du ein Mensch. Na klar, hat er Angst, dich in seinen Meister Proper Armen zu zerquetschen!«
»Das ist doch Schwachsinn«, hauchte Jiro aus seinen Lippen und sah gedankenverloren aus dem Fenster. »Ich bin doch keine Puppe. Und das weiß er. Wir haben uns doch auch im Sommer geprügelt. Da schien er keine Rücksicht auf mich nehmen zu wollen.«
»Ja«, bestätigte Hiro aufgeregt, gestikulierte sogar mit den Händen, als er merkte, in Jiro einen wunden Punkt getroffen zu haben, »aber da war er auch noch nicht in dich verliebt! Wenn ich den Witz mit seiner Prinzessin gemacht habe, sagte ich es mit einem Funken Wahrheit drin. Du bist seine Prinzessin. Er will, dass es dir gut geht. Er will dich mit seinem Geld überschütten und dir vermutlich alles ermöglichen, wovon er denkt, du dir nie leisten könntest. Er denkt, er tut dir damit was Gutes.«
»Hab ihm gestern gesteckt, dass er damit das Gegenteil erreicht«, murmelte Jiro und fühlte sich etwas schlecht. Er dachte, Alex würde den Bonzenkram nur auspacken, weil er einen auf dicke Hose machen wollen würde. Sicherlich spielte das eine gewisse Rolle, aber grundsätzlich wollte der Vampir seinem Freund einfach einen schönen Abend machen. Mit Dingen, von denen er glaubte, dass Jiro sie sehen wollte.
»Na, also für mich kein Wunder, dass er dann heute mal nachdenken will«, antwortete Hiro kleinlaut und knabberte an seiner Unterlippe. Als Jiro nichts darauf antwortete und stattdessen weiterhin in die Ferne blickte, stand er auf und ging zu seinem Kumpel rüber. »Ihr beiden müsst dringend ein klärendes Gespräch führen.«
»Das habe ich schon versucht, aber Alex weicht dem immer wieder aus«, seufzte Jiro und sah wieder in die hell-lilane Iris. »Aber ich weiß ja jetzt, was in seinem sturen Kopf vorgeht. Zumindest zu einem Teil.«
»Er freut sich bestimmt, wenn du noch mal in seine Welt kommst und nicht meckerst. Tu’s für ihn. So schlimm ist es nicht«, damit klopfte Hiro auf die Schulter des Schwarzhaarigen. »Ich hab mich auch dran gewöhnt.«
»Das sehe ich«, schmunzelte der Punk und spielte an seinem Lippenpiercing. »Mich macht das zwar nervös, wenn ständig jemand um mich herum wuselt, aber von mir aus. Dann gehe ich mit Alex noch mal essen. Und diesmal essen wir auch was.«
Für einen Moment herrschte Stille, in der Hiro einfach nur seine Hand auf Jiros Schulter liegen hatte. Beide starrten jenseits des Fensters.
»Ihr habt gestern nichts gegessen?«, hakte Hiro trocken nach. »Was habt ihr eine Stunde dann dort gemacht?«
»Uns gestritten.«
»Eine Stunde?«
»Und Dinge«, grinste Jiro und drehte sich zu Hiro um, sodass seine Hand von der Schulter fiel. »Zu viel Info für dich.«
»Ihr hattet ernsthaft Sex in diesem Restaurant«, formulierte der Vampir tonlos das, was Jiro implizierte. Der Mensch lächelte ihn einfach nur süßlich an und blinzelte ein paar Mal.
Der Tag verging, ohne dass die beiden miteinander schrieben. Keine große Sache, da er genug mit den Zwillingen zu tun hatte. Sie spielten Monopoly und quatschten ein bisschen über ihre Leben, bis Mamoru zum Essen rief.
»Übermorgen ist Heilig Abend. Was machen wir?«, fragte Kiyoshi aufgeregt, während er an seinem Weinglas nippte. »Ich möchte noch einmal über den Weihnachtsmarkt.«
»Ja, wieso nicht«, stimmte Hiro mit ein und nickte eifrig.
»Das könnt ihr ja morgen machen«, bemerkte Ai recht trocken und seufzte langgezogen, als sie ihren Blick zu Fudo schweifen ließ. Die Eltern der Zwillinge verhielten sich verdächtig ruhig. Entweder sie fanden langsam wieder zueinander oder sie drifteten immer weiter ab.
Doch Jiros Gedanken schweiften nur Alexander. Was er wohl an heilig Abend machen würde? Ob sie zusammen feiern könnten?
»Heilig Abend ist zumindest Geschenkeübergabe«, verkündete Hiro grinsend und stupste Jiro dabei mit dem Ellebogen an. »Hast du alles? Oder brauchst du noch was?«
»Ich hab alles«, seufzte der Mensch und stopfte sich den letzten Rest Reis in den Mund. »Erwartet nichts großes, ich musste meinen Job kündigen, weil die Prüfungen so viel Zeit verlangen.«
»Alter, war’n Witz. Du musst uns nichts schenken. Reicht, wenn du was für Alex hast. Wobei der an Weihnachten gar nicht da ist, also hat er im Grunde seine Chance auf ein Geschenk vertan«, spaßte Hiro und lachte laut auf. Kiyoshi schüttelte nur den Kopf, während Jiro ihn mit großen Augen ansah.
»Wo ist er denn?«
Der Vampir verstummte sofort und sah seinen Kumpel mit großen Augen an. »Bei der Familie, wo sonst?«
»Ach so«, murmelte der Punk. »Ich dachte, er würde verreisen.«
»Worüber redet ihr eigentlich?«, fragte Kiyoshi sarkastisch und verdrehte die Augen.
»Jedenfalls nicht über Weihnachten«, bemerkte Hiro und trank sein Glas aus. »Alex feiert Heilig Abend mit seinen Eltern, aber danach scheint er wieder ein freier Mann zu sein.«
Obwohl sich der Mensch geschworen hatte, Ruhe zu bewahren, bis Alexander sich melden würde, griff er zum Handy und wählte die Nummer seines Freundes. Er hielt es einfach nicht mehr aus. Er musste wissen, ob er noch sauer war. Und er wollte sich eventuell für den miesen Abend im Restaurant entschuldigen.
»Jiro?«, kam die raue Stimme von der anderen Seite. Er wirkte etwas erschöpft.
»Hi, Alex«, murmelte der Mensch und spitzte etwas die Lippen, als er nicht wusste, wie er ein Gespräch ohne Zickerei anfangen konnte. »Du wirkst müde. Störe ich?«
»War am trainieren«, seufzte Alexander in das Mikrofon. Man hörte etwas rascheln und schließlich das Sofa unter dem Gewicht des Mannes nachgeben. »Was gibt’s?«
Ich wollte deine Stimme hören war keine Option. Also antwortete er das, was tatsächlich im Raum stand: »Wir gehen morgen alle auf den Weihnachtsmarkt.«
»Wer ist wir«, brummte Alexander. Dass er keine Lust hatte schien bereits deutlich durch.
»Leute aus der Academy, die Zwillinge und na ja… ich?«
»Schön für euch«, kam die knappe Antwort.
»Kommst du mit?«
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.«
Das ließ Jiro aufseufzen. »Morgen, 16 Uhr. Wir treffen uns in der Altstadt am Turm. Dann gehen wir gemütlich über den Weihnachtsmarkt. Nach zwei Stunden bist du wieder frei und kannst dich auf Heilig Abend mit deinen Eltern freuen.«
Alexander antwortete nicht. Stattdessen schnaubte er genervt in den Hörer und legte auf.
Jiro hörte sich noch für einige Sekunden den Ton des Auflegens aus dem Handy an, bis er es schließlich beiseitelegte.
Er schlief mit gemischten Gefühlen ein. Die ganze Beziehung war bisher eine einzige Achterbahn. Ein Auf und Ab. Wie lange würde das noch so weitergehen? Könnten die beiden überhaupt jemals eine tragende Beziehung führen? Haben sie es vielleicht doch zu schnell angehen lassen? Doch wie lange hätten sie warten sollen? Es waren fast 5 Monate vergangen seitdem sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Seitdem telefonierten oder schrieben sie jeden Tag. Oder zumindest jeden zweiten. Und es schien, als wäre eine Fernbeziehung weitaus friedlicher als eine Beziehung mit Nähe.
Was wünschte sich Jiro von Alexander? Was waren seine Wünsche an ihn?
Als er sich diese Frage nicht wirklich beantworten konnte, fragte er sich dasselbe für Alexander. Vielleicht sollten sie das erst einmal herausfinden, bevor sie sich in eine ernste Partnerschaft zwängen würden.
Doch je länger Jiro seine Gedanken kreisen ließ, stand da eine Sache ganz groß im Raum, die jedes Problem zu umkreisen schien: Die Vampir-Sache.
Jiro war ein Mensch, Alexander ein Vampir. Selbst wenn sie sich also für immer Lieben sollten, spätestens in 10 Jahren würde Jiro grau und alt werden. Alexander würde für immer jung und schön bleiben.
Sie würden niemals in den Süden an den Strand fahren können. Südseereisen machen. Spazieren gehen, während die Sonne durch die Blätter tanzen würde. Romantische Sonnenaufgänge oder -untergänge anschauen.
Er könnte Alexander nie mit auf eine Familienfeier mitnehmen. Wobei das vielleicht noch eher ginge als umgekehrt. Jiro würde im Nu aufgefressen werden. Oder die Leute zumindest enorm nervös machen. Alexander würde alles tun, um Jiro zu verstecken. Um ihn zu beschützen.
Und so sehr Jiro der Gedanke gefiel, wieder in die starken Arme klettern zu können, um sich geborgen zu fühlen, so sehr suchte er die Unabhängigkeit. Sein bester Freund, dessen Familie und nun auch sein fester Freund waren allesamt Wesen aus einer anderen Welt, in die er nur hineinsehen durfte. Ein Teil von ihr werden, schien schier unmöglich.
Insbesondere, weil Jiro sich nicht einmal sicher war, ob er die Sonne aufgeben könnte. Das normale Leben im Süden. Mal eben an den See gehen, wäre nicht mehr. Spaß haben mit Menschen. Essen schmecken. All das, worauf Hiro verzichten musste, würde dann auch ihn ereilen. Was, wenn er sich irgendwann von Alexander trennen würde? Und sich mit Hiro verkrachen oder auseinander leben würde? Dann wäre er alleine in einer Welt voller dunkler und grausamer Kreaturen. Einen Weg zurück gab es nicht.
Das war ein One-Way-Ticket.
Mit den dunklen Gedanken wachte Jiro am nächsten Morgen auf. Hiro und Kiyoshi saßen bereits im Wohnzimmer und blätterten in Zeitschriften. Zwischendurch scrollte Hiro durch sein Handy.
Erst, als sich Jiro dazu setzte und von Mamoru einen Kaffee hingestellt bekam, sahen die Zwillinge auf.
»Gut geschlafen?«, fragte Hiro fröhlich und grinste seinen Kumpel an.
»Mhm«, war alles, was Jiro rausbringen konnte.
»Also nein«, lachte der Vampir leise und beugte sich zu Jiro rüber. »Kommt Alex heute? Dann hebt sich deine Laune bestimmt wieder etwas.«
»Weiß ich nicht. Er hat gestern einfach aufgelegt, als ich ihm gesagt habe wo und wann wir uns treffen.«
»Ah.« Hiro hob beide Augenbrauen. »Der wird schon kommen.«
Während Jiro seinen Kaffee schlürfte, war er sich nicht so sicher, ob er überhaupt mitgehen sollte. Mit jungen Vampiren über einen Weihnachtsmarkt zu gehen, während er der einzige Mensch war, fühlte sich komisch an. Zum ersten Mal seit langsam fühlte er sich ausgeschlossen. Selbst auf der Flucht im Sommer hatte er nicht so ein Gefühl der Exklusion.
Ihm war nach Alexanders Armen. Und nach hartem Sex. Einfach, um zu vergessen, dass das, was die beiden in Wirklichkeiten teilten, an einer Hand abzählbar war.
Als Jiro dick eingepackt mit den anderen in der Altstadt stand und nervös zur Uhr sah, gingen die restlichen Vampire bereits zu einigen Buden. Es waren einige Menschen unterwegs, viele davon vermutlich Vampire. Sie fügen sich wirklich gut ein, dachte Jiro, während er in die Gesichter der Gestalten blickte. Nur die Gesichtsfarbe, vielleicht ein Lachen, wo man spitze Zähne herausblitzen sah, ließen darauf schließen, dass die Menschen eigentlich gar keine waren.
»Na, was hab ich gesagt«, lachte Hiro dunkel, als er auf die Gestalt mit dem schwarzen Wollmantel auf sie zukommen sah. Schnell drehte er sich zu seinem Bruder um, der einige Holzarmbänder an einem Stand gefunden hatte und tat so, als hätte er Alexander gar nicht gesehen.
Jiro hingegen rang sich ein leichtes Lächeln ab und wartete, bis Alexander bei ihm stand.
»Du bist ja doch da«, murmelte er erleichtert.
»Ja«, knurrte er sichtlich lustlos. »Du hast zwei Stunden.«
Die bittere Antwort ließ den Menschen die Augen rollen. »Wenn du keinen Bock hast, hättest du auch zu Hause bleiben können.«
»Vielleicht sollte ich wieder gehen, ja«, bebte Alexanders Stimme, als er in Jiros grüne Augen sah. »Ich dachte, ich mache dir eine Freude. Aber ich schien damit schon wieder falsch zu liegen.«
»Oh, fangen wir schon Grundsatzdiskussionen an?«, lachte Jiro gereizt auf und steckte seine Hände in die Jackentaschen.
»Darauf hab ich echt keinen Bock«, raunte Alexander und machte auf dem Absatz kehrt.
Jiros Herz hämmerte wie verrückt in seiner Brust.
Wieso lief es denn jetzt schon wieder so furchtbar? Wäre Alexander einfach mal etwas netter, müsste man sich ja nicht immer streiten, oder? War der Mensch wirklich in der Position, über alles hinwegsehen zu müssen?
Ein leichter Druck bildete sich hinter Jiros Augen und er spürte die erste Feuchte auf seinem unteren Lid.
Sollte er ihm nachlaufen? Ihm klar machen, dass er sich tatsächlich freut, ihn zu sehen? Wenn er nur nicht gleich mit so schlechter Laune hier wäre, würde er sich sogar noch mehr freuen?
Doch Alexander blieb selber abrupt stehen. Jiro erkannte ihn kaum noch. Viele Menschen durchstreiften sein Sichtfeld, sodass der schwarzhaarige Mann nur wage zu erkennen war.
»Jiro? Wo ist Alex?«, fragte Hiro etwas lauter, damit Jiro ihn aus der Entfernung hören konnte. Der stand nämlich immer noch weiter weg von den anderen.
Als Jiro keine Antwort gab, sondern einfach mit langsamen Schritten auf Alexander zuging, seufzte Hiro laut auf. »Schreib, wenn was ist«, war alles, was er dann noch hörte.
Es tat dem Menschen leid, seinem besten Kumpel ständig Sorgen zu bereiten, nur weil er diesem einen Mann ständig hinterherlief. Er wusste selber nicht, wieso er diese zerstörerische Beziehung aufrechterhalten wollte, wenn es doch offensichtlich nicht funktionierte.
Alexander blieb noch immer regungslos mit dem Rücken zu Jiro gedreht stehen. Es schien, als würde er ihn gar nicht bemerken. Als hätte ein anderer Grund ihn zum Stehen animiert. Erst, als Jiro seine Hände um Alexanders Torso wandern ließ, schien der Vampir zu erwachen. Fast liebevoll und zärtlich streiften seine weißen Hände über die von Jiro und drückten die Finger in seiner Handfläche.
Der Mensch presste seine Wange gegen die weiche Wolle des Mantels und schloss die Augen.
Sie stritten. Ständig. Aber sie schienen sich auch immer wieder zu vertragen. Man musste nur so langsam einen Mittelweg finden. So konnte es nicht weitergehen.
»Alex«, murmelte Jiro schließlich, »die anderen sind jetzt schon weitergegangen.«
»Interessiert uns das?«, brummte er leise und streichelte Jiros Handrücken mit seinem Daumen.
»Na ja«, seufzte der Mensch und schloss erneut die Augen. Eigentlich wollte er jetzt erwidern, dass es ihre Freunde waren, die sie schon wieder haben stehen lassen. Aber dass Alexander nicht viel auf Freundschaften gab, war ihm mittlerweile bewusst geworden.
»Lass uns was trinken«, verkündete der Vampir auf einmal und löste sich aus der warmen Umarmung. »Und das ein für alle Mal klären.«
Der letzte Teil versetzte Jiro in eine panische Starre. Klären? Ein für alle Mal? Das klang sehr nach Schluss machen. Aber es kam nicht überraschend. Immerhin würde es jeder Dritte ihnen raten.
Doch zu Jiros Überraschung nahm Alexander ihn an die Hand und führte ihn ein Stück durch die Altstadt. Sie war klein und hübsch, geschmückt mit glitzernden Lichtern und weihnachtlicher Deko.
Schweigend liefen sie nebeneinander her, bis sie einen großen Glühweinstand erreichten. Alexander parkte Jiro in einer ruhigeren Ecke und ging zum Stand. Wortlos bestellte er zwei Tassen warme Flüssigkeit. In eine Tasse wurde noch ein Schuss rote Flüssigkeit gegeben. Wie das normalste der Welt schob die fülligere Dame alles über die Theke und kassierte Alexander ab.
Mit neutraler Miene kam er zurück zu Jiro und reichte ihm die Tasse ohne Schuss.
»Danke«, flüsterte der Mensch leise und starrte in die eh schon rötliche Flüssigkeit. Er nahm einen kleinen Schluck.
Stark, dachte er. Viel Alkohol. Das ist gut. Das macht die Zunge locker.
Also standen beide Männer wortlos nebeneinander und tranken ruhig ihren Glühwein. Die Menschen um sie herum waren bereits gut angeheitert, unterhielten sich angeregt und standen im starken Kontrast zu den beiden Schwarzhaarigen. Jiro spielte hier und da an seinen Piercings und sah sich weiter um. Mit zunehmender Stunde wurde der Platz immer voller.
Schließlich nahm Alexander Jiro die leere Tasse ab, ging erneut wortlos zum Stand und holte zwei neue.
Als die zweite Tasse leer war und Jiro den Alkohol langsam im Kopf spürte, holte er tief Luft und sah Alexander das erste Mal seit Minuten wieder in die Augen.
»Wieso streiten wir immer?«, fragte er leise.
Der Vampir schnaubte aus der Nase aus, als hätte er ein anderes Thema erwartet. So dauerte es auch erneut einige Sekunden, bis Alexander überhaupt die Muse fand, zu antworten. »Weil wir ständig anderer Meinung sind.«
»Sind wir das?«, hakte Jiro nach und bewegte die leere Tasse in seiner Hand. »Selbst, wenn, wo ist das Problem? Ich bin mit Hiro auch nicht immer einer Meinung, trotzdem haben wir uns nicht so in der Wolle.«
»Ist ja auch Hiro«, begann der größere Schwarzhaarige und nahm Jiros Tasse aus der Hand, »und nicht ich.«
Sofort ging er erneut zum Stand, bestellte zwei neue Tassen und kam mit langsamen Schritten zurück. Seine Miene war unergründlich und ließ nicht auf sein Gemüt schließen. War er noch sauer? Wütend? Enttäuscht? Jiro konnte es nicht sagen.
»Können wir uns denn nicht wenigstens darauf einigen, dass wir Kritik und Missgunst zumindest für die ersten 10 Minuten unserer Treffen runterschlucken? Oder nur dann Gift spritzen, wenn es wirklich nötig ist?«
»Und wann ist es wirklich nötig?«, hakte Alexander gereizt nach. Solche Gespräche machten ihn müde. Oder war es der Alkohol?
Jiro trank einen Schluck des warmen Getränks. »Ich mag deine Ehrlichkeit, Alex, aber sie muss nicht immer verletzend sein.«
»Du wusstest, worauf du dich einlässt«, war alles, was als Antwort kam. Der Vampir trank erneut zwei große Schlucke des Glühweins. Es schmeckte nicht, aber das Blut machte es erträglich. Und er wurde etwas beduselt. Das machte ein solches Gespräch wesentlich ertragbarer.
Mitunter ein Grund wieso er vermutlich all die Jahre feste Beziehungen gemieden hatte: Diskussionen.
»Du anscheinend nicht«, gab Jiro traurig zurück. »Eine Beziehung ist nicht immer voller Rosen. Unsere wird es vermutlich nie sein, aber das macht sie doch nicht minder schön, oder nicht?«
Der Vampir sah zu Boden, dann in die grüne Iris. »Du findest es schön, dass wir uns ständig streiten?«
»Ich finde dich schön«, konterte Jiro mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Und unsere ruhigeren Gespräche. Ich mag deine raue Art. Ich liebe unseren Sex, zu meiner eigenen Überraschung. Aber du bist wirklich gut«, lachte er schließlich auf und trank noch einen Schluck Glühwein. Seine Wangen färbten sich langsam rot und die Hitze stieg ihm in den Kopf. Die Worte flossen auf einmal etwas leichter durch die Lippen. »Ich liebe deine Nähe. Dass wir uns streiten mindert vielleicht meine Vorfreude auf unsere Treffen, weil ich weiß, dass wir uns mindestens einmal zoffen werden, aber grundsätzlich … freue ich mich immer, dich zu sehen. Und der Gedanke, dass wir im neuen Jahr wieder getrennt sein werden, macht mich etwas traurig.«
Da fiel Jiros Blick zu Boden und er wurde auf einmal ruhiger. »Aber mich macht einiges traurig, wenn ich an die Zukunft denke.«
Alexander, der bis dahin aufmerksam zugehört hatte, musterte Jiros Gesicht. »Zukunft? Machen dich die Prüfungen so fertig?«
»Nein, quatsch«, kicherte Jiro leise auf und sah wieder hoch. Die eisblauen Augen und das onyxfarbene Haar leuchteten im faden Licht der Lichterkette, die über ihnen hing. »Der Gedanke daran, was die Zukunft uns beiden bescheren wird.«
»Willst du nicht mehr in den Norden ziehen?«, fragte der Vampir leise. Jiro konnte nicht ausmachen, ob Alexander die negative Antwort bereits mit Fassung akzeptiert hatte oder ob er einfach hoffte, Jiro würde sich noch umentscheiden.
»Natürlich ziehe ich nach den Prüfungen hierher. Egal, ob mich die Uni annimmt oder nicht. Du und Hiro seid hier, das sind zwei sehr gute Gründe, den Süden zu verlassen«, erklärte Jiro ruhig und trank den dritten Glühwein aus. Ihm wurde etwas schummrig. Und ihm war nach kuscheln. Nach Liebe. Von Alexander. »Ich will bei dir bleiben.«
Blaue Augen sanken zu Boden. »Bist du dir sicher?«
»Ja«, hauchte Jiro und fühlte seine Lippen zittern. »Also mach mir nicht immer Angst, du würdest mit mir Schluss machen, wo wir doch gerade erst zueinander gefunden haben. Ist diese Beziehung wirklich so eine Last für dich?«
»Ich hatte einfach noch nie eine. Und ich habe das Gefühl bisher alles falsch gemacht zu haben, was man falsch machen kann«, brummte der Vampir und trank seinen Glühwein ebenfalls aus. »Und ich kann mit Versagen nicht sehr gut umgehen.«
Das ließ Jiros Augen um das doppelte größer werden. »Du hast doch nicht versagt!«
Alexander lachte bitter auf, während er noch immer den Augenkontakt vermied. »Ach ja? Fühlt sich aber so an.«
Der Mensch gestikulierte wild durch die Luft, während ein paar Tropfen des Glühweins aus der Tasse fielen. »Du hast es geschafft mich vom ersten Moment an zu faszinieren! Und das als Mann – das hat bisher noch niemand geschafft. Ich sehe so gerne in deine Augen, ich höre so gerne deine Stimme, ich weiß gar nicht, was ich dir noch alles sagen muss, damit du verstehst, dass ich glücklich mit dir bin! Auch wenn wir uns streiten – das gehört einfach dazu. Ich zanke mich gerne mit dir. Ich prügle mich auch mal gerne mit dir. Wir können zusammen Drogen nehmen, wir können in einen komischen Club, wir können uns besaufen und von mir aus können wir auch wieder in dieses Restaurant. Dieses Mal benehme ich mich, versprochen!«